Freitag, 17. Januar 2020

Messiah - die neue Netflix-Serie ist ein Spektakel

Was würde passieren, wenn der Sohn Gottes wiederkehrt? Eine intelligente, aber keineswegs originelle Frage, denn über eine Antwort haben Theologen und Philosophen schon früher nachgedacht. Nicht selten fiel die Antwort düster aus: Man würde Jesus festnehmen, natürlich als Terrorist.
 
Genau das geschieht in der zehnteiligen Serie „Messiah“, als ein Wanderprediger in Damaskus auftaucht und danach querbeet durch alle Religionen Anhänger um sich schart. Ist er der Messias oder ein Scharlatan? Auf der Suche nach einer Antwort begibt sich der Mystery-Thriller von Netflix auf eine Gratwanderung, die fast zwangsläufig eine Antwort schuldig bleiben müsste. Aber Netflix kennt keinen Konjunktiv.




Bejubelt und bekämpft: „Messiah“ spaltet

Damaskus: vor den Toren der verwüsteten Stadt stehen die Truppen des IS. In der Millionenstadt herrschen Panik und Chaos, die Stadt droht zu fallen. Aus dem Nichts taucht ein Prediger auf, der den Einwohnern der syrischen Hauptstadt verspricht, dass Gott sie retten wird. Kurz danach beginnt ein schwerer Sandsturm tagelang zu wüten. Der IS gibt sich geschlagen und rückt ab. 
Die jubelnden Massen sind nun fest davon überzeugt, dass die Prophezeiung des Fremden (Mehdi Dehbi) wahrgeworden und er der neue Messias ist. Sie nennen ihn Al-Masih. 2000 Palästinenser folgen ihm ergeben bis zur israelischen Grenze, in Syrien sind sie nichts weiter als Flüchtlinge ohne Zukunft. Al-Masih hat ihnen versprochen, sie ins Heilige Land zu führen. Doch an der mit Drahtverhauen befestigten Grenze beendet die israelische Armee die Reise. Und plötzlich verschwindet Al-Masih. Seine Anhänger lässt er in der Wüste zurück. Sie drohen nun zu verhungern und zu verdursten.

Die vor wenigen Tagen angelaufene Netflix-Serie des australischen Autors und Regisseurs Michael Petroni („Die Bücherdiebin“, 2013) hat innerhalb kurzer Zeit für einen tiefen Riss gesorgt. Bei Rotten Tomatoes reagierten nur 43% aller Kritiker positiv auf die Serie, dagegen fand „Messiah“ bei 89% der Zuschauer großen Zuspruch. Für die Kritiker hat „Messiah“ ein schlechtes Pacing: zu vielen Nebenrollen, zu viele überflüssige, teils klischeehafte Handlungselemente und dramaturgische Volten, die nicht einhalten, was der Plot anfangs zu versprechen scheint. Auch der Wechsel im Regiestuhl habe der Serie geschadet, als James McTeigue („V for Vendetta“) vorübergehend von Kate Woods (u.a. „Agents of S.H.I.E.L.D.“) abgelöst wurde. 
In den Foren fühlen sich dagegen viele Zuschauer angezogen, mal aus spirituellen Gründen, dann auch wegen der spannenden Dramaturgie, andere fanden allein schon den Ansatz des Plots bemerkenswert. Also ein tiefer Graben zwischen den professionellen Filmkritikern und den Intuitionen und Erfahrungen der Zuschauer.

Spannend ist „Messiah“ auf jeden Fall.
Ein Grund ist der religiöse Impact und damit die Vision der Endzeit und der Erlösung, den die Serie transportiert. Während im Judentum der endzeitliche Retter ein von Gott erwählter Mensch ist, der Frieden in die Welt bringt und sie auf ewig verändert, ist in der Johannes-Apokalypse Jesus Christus der Sohn Gottes, der Messias, der nach seiner Wiederkehr ein tausendjähriges Reich begründet, das mit einem finalen Kampf gegen die Mächte des Bösen endet und zum Jüngsten Gericht führt. 
Der Islam erkennt Jesus von Nazareth zwar als Messias an, aber im Koran wird er nicht als Sohn Gottes beschrieben, sondern als Mensch und Prophet, der am Jüngsten Tag als Richter im Kampf gegen die Ungläubigen zurückkehrt und das Böse besiegen wird. Also ein gemeinsamer Mythos, den alle Offenbarungsreligionen in jeweils abgewandelter Form teilen.

Das ändert aber wenig daran, dass es in der muslimischen Gemeinschaft einen Aufschrei gab. Denn im islamischen Kulturraum wird der Name Al-Masih auch verwendet, um mit dem Namen „al-Masih ad-daddschal“
den Anti-Christ zu bezeichnen. Prompt löste diese semantische Überlagerung eine Welle der Empörung aus, ebenso wie die Szenen, die am Tempelberg spielen – für Muslime die drittheiligste Stätte nach Mekka und Medina.

Schwer angeschlagene Figuren in der Sinnkrise

Auch Al-Masih, der sich übrigens selbst nicht Sohn Gottes bezeichnet, wird schnell mit den widersprüchlichen Erwartungen und Hoffnungen der Menschen konfrontiert. Und mit Hass und Ablehnung. Die Serie arbeitet diese Dissonanzen eher konventionell ab, was der Erzählung keineswegs schadet. Fast alle Figuren, die Al-Masih folgen oder sich aus anderen Gründen an seine Fersen heften, haben existentielle Probleme oder befinden sich in schweren Sinnkrisen. Dies ergibt einen vielschichtigen Resonanzboden für die Figur des vermeintlichen Messias – ein bewährtes narratives Konzept.

Da ist Aviram Dahan (Tomer Sisley) als Agent des israelischen Geheimdienstes Schin Bet, ein Agnostiker und ansonsten der Mann fürs Grobe. Er verhört Al-Masih hart am Rande der Folter, nur um von ihm zu erfahren, dass der Fremde ein gut gehütetes Geheimnis Avirams kennt. Woher nur? Aviram löscht die Aufzeichnung des Verhörs, wird suspendiert, heftet sich dennoch an die Fersen des geheimnisvollen Propheten, um ihn zu töten.

Felix Iguero (John Ortiz) ist Pastor in dem verschlafenen texanischen Kaff Dilley. Igueros Gemeinde ist finanziell am Ende, seine Frau Anna beginnt an ihm zu zweifeln, während seine renitente Tochter Rebecca (Stefania LaVie Owen) nur noch weg will aus dem elenden Kaff mitten in der texanischen Wüste. Als ein Tornado in Dilley wütet, taucht aus dem Nichts Al-Masih auf, der Rebecca rettet und Felix den Glauben an Gott zurückgibt. Dilley wird zu einem touristischen Wallfahrtsort und der Pastor wird Al-Masih zusammen mit einer endlosen Autokarawane voller Anhänger nach Washington, D.C., bringen, nur um dort zu erfahren, dass Al-Masih nicht ihm, sondern seiner Tochter eine bedeutende Aufgabe zuteilen will.

Und da ist Jibril Medina (Sayyid El Alami), ein junger Palästinenser, der mit seinem Freund Samir (Fares Landoulsi )
mit Al-Masih folgt und durch die Wüste marschiert. Jibril ist einer der Letzten, die am Grenzzaun ausharren. Auch er wird von Aviram Dahan brutal verhört und anschließend mitten im Nirgendwo aus dem Auto geworfen. Nach seiner Rückkehr ins Camp erlebt er halluzinatorische Träume, in denen Al-Masih auftaucht und ihm eine Pistole in die Hand rückt. Jibril wird der Erste sein, der gewaltfrei einen Fuß auf israelischen Boden setzt. Er wird nicht erschossen. Ein Wunder?

Die eigentliche Hauptrolle in der Netflix-Serie spielt jedoch Michelle Monaghan als CIA-Case Officer Eva Geller. Auch Eva wird von den Machern der Serie als tief gespaltene Person aufgebaut. Sie versucht vergeblich, sich mit dem Samen ihres toten Mannes künstlich befruchten zu lassen. Im Job ist die verschlossene CIA-Spezialistin ein Workaholic und fest von überzeugt, dass Al-Masih eine Gefahr für den Nahen Osten ist. 

Michelle Monaghan, die bereits in „The Path“ als dogmatisches Sektenmitglied überzeugend extremen Fanatismus und innere Verzweiflung perfekt verkörperte, spielt auch in „Messiah“ eine ähnliche Rolle. Konsequent in Schwarz-Weiß-Kategorien denkend, beißt sie sich wie ein Terrier in Al-Masih fest und wischt alternative Erklärungen vom Tisch. Eva versucht hartnäckig ihre Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass der Palästinenser der ferngesteuerte Kopf einer neuen Intifada ist, der die Region ins Chaos stürzen wird. Ihr unerbittlicher Hass wird auch nach einer persönlichen Begegnung mit Al-Masih nicht geringer, er lässt Eva nur tiefer graben, bis sie Al-Masihs Vergangenheit enthüllen kann. Ist Al-Masih möglicherweise nur das Instrument einer globalen Verschwörung, die eine neue Weltordnung zum Ziel hat?


Der neue Prophet – Messias, Mythos oder Scharlatan?

Showrunner Michael Petroni, der auch einige Drehbücher für die Serie geschrieben hat, gelingt es, aus diesen formelhaften Bausteinen eine spannende und weitgehend kohärente Erzählung zu machen. Das liegt auch daran, dass im Writer’s Room entscheidende Fehler vermieden wurden. Die Figur des Al-Masih wird daher in ein mysteriöses Dunkel gehüllt, das bis zur 8. Episode nicht verrät, welche Agenda dieser Mann eigentlich hat. Kein Wunder: Al-Masih spricht überwiegend in Rätseln. Aber das hat der biblische Jesus mit seinen Gleichnissen, Allegorien und bildhaften Erzählungen schließlich auch getan.

Auf jeden Fall lässt ihn die Netflix-Serie auch sehr häufig schweigen, was der deutsche Philosoph und Schriftsteller Elias Canetti (1905-1994) bereits in „Masse und Macht“ als clevere Überwältigungsstrategie bezeichnet hatte: der Antwortende unterwirft sich um so mehr, je häufiger er den Fragen nachgibt. Dagegen erzeugt Schweigen eine Aura des Geheimnisvollen, dass den Schweigenden zu einer Projektionsfläche unterschiedlicher Erwartungen und Deutungen macht. 

Al-Masih scheint Canetti gelesen zu haben, denn auch er entwickelt nicht nur in den Verhören eine clevere Gegenstrategie: er antwortet immer mit Gegenfragen. Ein rhetorischer Trick, der einen Rollentausch herstellen will. Denn wer fragt, so Canetti, hat Macht über den Befragten. Und wer schweigt, hütet ein Geheimnis, „denn das Schweigen setzt eine genaue Kenntnis dessen voraus, was man verschweigt.“ Das Schweigen und das Geheimnis gehören laut Canetti daher auch zu den erfolgreichsten Werkzeugen von Diktatoren, autoritären Persönlichkeiten – und Paranoikern.

Damit umschifft die Serie auch spannungsdramaturgisch geschickt einige Probleme. Sie setzt die Figur des Messias keineswegs einer auktorialen Erzählperspektive aus, die die Echtheit Al-Masihs als Messias als Faktum behaupten würde. Dies würde nur als Komödie funktionieren wie in „Bruce Almighty“ (2003), wo Jim Carrey eine Zeitlang Gott sein darf.

Umschifft wird zunächst auch das neu belebte Genre des christlichen Erbauungskinos, das zuletzt mit „Breakthrough“ von Roxann Dawson gleichzeitig religiös und naturalistisch die Realität göttlicher Wunder dem staunenden Zuschauer als Faktum offenbarte. Ähnliches war zuletzt häufig zu sehen, etwa in „Heaven is for Real“ (Randall Wallace, 2014, dts. „Den Himmel gibt’s echt“) oder „Miracles from Heaven“ (Patricia Riggen, 2016, dts.
Himmelskind“). Filme, die im evangelikalen Mittelwesten der USA kaum überraschend großen Zuspruch fanden.

Auch sonst beherrscht „Messiah“ alle Kniffe des Erzählhandwerks, um die Antwort auf die Frage „Ist er’s oder ist er’s nicht“ hinauszuzögern. Wann immer die Story den Zuschauer glauben lässt, dass Al-Masih fähig ist, Wunder zu vollbringen, wird dies geschickt gekontert. Die Wiederbelebung eines von den Israelis erschossenen palästinensischen Jungen – ein geplanter Fake. Und wenn Al-Masih dann vor der versammelten Weltpresse wie einst Jesus über das Wasser schreitet, findet Eva Geller heraus, dass der Wunderbringer in seiner Kindheit von einem trickreichen Zauberkünstler in die Kunst der Illusionen eingeführt wurde. Messias oder Scharlatan? Angeboten werden dem Zuschauer immer beide Optionen.

Eine clevere narrative Dialektik, mit der die Serie immer wieder Thesen mit Anti-Thesen untergräbt und damit auch den bekannten Genremustern des Psychothrillers folgt. Das Mystische, dass die Figur des Al-Masih umgibt, folgt dabei einem klugen Schachzug: nämlich wie in einer Fabel gleichnishaft alle Zeitgeistthemen auf diese Figur zu projizieren - das Nah-Ost-Problem und die Rolle Israels, den Krieg gegen den IS und die militärische Rolle der USA in der Weltpolitik. Aber auch existentielle Krisen und ihr Gegenteil: die unbedingte Hingabe an einer Idee. Mal allegorisch, dann symbolisch und gelegentlich auch analytisch. 
Und natürlich gehört dazu, dass die Aura des Geheimnisvollen, die den charismatischen Sendboten Gottes umgibt, trotz aller scheinbar hieb- und stichfesten Gegenbeweise, die Eva Geller akribisch sammelt, einfach nicht weichen will.

Zu dieser Erzählung gehören auch die Widersprüchlichkeit und Unschärfe, mit der Michael Petroni und sein Autorenteam ihre Figur verrätseln. Mal scheint Al-Masih die calvinistische Prädestinationslehre zu vertreten, nach der das Schicksal der Menschen durch den göttlichen Willen vorbestimmt und unabänderlich ist, dann appelliert er an seine Jünger, dass sie die Freiheit der Wahl besitzen. Aber diese Dialektik endet nicht etwa wie Hegel in einer neuen Erkenntnis, der Synthese, sondern natürlich erneut in einem Rätsel. Frage versus Gegenfrage, Fakten versus Allegorien.
„Ich blicke auf euch. Ihr blickt auf mich“, erklärt Al-Masih seinen Anhängern und der Presse in Washington, D.C. „Aber ich spiegele nur wider, was ich sehe. Seid ihr gekommen um zu empfangen, so werdet ihr ärmer wieder gehen. Seid ihr gekommen zu verstehen, so werdet ihr ratlos wieder gehen. Für die, die empfangen haben und für die, die verstanden haben, ist die Zeit jetzt gekommen. Was ihr seht, wird eure Wahl sein.“ 

Dann rockt er die Nation und geht über das Wasser des Pools vor der National Mall, unfern des Amtssitzes des US-Präsidenten. Natürlich live im TV.


Metamorphose des Genres: Resurrection

„Messiah“ durchläuft zehn Episoden lang verschiedene Genres: vom religiösen Mystery-Drama über den Psychothriller hin zum Diskursfilm, der die Zuschauer über Metaphysisches nachdenken lässt. Und am Ende wird alles mit einem Schuss Deep State und Verschwörungstheorie abgeschmeckt. 
Vielleicht ist dabei das Konventionelle und Formelhafte einiger Figuren auch das richtige Rezept, um Zuschauer, die nicht gleich auf die Palme gehen, über die Möglichkeit einer spirituellen Erfahrung nachdenken zu lassen. Auf jeden Fall wirft die Serie alle Fragen, die unbeantwortet bleiben, den Zuschauern wieder vor die Füße. Die werden, ob sie wollen oder nicht, zu einer eigenen Deutung gezwungen. Ziemlich tricky. Sich seine subjektive Perspektive klarmachen zu müssen, gehört ganz sicher zu den Pluspunkten der Serie. Wie in der Spiegel-Analogie Al-Masihs spiegelt der Zuschauer dabei aber nur wider, was er sieht – oder zu sehen glaubt.

Ein verführerisches Rätselspiel. „Was ist, wenn er echt ist?“, fragt ein Mann während eines Straßeninterviews, das ein TV-Team führt. „Dann hätte ich Angst.“ Gute Frage, gute Antwort.
Solange das Geheimnis Al-Masihs aber ungeklärt bleibt, bleibt „Messiah“ ein intelligentes Gedankenexperiment. Allerdings lichtet sich der Nebel dann doch, als der auch medial dauerpräsente Prophet in der achten Episode dem tiefgläubigen US-Präsidenten Young (Dermit Mulroney) begegnet. Zuvor hatte die US-Administration alles getan, um Al-Masih zu diskreditieren. Vergeblich. Nun sitzen sich die beiden Männer gegenüber und Al-Masih legt die Karten auf den Tisch: „Ich bin hier, um die kommende Welt herbeizuführen.“ Und dazu gehöre nun mal der weltweite Abzug aller amerikanischen Truppen aus anderen Ländern. „Wie weit würden sie gehen, um den 1000-jährigen Frieden zu ermöglichen?“

Damit legt die Serie die Latte recht hoch auf. Nicht länger geht es um die Frage, ob er’s nun ist oder nicht, sondern darum, die erste Staffel nach dieser Zuspitzung auf den Punkt zu bringen. Leider kommt „Messiah“ dabei kräftig ins Straucheln. Das Tempo der letzten drei Episoden nimmt dramatisch zu, die Ereignisse überschlagen sich. Sowjetische Truppen stehen an der Grenze zu Lettland und Litauen, tote Fische werden in Florida an Land gespült, schließlich überrollt eine Springflut den Bundesstaat und Al-Masih murmelt düster: „Gott will die Flut.“ Jibril wird für palästinensische Propaganda instrumentalisiert, während sein Freund Samir von finsteren Islamisten zum Sprengstoffattentäter umgeschult wird. Und last but not least schießen die Amerikaner mit einer Drohne ein Diplomaten-Flugzeug ab, während die Welt am Rande des Dritten Weltkriegs steht.
Die Metamorphose der Serie ist also nicht zu Ende. Atemlos geht es weiter und in jedem Moment erwartet man, dass Jack Ryan auftaucht, um Licht ins Dunkel zu bringen. Was als Mystery-Drama begann, wird zum Actionthriller. Das wirkt nicht nur hektisch, sondern ist es auch.
Und schließlich muss ja auch die ganz große Frage beantwortet werden. Nicht die krimitypische Whodunit-, sondern die Who-is-he-Frage. Dass man die besser nicht beantworten sollte und wie man es geschickter anstellen kann, zeigte vor einem Jahr die bemerkenswerte italienische Serie „Il miracolo“ von Niccolò Ammaniti, die intelligent (und witzig) genug war, alles offen zu lassen.
 Ohne zu viel zu verraten: „Messiah“ tut dies nicht.

Showrunner Michael Petroni greift dabei zu einem konventionellen und bekannten Genretopos: dem dekonstruierten Helden nebst finaler Wendung um 180 Grad. 
Eva Geller findet nämlich heraus, dass Al-Masih eigentlich Payam Golshiri heißt und bis 2006 am amerikanischen Williams College studiert hat. Dabei stößt sie auf eine Krankenakte, die belegt, dass Golshiri fast zwei Jahre lang in der Psychiatrie behandelt wurde. Diagnose: Messias-Komplex und Wahnvorstellungen. Golshiri hielt sich für den Sendboten Gottes und den Erlöser der Welt. Geller stellt sogar Verbindungen zu dem aus den USA nach Russland geflüchteten Dissidenten und Hacker Oskar Wallace her, der seine Finger im Börsencrash 2009 hatte. Geller lehrte zuvor am Williams College, an dem Payam Golshiri die Arbeit „Transformationspolitik – eine neue Ära“ verfasste. Nach seiner Flucht schrieb Wallace ein Buch über die Zerstörung des globalen Kapitalismus. Offenbar hatten sich beide viel zu sagen.
Als Geller die Handynummer von Wallace entdeckt, entpuppt sich dieser aber nicht als der lange vermutete Drahtzieher, sondern als Eleve: „Wenn Sie ihn betrachten und mich, dann bin nicht ich der Gefährliche. Es hat mich glücklich gemacht, seiner Sache zu dienen!“

Als diese Fakten geleakt werden, dauert es nicht lange und Al-Masih wird von den Medien öffentlich hingerichtet.

Es ist aber wie Sergio Corbuccis „Django“: dem Helden werden die Hände verstümmelt, trotzdem schießt er im Showdown besser als zuvor. Wenn in den letzten beiden Episoden immer hektischer zwischen immer kürzer werdenden Szenen hin- und hergeschnitten wird, um die einzelnen Erzählfäden einigermaßen zusammenzufügen, erkennt man leider, dass die Netflix-Serie sich aus einem bekannten Dilemma nicht herauswinden konnte. Schreibt man ein vernünftiges Ende oder unterwirft man sich dem Zwang zum Cliffhanger? 

Ob es eine zweite Staffel geben wird, steht in den Sternen. Der Cliffhanger gewann trotzdem. Michael Petroni lässt sich auf den Django-Trick ein und präsentiert damit ein offenes Ende, das man nur noch als Erlösungskitsch bezeichnen kann.

 

Nur ein Taschenspielertrick?

Unterm Strich kann „Messiah“ über weite Strecken als provozierendes Gedankenexperiment punkten. Mehdi Dehbi spielt seine Messias-Rolle unglaublich charismatisch, was auch für die meisten Figuren des gut zusammengestellten Casts gilt. Die Serie wurde zudem clever geschrieben, sie evoziert Neugier und Spannung. Und sie stellt geschickt religiöse und metaphysische Fragen. Auch die unterschiedlichen Nebenfiguren und -geschichten werden bis zur achten Episode gut in die Geschichte eingebettet. Überhaupt ist die Story gut nachvollziehbar, auch beim hektischen Schlussspurt.
Witzig sind auch die Easter Eggs. Meist sind es Bücher, die beiläufig auftauchen. Etwa Samuel Huntingtons „The Clash of Civilizations“, in dem Huntington die Konfrontation beschreibt, die im 21. Jahrhundert zwischen unterschiedlichen Kulturen stattfinden wird: nichtwestliche Kulturen
werden die Macht übernehmen, weil der Westen seine Macht nicht seinen Werten verdankt, sondern vielmehr organisierter Gewalt. 

Auch Antoine de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“ taucht in „Messiah“ als Stellvertreter einer skeptischen Kritik am Werteverlust der westlichen Gesellschaft auf, die sich von zwischenmenschlichen Werten abgewendet hat und nun kraftvolle Symbole benötigt, um wieder die wahren Bedeutungen zu erkennen. Es ist Samir, der seinem Freund Jibril immer wieder daraus vorliest, ehe es ihm ein Dschihadist wegnimmt: „Es gibt nur ein Buch!“

Dass „Messiah“ hat sich also viel vorgenommen. Ganz den Gesetzen des modernen Storytellings kann die Serie aber nicht entkommen.Vermutlich war
Michael Petroni überzeugt davon, dass gerade diese Serie nicht weitererzählt werden kann, wenn sie am Ende keinen Cliffhanger präsentiert. Dass die Serie dabei dann doch eine auktoriale Erzählperspektive einnimmt, ist jedoch fatal.

Warum? Ganz einfach:  Fiktionen können nicht ohne Weiteres Wahrheitsaussagen machen, dafür aber plausible Deutungsangebote. Man kann zwar eine Geschichte über den „Mann im Mond“ erzählen, wenn dann aus dem spielerischen „als ob“ ein „es ist so“ wird, dann kollabiert das künstliche Gebilde. 
In der Literatur- und Medientheorie spricht man daher von Interferenz, also einem Überlagerungszustand, und meint damit, dass fiktionale Erzählungen sich nicht von den gesellschaftlichen Diskursen und dem empirischen Wissen der Rezipienten vollständig lösen können. Imagination und Weltwissen treffen aufeinander. 
Erzähler und Leser/Zuschauer gehen dabei unwillkürlich eine Vereinbarung ein: beide wissen, dass es den „Mann im Mond“ nicht gibt, man kann aber so tun, als ob es möglich wäre, wenn es die Imagination und die Urteilskraft des Rezipienten beflügelt.
Ganz ohne Ironie gelingt dieser Spagat meistens nicht. Wer diesen Schritt nicht machen kann, landet unweigerlich im Eskapismus. 
Wenn „Messiah“ am Ende also das spekulative „als ob“ aufgibt, dann hat man daher das Gefühl, Zeuge eines Taschenspielertricks zu sein. Ob das gutgeht? Vielleicht werden wir es sehen, vielleicht auch nicht. Sehenswert ist die Serie auf jeden Fall.

Note: BigDoc = 2,5


Messiah – Netflix 2020 – 10 Episoden – Showrunner: Michael Petroni – Regie: James McTeigue, Kate Woods – D.: Mehdi Dehbi, Tomer Sisley, Michelle Monaghan, John Ortiz, Melinda Page Hamilton, Stefania LaVie Owen, Jane Adams, Sayyid El Alami, Fares Landoulsi, Wil Traval, Dermit Mulroney, Beau Bridges.