Samstag, 24. April 2021

#allesdichtmachen - Professor Dr. Dr. Boerne und die Querdenker

„Professor Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne“ ist ein hochintelligenter, aber schwer narzisstischer Gerichtsmediziner. Eingenordet wird diese fiktive Figur im Münsteraner „Tatort“ von seinem Buddy, dem bodenständigen Kriminalhauptkommissar Frank Thiel. Aber als Team lösen beide die kniffligsten Kriminalfälle. Nicht zuletzt auch, weil der arrogante Boerne eben auch ein extrem kompetenter Mediziner ist. Jan Josef Liefers und Axel Prahl schauspielern dieses Erfolgsgespann seit 2002 und werden für ihre scharfzüngigen Duelle von Millionen Fans geliebt.
Krimi, Slapstick oder Klamauk? Egal. Im wahren Leben hätte Jan Josef Liefers aber einen guten Freund wie Frank Thiel dringend benötigt. Der hätte ihm – womöglich sehr ruppig – erklärt, dass man besser die Finger von einer Aktion wie #allesdichtmachen lässt. Zu windig, zu wenig durchdacht, zu nah dran an der „Querdenker“-Szene. Doch Thiel war nicht da, als Liefers allen Ernstes vor der Kamera das Standard-Narrativ der Querdenker herunterbetete. Nämlich, dass alle Medien in Corona-Zeiten gleichgeschaltet sind. In Gottes Namen, von wem eigentlich?

„Unterstützen Sie die Maßnahmen der Regierung!“

Am 23. April platzte die Blase, in der sich 50 Schauspieler und Schauspielerinnen befanden. Jan Josef Liefers, Ulrich Tukur, Ulrike Folkerts, Heike Makatsch, Wotan Wilke Möhring, Ken Duken, Volker Bruch, Meret Becker, Hanns Zischler und viele andere hatten sich vor die Kamera begeben, um in der konzertierten Aktion #allesdichtmachen gegen die Corona-Maßnahmen des Bundes und der Länder zu protestieren. Nicht argumentativ, nicht evidenz-basiert, sondern satirisch und vermeintlich mit künstlerischen Mitteln. Ich heiße soundso und bin Schauspieler, verlautbarten sie im ersten Satz. Um am Ende hieß es: „Unterstützen Sie die Maßnahmen der Regierung.“

Natürlich war das Gegenteil gemeint. In kurzen Clips, die zwischen redundanten Sprachspielereien und krankhaften Sado-Fantasien oszillierten, wurde auf Twitter und YouTube deutlich gemacht, dass wir alle in einer Corona-Diktatur leben, die mit Kontaktsperren systematisch die Beziehungen der Menschen zerrüttet, sie wegsperrt und dabei berufliche Existenzen vernichtet. Besonders jene der Schauspieler und anderer Akteure des Kulturbetriebs. 


Da gibt es für Ulrich Tukur nur eins: Wir müssen alles, wirklich alles dichtmachen. "Sind wir nicht nur am Leibe und nicht nur an der Seele verhungert und allesamt mausetot, entziehen wir dem Virus samt seiner hinterhältigen Mutantenbagage die Lebensgrundlage."
Ironie als Stilmittel. Entschlüsselt man diese Rhetorik, dann kommt nur noch die Forderung nach der bedingungslosen Öffnung aller Lebensbereiche in Frage. Mit wäre es lieber gewesen, wenn Tukur die auf der Website des mutmaßlichen Initiators Bernd K. Kummer (s.a. Nachtrag) erwähnte "Schere zwischen Arm und Reich" unter die Lupe genommen hätte. Etwa, dass Amazon die Ruhepausen beim Tragen von FFP2-Masken vom Lohn der Mitarbeiter abzieht oder ALDI deren Gebrauch gleich vollständig verboten hat.

Das geringste Übel dieser Aktion war die egozentrische Selbstbespiegelung einer Gruppe, deren prominentesten Köpfe während der Corona-Pandemie nicht weniger beschäftigt waren als in den Jahren vor der Seuche. Gut, das gilt nicht für alle, aber ein Geschmäckle hatte es dennoch. Aber das weitaus größere Übel war, dass populäre und als intelligent eingeschätzte Künstler für eine massenwirksame Propaganda-Aktion vor die Kamera traten, die den Querdenkern zum wohl größten Agitprop-Erfolg der letzten Monate verhalf.
Aber am übelsten war die Tatsache, dass niemand aus der illustren 50ziger-Gruppe sich mit SARS-CoV-2 beschäftigen wollte. Auch nicht mit den Toten und Langzeitgeschädigten und auch nicht damit, dass zunächst einmal das Virus verantwortlich ist für die missliche Lage, in der wir uns befinden, und nicht etwa die keineswegs kohärente Politik der Verantwortlichen, die über Wochen und Monate zwischen Daseinsfürsorge und Erhalt der Wirtschaft irrlichterten, ohne zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu tun. Sondern immer etwas zu spät. Stattdessen wurde pauschal auf die „Regierung“ eingedroschen, so als hätte es den monatelange Disput zwischen der Bundesregierung und Ministerpräsidentenkonferenz nie gegeben.

„Deshalb appelliere ich an unsere Regierung: Macht uns mehr Angst“

Stoff für intelligente Satire hätte dies ausreichend geboten. Stattdessen atmete Richy Müller Luft aus einem Plastiksack und bließ sie danach in einen anderen Sack: "Auf diese Weise komme ich nicht mit der Raumluft in Kontakt und atme auch nicht in die Raumluft aus. Wenn jeder die Zwei-Tüten-Atmung benutzen würde, hätten wir schon längst keinen Lockdown mehr." 
Wollte „Tatort“-Kommissar Müller damit die angeblich fehlende Sinnhaftigkeit des Maskentragens aufs Korn nehmen? So, wie es die meisten Querdenker tun, wenn sie maskenfrei und kontaktnah durch die Straßen marschieren und by the way von einer rechtspopulistischen Partei eingesammelt werden?

Dagegen bedankte sich Jan Josef Liefers scheinheilig bei allen Medien im Lande für ihre klare Haltung und meinte stattdessen den von oben verordneten Alarmismus, den alle Medien willfährig vollziehen. 
Liest der Mann keine Zeitung? Hat er nicht mitbekommen, dass wohl in keinem anderen Land in den Medien ein so tiefer Riss im Meinungsbildungsprozess abgebildet wird wie hierzulande. Etwa wenn der Chefredakteur der WELT, Ulf Poschardt, über das neue Infektionsschutzgesetz lästert, das den freien Menschen zum Feindbild erklärt, einem Menschen, dem nun eine Welle von Denunziationen bevorsteht: „Der Abscheu vieler im Lande gegen die Freiheit macht ratlos.“ 

Im gleichen Blatt ist übrigens auch der Redakteur Olaf Gersemann unterwegs, der mit nüchternen Zahlen tagtäglich versucht, ein empirisch genaues Bild des Infektionsgeschehens abzuliefern. 

Ist das wirklich eine gleichgeschaltete Presse? Sieht Liefers nicht Fernsehen und all die Talkshows, in denen auch Corona-Maßnahmen-Kritiker wie Jonas Schmidt-Chanasit zu Worte kamen? Nein, Liefers stellte sich mit seinem Videoclip auf die Seite der Querdenker und Verschwörungstheoretiker mitsamt ihrer paranoiden Vorstellung einer von oben gesteuerten Corona-Diktatur, die andere Meinungen unterdrückt und alles gleichschaltet. Komisch nur, dass Jan Josef Liefers die Gelegenheit nutzen konnte, diesen Missstand anzuprangern. Dass sich Liefers schnell von Corona-Leugnern und Querdenkern distanzierte, als der Shitstorm über die Akteure von #allesdichtmachen hereinbrach, kam dann wohl zu spät.

Volker Bruch beklagte sich dagegen, dass er ein Jahr Angst hatte, nun aber die Angst nachlässt und er sich nun Sorgen mache: „Ich will wieder mehr Angst haben. Denn ohne Angst habe ich Angst.“ 

Hatte Bruch jenes Strategiepapier der Bundesregierung im Sinn („Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“), das im April 2020 nur für den internen Dienstgebrauch verbreitet wurde und in dem durchaus offen darüber nachgedacht wurde, bei den Bürgern für eine „gewünschte Schockwirkung“ zu sorgen? Das sollte aber nicht durch Horror und apokalyptische Visionen geschehen, sondern durch die Präsentation unterschiedlicher Worst-Case-Szenarien, die allein schon deshalb geeignet waren, weil einige sich im Nachgang auch tatsächlich einstellten. 

„Deshalb appelliere ich an unsere Regierung: Macht uns mehr Angst“, insinuiert Bruch. Das ist vage, platt und sogar infam. Dabei wäre doch eine satirische Auseinandersetzung mit dem VS-Paper ein gefundenes Fressen gewesen.

Noch übler ist Peri Baumeisters zynisches Dankeschön für all das, was sie die Pandemie gelehrt habe: „Die Pandemie hat mir gezeigt, dass Distanz auch Nähe sein kann. Die Pandemie hat mir gezeigt, dass Einsamkeit auch Geselligkeit sein kann. (…) Bleiben Sie gesund und vertrauen Sie den Corona-Maßnahmen.“ 
Wer in der Schule aufgepasst hat, dürfte unschwer die Anspielung auf George Orwells Neusprech verstanden haben. Und schon wieder schwebt das Gespenst der Corona-Diktatur über Frau Baumeister und der im Hintergrund dudelnden Wellness-Musik. Liebe Peri, kannst Du uns erklären, wo und wann denn Neusprech bei jenen zu hören ist, die uns alle unter ein semantisches Joch spannen wollen?

Am übelsten und wohl auch mit dem Maximum an denkbarem Zynismus stellte dagegen Kathrin Osterrode ihre Version der Unterjochung vor. Sie schwadroniert als „Mutter“ davon, wie sie zuhause für ihre Kinder die Inzidenzregelung eingeführt hat, um aus abstrakten Zahlen etwas Erlebbares zu machen. Das bleibt nicht ohne Folgen: ab einer Inzidenz von 100 gibt es Fernsehverbot für die Kinder. Ab 30, das sei fest versprochen, gibt es eine Fahrradtour. Doch was passiert, wenn es schlimmer wird? Ab 150: Abendessen gestrichen. Aber 200: Isolation im eigenen Zimmer. Danach werden die Kinder freigegeben, entsorgt oder was auch immer. „Bitte helfen Sie mir, dass ich meine Kinder behalten kann und unterstützen Sie die Maßnahmen der Bundesregierung!“

Wer es gut mit Frau Osterrode meint, sieht in dem Clip eine Allegorie, die das Ausmaß der Gängelung durch die Regierung sinnbildlich im Kleinen darstellen möchte, der Familie. Wer nach diesem Clip mit dem Kopf schüttelt, hat gerade eine zynische Sado-Fantasie erleben müssen, in der Unschuldige für etwas gequält werden, für das sie garantiert nicht verantwortlich sind. 

Statt auf den Zug der Inzidenz-Kritiker aufzuspringen, hätte sich Kathrin Osterrode besser über den diffizilen Zusammenhang von 7-Tage-Inzidenz und Positivrate informieren können. Die sinkt bei gleichbleibender Anzahl an Testungen nämlich laut einiger Quellen, während andere wiederum von einem Anstieg berichten. Zu kompliziert für eine satirische Reaktion auf eine umstrittene Strategie? Ich fürchte, dass es wohl so ist.

In schlechter Gesellschaft

Überhaupt stellte sich die Frage, wer hinter der Aktion steckt. Genannt wurden der Münchener Filmemacher Bernd K. Wunder, der sich sogleich von Querdenkern, Verschwörungstheoretikern und der AfD distanzierte, obwohl er sich in der Vergangenheit auf seinem Instagram-Account durch launige Witze über Maskenträger und Panik-Macher echauffierte, die von ihm als „Coronazis“ bezeichnet wurden.

Die fünfzig Clips zeichneten auf jeden Fall ein erschreckend einfältiges Bild von der aktuellen Situation, in der wir uns befinden. Und das in einer Zeit, in der Satireshows wie „Die Anstalt“ online umfangreiche Faktenchecks präsentieren, um zu beweisen, dass sie in der Sendung keinen Bullshit verzapft haben. 

Eine derartige Rosskur hätte auch den Initiatoren und Mitläufern von #allesdichtmachen gutgetan. Der Schreck über die öffentlichen Reaktionen muss ihnen wohl gehörig in die Glieder gefahren sein. Ulrike Folkerts und Heike Makatsch und einige andere entschuldigten sich und gingen auf Distanz oder ließen ihre Videos auf der mittlerweile mausetoten Website löschen. Auf YouTube sind sie noch immer zu sehen – übrigens im Forum überwiegend als „Helden“ und „Leuchttürme“ dafür gefeiert, dass endlich mal die Wahrheit verbreitet wurde. Auch dies gehört zu #allesdichtmachen. 

Nachtrag:

Die Website von Bernd K. Kummer ist seit einigen Stunden wieder online: https://allesdichtmachen.de. Die im Impressum genannte Adresse ist dagegen teilverlinkt und führt zu Kummers Firma wunderamwerk.com.

Auf der Website hat ein ungenannter Verfasser ein Statement veröffentlicht. Zudem können alle Videos der Aktionsteilnehmer, die sich nicht zurückgezogen haben, einzeln abgerufen werden. Unter den Videos befindet sich der Hashtag "Übrigens: #FCKNZS." Dies ist die Abkürzung für „F*ck Nazis“.

Der unbekannte Verfasser betont die Meinungsdiversität innerhalb der Gruppe und distanziert sich von Rechten, Verschwörungstheoretikern und Reichsbürger, ebenso von der AfD:

"Vielmehr geht es uns um die Corona-Politik, ihre Kommunikation und den öffentlichen Diskurs, der gerade geführt wird. Wir üben Kritik mit den Mitteln von Satire und Ironie. Wenn man uns dafür auf massivste Art und Weise beschimpft und bedroht, ist das ein Zeichen, dass hier etwas ins Ungleichgewicht geraten ist. (…) Wenn man sich nicht traut, Selbstverständlichkeiten anzumahnen, weil man Applaus von der falschen Seite fürchtet, dann zeigt das allenfalls, daß der Diskurs in eine Schieflage geraten ist. (…) Uns geht es darum, endlich offen, respektvoll und auf Augenhöhe miteinander zu reden."

Prominent gepostet wird Hanss Zischlers Video, dessen Pointe es sein soll, die Abstandsregel ad absurdum zu führen. Zischler distanziert sich deshalb einleitend von seinen nachfolgenden Äußerungen. Dann distanziert er sich von allem und jedem: vom RKI, das arithmetisch Zahlen absolut setzt, von sich selbst, von Coronaleugnern. Damit hält er Abstand, ist Zischlers Conclusio.
Auf den ersten Blick mag das witzig sein, der zweite Blick enthüllt mehr konzeptionelle Ratlosigkeit, als es dem Schauspieler lieb sein kann. Die Folgen hat schon der alte Goethe treffend beschrieben: Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.