Montag, 10. Mai 2021

Der Fall Richard Jewell

Clint Eastwoods bislang letzter Film kam bereits Ende 2019 in die amerikanischen Kinos. Dann kam Corona und es dauerte über ein Jahr, bis der „Der Fall Richard Jewell“ die deutschen Streamingportale erreichte und nun auch auf Bluray und DVD erhältlich ist. In wenigen Tagen wird der widerspenstige Moralist Clint Eastwood 91 Jahre alt und er will offenbar nicht aufhören.
„Der Fall Richard Jewell“ basiert auf wahren Begebenheiten. 1996 wurde der Security-Mitarbeiter Richard Jewell drei Tage lang zum nationalen Helden, nachdem er während der Olympischen Spiele in Atlanta in einem Park einen verdächtigen Rucksack entdeckte, in dem eine Bombe tickte. Durch sein entschlossenes Handeln rettete Jewell vielen Menschen das Leben. Dann begannen die Medien und das FBI mit einer Treibjagd. Aus dem Helden wurde ein Täter.

Unangenehme Helden

Mit Eastwoods Helden bekommt man oft genug Probleme. Häufig sind es egozentrische Außenseiter, die anecken, weil sie keine Kompromisse machen. Wenig sympathisch ist zum Beispiel der rassistische Kriegsveteran Walt Kowalski (Eastwood), der in „Gran Torino“ (2008) sein menschenfeindliches Weltbild ad acta legen muss. Kowalski ist eine fiktive Figur.
Leonardo DiCaprio als langjähriger FBI-Direktor J. Edgar Hoover ist in „J. Edgar“ (2011) dagegen eine Blaupause für jene schwierigen Figuren der Zeitgeschichte, über die Clint Eastwood nüchterne Filme macht, deren Vorurteilsfreiheit nicht jedem passt. Das galt erst recht für den mehr als umstrittenen „American Sniper“ (2014). Eastwoods Film über Chris Kyle (Bradley Cooper), ein von den Erzkonservativen als Held gefeierter Scharfschütze der US-Marines, wurde in Teilen der liberalen Öffentlichkeit als Provokation wahrgenommen und rückte Eastwood in die Nähe ultrarechter Kriegshetzer.
Eastwood filmt sich quer durch die amerikanische Geschichte. Mal jubeln die Liberalen, mal die Konservativen. Es gibt aber auch Figuren in Eastwoods Filmen, die unschuldig ins Räderwerk der Medien und der öffentlichen Meinung geraten. Etwa der von Tom Hanks gespielte Pilot Chesley Sullenberger, dem 2009 mit seiner Maschine eine riskante Notlandung auf dem Hudson River gelang. In „Sully“ zeigte Eastwood, wie binnen kurzer Zeit aus dem Helden ein Totalversager wurde.
 Der echte Sullenberger wurde nach seiner Rehabilitierung mit Ehrungen überhäuft und schrieb ein Buch mit dem Titel
Man muss kein Held sein. Auf welche Werte es im Leben ankommt. Mit dem zweiten Satz könnte man auch Eastwoods Filme beschreiben. Helden zeigt er allerdings gerne. In „15:17 to Paris“ (2018) ließ er die drei Amerikaner, die 2015 einen Terroranschlag verhinderten, sich selbst spielen. Das klappte sogar.

In „Der Fall Richard Jewell“ geht es wieder einmal um unschuldig Verfolgte. Das Thema kennt man aus zahlreichen Filmen von Alfred Hitchcock, aber Eastwood ist weniger an Suspense interessiert, als vielmehr an authentisch rekonstruierten Geschichten aus der realen Geschichte, so als wolle der Regisseur einfach nur dafür sorgen, dass die realen Figuren nicht dem Vergessenwerden anheimfallen.
Der von Paul Walter Hauser gespielte Richard Jewell gehört in beide Lager: er ist real und er wurde Ende der 1990er-Jahre erst verdächtigt, dann rehabilitiert – und anders als Tom Hanks ist er zunächst kein tragischer Held, eher eine Spottfigur. Wegen seiner Fettleibigkeit ist Jewell die Zielscheibe für hässliche Witze, keineswegs ein eloquenter, sondern ein geschwätziger Mann, der aber mit ungeheurer Naivität daran glaubt, als Ordnungshüter einen Platz in der Gesellschaft einnehmen zu müssen.
Als gescheiterter Hilfssheriff landet Jewell als Laufbursche in einer Anwaltskanzlei und gerät dort mit dem Anwalt Watson Bryant (Sam Rockwell) aneinander, der mit der unterwürfigen Freundlichkeit Jewells nichts anfangen kann und den dicken Mann ziemlich arrogant zusammenfaltet. Ein Schlüsselerlebnis, das Jewell im Nachgang völlig anders deutet: der Anwalt habe ihn wie einen normalen Menschen behandelt, erklärt er später, als ihn Bryant fragt, warum er ausgerechnet ihn als Anwalt ausgesucht habe, als das FBI mit den Ermittlungen begann.
Als Jewell ein Job als Security-Mitarbeiter an einem College erhält, schließt Bryant mit ihm einen Ehrenvertrag ab: er gibt Jewell symbolisch einen Geldschein, dafür müsse dieser aber darauf achten, seine Macht nicht zu missbrauchen. Aber eben dies geschieht. In seinem neuen Job überschreitet Jewell Grenzen, attackiert Studenten auf dem Campus und outet sich als unangenehmer und autoritärer Besserwisser. Er wird gefeuert und es wird der Dekan der Universität sein, der nach dem Bombenanschlag in Atlanta seinen ehemaligen Mitarbeiter beim FBI denunziert.

Nein, wirklich sympathisch ist dieser Richard Jewell nicht. Wäre er nicht so tolpatschig und naiv, könnte man in ihm durchaus einen Widergänger von Heinrich Manns "Untertan" erkennen. Clint Eastwood erzählt vielleicht auch deshalb seine Geschichte sehr nüchtern und distanziert und anders als in „Sully“ verweigert er den Zuschauer damit die Möglichkeit, sich mit der Hauptfigur zu identifizieren. Paul Walter Hauser spielt diese ambivalente Figur hingebungsvoll gut und macht auf diese Weise unmissverständlich klar, dass er ein Gegenentwurf zu Tom Hanks ist. Ein darstellerischer Kraftakt.

Unschuldig im Räderwerk

Das Drama beginnt, als Richard Jewell während eines Open-Air-Konzerts im Centennial Olympic Park, einem Veranstaltungsort der Olympischen Spiele, einen verdächtigen Rucksack entdeckt. Er informiert die Cops und als ein sprengstofferfahrener Beamter in dem Rucksack eine Bombe entdeckt, gehört Jewell zu den Ordnungshütern, die verzweifelt versuchen, die Menschenmenge abzudrängen. Als die Bombe hochgeht, sterben trotzdem zwei Menschen und hunderte werden verletzt.

Jewell wird von Medien gefeiert, er tritt in Talkshows auf. Sogar ein Buchvertrag wird ihm angeboten. Dann geht der FBI-Agent Tom Shaw (Jon Hamm, „Mad Men“) dem Hinweis von Jewells ehemaligem Arbeitgeber nach und plötzlich scheint der Wachmann zum Profil eines geltungssüchtigen Täters zu passen, der sinnbildlich den Brand legt, den er anschließend erfolgreich löschen will.
Shaw, der während der Veranstaltung im Einsatz war und für das FBI die Sicherheitsmaßnahmen vor Ort im Auge behalten sollte, steckt schließlich Verdachtsmomente der Ermittlung an die Polizeireporterin des "Atlanta Journal & Constitution" durch. Kathy Scruggs (Olivia Wilde) überzeugt den Chefredakteur von ihrer Story und das „Journal“ titelt „FBI vermutet, Wachmann-'Held' könnte Bombe gelegt haben."
Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. CNN greift die Nachricht auf und verbreitet sie vermutlich ohne Faktencheck landesweit. Aus dem tapferen Helden Richard Jewell wird über Nacht der fette, gescheiterte und womöglich auch noch homosexuelle Psychopath, der sich an der Gesellschaft rächen wollte. Und als das FBI herausfindet, dass Jewell auf keinen Fall die telefonische Bombenwarnung des Attentäters abgesetzt haben kann, wird flugs ein mysteriöser Komplize ins Spiel gebracht.


An den Verursachern und mittelbar Beteiligten der medialen Hinrichtung lässt Regisseur Clint Eastwood trotz der sachlich-distanzierten Erzählweise kein gutes Haar. Er zeigt, wie Kamerateams rund um die Uhr Jewells Haus belagern und auch dessen Mutter Bobi (Kathy Bates) das Leben zur Hölle machen. Gelegentlich wird das Verhältnis von Fakten und Fiktion aber undurchsichtig. Eastwood deutet an, dass sich Kathy Scruggs die Informationen von Tom Shaw mit Sex erkauft hat. Dies konnte nie bewiesen werden. Dann inszenieren FBI-Agent Tom Shaw und sein Team einen Auftritt Jewells in einem Werbespot. Dabei wird Jewell eingeredet, dass die Unterzeichnung einer Abtretungserklärung zum Film gehört. Anders formuliert: dem naiven Verdächtigen, der seine Peiniger immer noch vergöttert, sollen die gesetzlichen Rechte abgeluchst werden. Das ist selbst für den vertrauensseligen Jewell zu viel. Er greift zum Hörer und bittet Watson Bryant um Rechtsbeistand.

Einfach nur altmodisch – zum Glück!

Wie üblich erfindet Clint Eastwood in seinen Filmen das Rad nicht neu. „Der Fall Richard Jewell“ ist ein linear erzählter Film ohne ästhetische Experimente oder grandiose visuelle Einfälle seines Kameramannes Yves Bélanger, mit dem Eastwood bereits in „The Mule“ zusammenarbeitete. Dass der Film die Eastwood-typische Ruhe ausstrahlt, liegt auch an der Arbeit seines Editors Joel Cox, mit dem der Regisseur seit über 40 Jahren zusammenarbeitet. So entsteht ein Erzähltempo mit hoher Kontinuität, eine Art Geschichten zu erzählen, die dank ihrer ästhetischen Mittel mittlerweile einen Wiedererkennungswert besitzt (man achte darauf, wie methodisch in Eastwoods Film Closeups vermieden werden).

So erzählt der Altmeister fast schon altmodisch schnörkellos die Geschichte seiner Hauptfigur mit einer Stringenz, die Sentimentalitäten beinahe methodisch aus dem Weg geht. Die Leistung von Paul Walter Hauser („BlacKkKlansman“, 2018) ist exzellent. Dank Hausers Mimik erlebt man, wie schwer seiner Figur das Denken fällt. Und wie mühsam er für ihn ist, seine Autoritätsgläubigkeit zu überwinden. Die führt auf groteske Weise dazu, dass Jewell dem FBI sogar jovial dabei hilft, belastendes Material gegen ihn zusammenzutragen. Dass Eastwood ihn beiläufig als Waffennarr vorführt (“Wir leben in Georgia!”), macht diese Figur endgültig zu einem unangenehmen Helden. Der muss sich beim Zuschauen erst wieder Sympathien erarbeiten, und das gelingt, als Jewell in einer großartigen Verhörszene den Agents um Tom Shaw eloquent klarmacht, dass sie nichts gegen ihn in der Hand haben und nur im Trüben fischen.

Auch Supporting Actor Sam Rockwell spielt grandios. Hätte Tom Hanks die Rolle des Watson Bryant übernommen, wäre das Motiv einer ungleichen Männerfreundschaft in empathische Bahnen gelenkt worden. Aber Oscar-Preisträger Sam Rockwell („Three Billboards Outside Ebbing“, 2017) bleibt auch in der zweiten Hälfte des Films ein arrogantes Arschloch, zum Glück aber ein ziemlich professionelles, das von seiner Sekretärin Nadya (Nina Arianda) allerdings immer wieder geerdet werden muss.
Für ihre Nebenrolle als Jewells Mutter Bobi wurde die Veteranin Kathy Bates mit einer Nominierung für die beste Nebendarstellerin bei den Oscars 2020 geehrt. 
Zu Recht, denn Bates spiegelt das Wechselbad von Stolz, Verzweiflung und Wut überzeugend wider. Ihrem Sohn, der immer noch in ihrem Haus wohnt, gelingt dies selbst dann nicht, als Bryant ihn auffordert, endlich mal wütend zu sein.
Für Jon Hamm, der nach den Serienjahren in „Mad Men“ eher unauffällige Filme gedreht hat, scheint es dagegen schwer zu sein, das Image des Don Draper loszuwerden. Die Rolle des auf Jewell fixierten FBI-Agenten spielt Hamm mit einer Mischung aus Boshaftigkeit, Eitelkeit und aalglattem Charme recht ordentlich, aber das Drehbuch gibt für diese Nebenfigur nicht viel Figurentiefe her.

Kaum weniger sympathisch ist Olivia Wilde als skrupellose Reporterin, ein Rollenprofil, das von einem Kritiker als Schwachstelle des Films ausgemacht wurde. Die echte Kathy Scruggs hat ihre FBI-Kontakte nie offengelegt, ebenso wenig ist belegt, dass sie mit Sex Informationen kaufte. Sie starb 2001 im Alter von 42 Jahren an einer Morphinvergiftung.
Aber Eastwood geht es nicht um Misogynie, was die vielen starken Frauenrollen in seinen Filmen ohnehin ad absurdum führen, und wohl auch nicht darum, seinen persönlichen Abneigungen gegen staatliche Autoritäten freien Lauf zu lassen. Das hätte er mit einer Rekonstruktion der zahlreichen Ermittlungsfehler des FBI leicht haben können, denn der tatsächliche Täter wurde erst viele Jahre später gefasst, zudem gab es weitere Verdächtige und unschuldig Verhaftete.

Eastwoods Medienkritik ist zwar unübersehbar, aber angesichts der Rolle, die Social Media heute spielen, auch nicht besonders originell. Man kann sich allerdings mühelos vorstellen, wie heutzutage ein Shitstorm gegen Richard Jewell ausgesehen hätte. Und wäre es Eastwood um Medien-Bashing gegangen, hätte er Kathy Scruggs nicht so sang- und klanglos aus dem Film verschwinden lassen.
Eine Botschaft liefert Clint Eastwood also nicht ab, zumindest nicht auf den ersten Blick. Interessanter ist, was Eastwood diesmal mit einer seiner unbequemen Hauptfiguren anstellt. Er präsentiert erneut einen Menschen, mit dem man sich als Zuschauer schwertut. Das Gleiche gilt allerdings auch für den von Sam Rockwell gespielten cholerischen Anwalt, aber den Eastwood
skizziert wenigstens mit etwas mehr Humor.
Den spart sich Eastwood bei seiner Hauptfigur. Erstaunlich. Schaut man sich Filme mit ähnlichen Sujets an, so ist es eher so, dass eine empathische Wahrnehmung der Hauptfigur durch die Filmemacher eher gefördert als unterlaufen wird.
Die Figuren sind bereits emotional im Recht, bevor sie auch formal ihr Recht erhalten. Das ist in Alfred Hitchcocks „The Wrong Man“ (1956) der Fall - ebenfalls eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruhte. Dort spielte allerdings Henry Fonda die Hautrolle.
In „Der Fall Richard Jewell“ ist das anders. Eastwood verzichtet darauf, aus seiner Hauptfigur einen verkannten Helden zu machen. Im Gegenteil: Würde man nicht die historischen Hintergründe kennen, wäre es deutlicher schwerer an die Unschuld von Richard Jewell zu glauben. Warum das so ist, muss sich jeder Zuschauer selbst fragen. Wenn es also eine Botschaft in Eastwoods Film gibt, dann ist es die lapidare Feststellung, dass die menschliche Würde nicht an Grenzen stößt, wenn jemand dumm und geschwätzig ist, nur wenig Sympathie abruft, dazu noch obrigkeitshörig ist und sich voller Selbstüberschätzung zum Clown macht.

Der echte Robert Jewell starb 2007. Er wurde nur 44 Jahre alt, arbeitete zuletzt aber als echter Cop, so, wie er es sich immer gewünscht hatte. In der letzten Szene des Films erscheint Watson Bryant auf seiner Wache und berichtet davon, dass man den Verantwortlichen für den Bombenanschlag ermittelt habe. Im Weggehen dreht er sich um und ruft Jewell zu: „Sieh dich an!“ Das kann man so oder so deuten. Und dann sieht der Zuschauer tatsächlich ein Closeup von Jewell. Und er sieht, wie der Mann angestrengt nachdenkt, um eine Bedeutung zu finden.


Noten

BigDoc = 2

Der Fall Richard Jewell (Originaltitel: Richard Jewell) – USA 2019 – Regie: Clint Eastwood – Buch: Billy Ray – Kamera: Yves Bélanger – Schnitt: Joel Cox – Laufzeit: 129 Minuten – D.: Paul Walter Hauser, Sam Rockwell, Kathy Bates, Jon Hamm, Olivia Wilde u.a.