Freitag, 14. Mai 2021

Vergiftete Wahrheit - der Öko-Thriller von Todd Haynes schockiert


Manchmal ist die Wahrheit so hart, dass man sie eigentlich nicht wissen will. Gerade in Corona-Zeiten ist dies keine neue Erkenntnis. Todd Haynes filmische Abrechnung mit dem globalen Chemiegiganten DuPont ist harte Wahrheit - und es folgt ein Schock, wenn man nicht rechtzeitig aus dem Film aussteigt.
Warum? Es gibt technische Innovationen, die in Laboren herangezüchtet werden und bei uns allen als Haushaltsprodukte landen. Die Gefahren erkennt man erst viel später. Und die sind im übelsten Sinne, aber auf eine andere Weise, erfolgreicher als ein Virus, denn „bei uns allen“ ist wörtlich zu verstehen. 97% der Weltbevölkerung haben PFOA im Blut. Vermutlich haben die meisten Haushalte auch eine Teflon-Pfanne in der Küche. Wie beides zusammenhängt, erfährt man in „Vergiftete Wahrheit.“

Die Tatsachen gehen brutal unter die Haut

Überraschend ist allerdings, dass ausgerechnet Todd Haynes, einer der subtilsten und ästhetisch anspruchsvollsten Regisseure der letzten beiden Jahrzehnte („Dem Himmel so fern“, 2002, „Carol“, 2015) eine staubtrockene und faktenorientierte Geschichte erzählt, bei der es keinen Anlass für Artwork gibt. Raffinierte Stilmittel sind auch nicht nötig, denn allein die nackten Tatsachen gehen brutal unter die Haut. Und wenn der Abspann läuft, hätte man den Film am liebsten nicht gesehen. Bemerkenswert: ein deutscher Verleihtitel ist ausnahmsweise mal besser ist als das Original.

„Vergiftete Wahrheit“ fängt weiß Gott harmlos an. Robert Bilott (Mark Ruffalo, „Hulk“ im Marvel Cinematic Universe) ist Ende der 1990er-Jahre ein erfolgreicher Unternehmensanwalt, der in der Kanzlei Taft Stettinius & Hollister gerade zum Partner ernannt worden ist und nun mit den Entscheidern am großen Tisch sitzt. Als ausgerechnet während seines ersten Meetings der Farmer Wilbut Tennant (Bill Camp) polternd nach Bilott verlangt, bügelt der Anwalt den unangemeldeten Besucher ab. Der will einen Rechtsbeistand, weil er davon überzeugt ist, dass eine Niederlassung des Chemiekonzerns DuPont giftige Substanzen in einen Fluss ableitet und sein Vieh tötet. Tennant verlässt wütend die Kanzlei, lässt aber einen Berg VHS-Cassetten zurück. 

Ausgerechnet DuPont. Der Konzern gehört zu den Mandanten der Kanzlei, aber Bilott setzt sich einige Tage später trotzdem ans Steuer seines Wagens und fährt nach West-Virginia. Immerhin hat ihn seine Großmutter dem Farmer empfohlen.

In Parkersburg angekommen wird der Anwalt hellhörig. Bereits die VHS-Cassetten zeigten riesige Tumore, die Wilbut Tennant aus seinen toten Kühen herausgeschnitten hatte. 190 Tierkadaver sezierte Tennant und alles wurde akribisch gefilmt. Als der Farmer und der Anwalt plötzlich von einer aggressiven Kuh attackiert werden, bewahrt der Tennant die beiden mit einem gezielten Schuss vor dem Schlimmsten.
Bilott, der langsam begreift, dass er in einen Interessenkonflikt hineinrutscht, versucht die Angelegenheit zunächst gütlich zu regeln und nimmt Kontakt zum DuPont-Anwalt Phil Donnelly (Victor Garber) auf. Der sichert ihm völlig entspannt seine Unterstützung zu. Die Stimmung schlägt um, als Bilott ihn nach PFOA fragt. Nach einigen Flüchen und Beleidigungen lässt ihn Donelly stehen. Wenig später wird Taft Stettinius & Hollister mit Hunderten Aktenkartons geflutet. Der Absender ist DuPont.

Fakten sollen zählen: Todd Haynes verzichtet auf vordergründige Spannung

„Vergiftete Wahrheit“ ist kein Courtroom-Film. Die Prozesse, die Bilott in den nächsten 15 Jahren führen wird, werden nur gegen Ende des Films kurz angerissen. Haynes Film ist eher eine investigative Fiktion über Chemie und ihren Missbrauch. 
Die fast schon aseptische Dramaturgie des Drehbuchs von Matio Correa und Matthew Michael Carnahan (u.a. Drehbuch für Robert Redfords „Lions for Lambs“, Marc Fosters „World War Z“ und Peter Bergs „Deepwater Horizon“) verzichtet dabei weitgehend auf dramatische Effekte und emotionale Nebenkriegsschauplätze, die häufig genug wissenschaftsbasierte Filme aufbrezeln sollen. Das wird konsequent durchgezogen. Aber die Gefahr, dass sich Zuschauer gelangweilt abwenden, ist durchaus berechtigt, auch wenn man weiß, dass künstliche Konflikte komplizierte Sujets nicht retten können, wenn das Thema des Films nicht zu einer persönliche Betroffenheit des Publikums führt.
Aber die stellt sich rasch ein. Auch weil der Film auf realen Fakten basiert. Ausgegraben wurde die Geschichte von Nathaniel Rich, der für das New York Times Magazin den Artikel „The Lawyer Who Became DuPont’s Worst Nightmare“ schrieb. Tatsächlich basiert die Geschichte aber auf einem Buch, das Callie Lyons bereits 2007 schrieb: „"Stain-Resistant, Nonstick, Waterproof and Lethal: The Hidden Dangers of C8".

C8, das ist das Kürzel für PFOA, und PFOA ist eine Substanz, die von Chemikern den Namen Perfluoroctansäure erhielt. PFOA war eine große Entdeckung, weil sie eine sogenannte „Ewigkeitssubstanz“ ist, die einige technische Innovationen möglich machte. Sie lässt sich allerdings in der Umwelt nicht abbauen – und auch nicht oder nur geringfügig vom menschlichen Körper. Das nennt man Bioakkumulation und die grausame Pointe ist, dass die quasi unzerstörbare Chemikalie extrem toxisch ist. PFOA kann Krebs erzeugen, hat aber so vielseitige Eigenschaften, dass DuPont allein mit den Beschichtungen von Teflonpfannen Jahr für Jahr Milliarden verdiente. Und das seit fast 40 Jahren. 

Dass man globalen Chemiekonzernen nicht so einfach in die Suppe spucken kann, muss man eigentlich nicht mehr erwähnen. Dafür steckt PFOA einfach in zu vielen Produkten, z.B. in Lebensmittelverpackungen, von denen es in die Nahrung wandert, aber auch in Autositzen und Teppichböden steckt die Substanz, die im Juli 2020 nach endlosen Streitereien über Grenzwerte und Gefahreneinschätzungen von der EU verboten wurde. Doch PFOA wird bleiben. Es ist persistent, also unzerstörbar, und konnte in einigen Regionen Deutschlands bereits im Trinkwasser nachgewiesen werden. Jenseits der Grenzwerte.

Keine Heldenstilisierung

Todd Haynes Film ist im Kern eine David gegen Goliath-Geschichte, die ebenso von einem realen Vorfall erzählt wie Steven Soderberghs Öko-Klassiker „Erin Brockovich“ (2000), nur dass in Soderberghs Film die Backstory der von Julia Roberts gespielten Titelfigur deutlich mehr Humor und gelungene Spannungselemente zu bieten hatte. Der Film heimste daher nicht nur beim Publikum emotionale Bonuspunkte ein, sondern brachte Julia Roberts bei den Golden Globe Awards und der Oscarverleihung 2001 jeweils eine Auszeichnung als beste Hauptdarstellerin ein.
Außer einem Preis bei einem Umweltfilm-Festival gelang Todd Haynes mit „Vergiftete Wahrheit“ nichts Vergleichbares. Und das ist schade, denn der Film ist exzellent besetzt. Anne Hathaway spielt Bilotts Frau Sarah, Tim Robbins ist Tom Terp, der als Senior Partner der Kanzlei Bilott unterstützt, obwohl der einen wichtigen Kunden angreift. Und da ist auch Bill Pullman in einer schönen Nebenrolle, der sich als Anwalt Harry Deitzler energiegeladen an der Aufklärung des Chemieskandals beteiligt und die Interessen der Bürger von Parkersburg vertritt. Im Gedächtnis bleibt auch die Leistung von Bill Camp als Wilbut Tennant. Der echte Harry Deitzler beschrieb Tennants Rolle mit den Worten: „"Without his insight and foresight into what was happening, I don't think anybody would have discovered it.”
Tennant und seine Frau starben an Krebs.

Mark Ruffalo spielt sehr authentisch einen eher unauffälligen Mann, der jahrelang unter schwierigen finanziellen Bedingungen recherchierte. Haynes verzichtet auf eine Heldenstilisierung und skizziert seine Hauptfigur nüchtern und ein wenig humorlos. Spannend wird es nur dann, wenn Robert Bilott versucht, ratlos seine Ehekrise auszusitzen oder unter seinem Auto eine Bombe vermutet, dann aber entschlossen den Zündschlüssel umdreht, ohne nachzuschauen. Dass er irgendwann gesundheitlich kollabiert, gehört zu den wenigen emotionalen Höhepunkten des Films. Ein Held mit Thrillerpotential ist Bilott nicht.

Spannung entsteht in „Vergiftete Wahrheit“ durch die Ungeheuerlichkeit der Fakten. Und sie steigt zunehmend in dem über zwei Stunden langen Film. Die Story ist allerdings filmisch nur schwer zu bändigen. Sie muss 15 Jahre nacherzählen, in denen nichts Aufregendes geschieht und die Hauptfigur vor großen Aktenbergen sitzt, dann aber jene Hinweise entdeckt, die DuPont ihm frei Haus geliefert hat – wohl hoffend, dass sie der Anwalt nicht entdeckt. Doch Bilott findet sogar heraus, dass Dupont aufgrund eigener Studien genau wusste, welche fatalen Folgen eine Exposition mit PFOA hat und danach seine Mitarbeiter diesen Gefahren wissentlich aussetzte. Warum diese Beweise nicht vernichtet wurden, bleibt allerdings ein Geheimnis. 
Als Bilott einer DuPont-Delegation die harten Tatsachen mitsamt der Beweise unter die Nase reibt, gelingt Todd Haynes eine Szene mit enormer emotionaler Wucht. Erst recht, als es den Mitarbeitern des Chemie-Konzerns irgendwann reicht und sie vollständig bloßgestellt den Raum verlassen.
Erzähltechnisch gelingt dies Haynes auch deshalb, weil er sich klug auf diese Schlüsselszenen konzentriert hat. Sie sind das Ergebnis einer mühsamen und kleinteiligen Recherche, unauffällig und dann doch mit großer Wirkung. Am Ende musste Bilott fast sieben Jahre auf das Ergebnis einer medizinischen Massenuntersuchung der Bürger von Parkersburg warten, die Erschreckendes aufdeckte: Krebserkrankungen, Geburtsfehler, entstellte Kinder und andere Spätfolgen von PFOA führten zu einer Reihe von Teilerfolgen in Einzelprozessen, ehe DuPont in die Knie ging und fast 3500 betroffenen Menschen eine Entschädigung von 671 Mio. US-Dollar zahlte.

„Vergiftete Wahrheit“ ist ein Film, dessen Ambition es ist, seine Geschichte seriös und ohne Schnickschnack zu erzählen. Der Unterhaltungswert eines Films, der vom Zuschauer sehr viel Geduld und auch ein gewisses Faible für wissenschaftliche Details abverlangt, wird sich wohl nur bei jenen einstellen, die Erkenntnisgewinn auch emotional erleben können oder sich einfach nur empören wollen angesichts eines Umweltskandals, in dem die Rollen von Gut und Böse eindeutig zu sein scheinen.
Doch wie so oft spiegeln die Meinungen der unmittelbar Beteiligten auch heute noch unterschiedliche Perspektiven wider. So sind viele Menschen in Parkersburg immer noch davon überzeugt, dass DuPont sich nach der Enthüllung der Fakten vorbildlich um eine Beseitigung der Kontaminierung bemühte. 

Haynes zeigt diese Ambivalenz in einer intelligenten Szene. Während der Massenuntersuchung der Bürger von Parkersburg, die für ihre Teilnahme fürstlich entlohnt werden, sagt eine junge Mutter: „Bei uns werden Sie nichts finden. Dupont, das sind alles anständige Menschen.“ 

„Vergiftete Wahrheit“ ist eine anstrengende, aber fesselnde filmischen Erfahrung, die ihre Schocks dosiert verabreicht. Eine Erfahrung, die zwingend danach verlangt, sich auch in anderen Quellen über einen sehr komplexen Sachverhalt zu informieren. Wer im Forums eines großen Online-Händlers die Rezensionen nachliest, wird erstaunt sein: Genau dies haben nicht wenige Rezensenten getan. Auch deswegen sollte man sich den fordernden Film nicht ersparen.

 

Noten: BigDoc = 1,5


Vergiftete Wahrheit (Dark Waters) – USA 2019 – Regie: Todd Haynes – Buch: Matio Correa und Matthew Michael Carnahan – Nach dem Artikel „The Lawyer Who Became DuPont’s Worst Nightmare“ von Nathaniel Rich und dem Sachbuch „Stain-Resistant, Nonstick, Waterproof and Lethal: The Hidden Dangers of C8" von Callie Lyons – Laufzeit: 126 Minuten – D.: Mark Ruffalo, Anne Hathaway, Tim Robbins, Bill Camp, Bill Pullman u.a.