Dienstag, 25. Mai 2021

Wahl der Waffen - Alain Corneaus Filmklassiker wurde hervorragend restauriert


Der französische Regisseur Alain Corneau (1943-2010) erreichte nicht die Anerkennung, die Jean-Pierre Melville mit seinen stilprägenden Gangsterfilmen bis heute behielt. Aber Corneaus 1981 entstandener Film „Wahl der Waffen“ blieb dafür einer der letzten seiner Art: ein Genrefilm, der sich 9 Jahre nach Melvilles letztem Film ganz dem Geist des Film noir verschrieb, aber mit der Figur des von Gerard Depardieu gespielten Mickey die Ikonisierung des Gangsters à la Melville dekonstruierte.
Nun hat White Pearls Classics den sorgfältig restaurierten Film auf Bluray und DVD veröffentlicht und präsentiert mit seinem Media Book einen fast vergessenen Klassiker in einer technischen Qualität, die locker dem Vergleich mit aktuellen, digital produzierten Filmen standhält.

Der andere Blick

Jean-Pierre Melville erzählte 1970 in seinem Klassiker „Vier im Roten Kreis“ nicht nur von der Professionalität der Gangster, sondern auch von der Regelhaftigkeit und dem Codex einer untergehenden Spezies, die schicksalshaft den eigenen Untergang mit ihren Entscheidungen und Handlungen forciert. In diese Fatalität sind auch die ermittelnden Kommissare verstrickt, die in der Regel aber den Kreislauf von Gewalt und Untergang überleben. Diese Subkultur der Noir-Gangster spiegelte einen Pessimismus wider, der Melvilles Filme in existenzialistische Tragödien verwandelte. Mit einer eigenen Bildsprache und einer stilprägenden Coolness. Am Ende wartet nur der Tod auf seine Helden, wie in „Der eiskalte Engel“ (1969), wobei der Originaltitel „Le Samourai“ den von Alain Delon gespielten Typus treffsicherer auf den Punkt brachte als der deutsche Verleihtitel.

Alain Corneau hätte ohne diese stilistischen Blaupausen seinen Film nicht drehen können, aber „Wahl der Waffen“ war keine Apologie des Bewährten, sondern öffnete sich für einen anderen Blick auf die Realitäten. So ist der von Yves Montand gespielte Ex-Gangster Noël gezwungen, sein idyllisches Landgut zu verlassen, um in den Banlieues von Paris nach einem Junggangster zu suchen, der wie eine Berserker unkontrollierbar wütet und Noëls saturiertes Leben bedroht.
Noël, dessen kriminelle Aktivitäten bereits eine Vierteljahrhundert zurückliegen, taucht ab in einer Welt der Drogen, der Kleinkriminalität und der Ausweglosigkeit. Ein realistischer Blick auf die sozialen Verhältnisse, den man so bei Melville nicht findet, ein Blick, der auch Noël verändert, aber die Tragödie nicht aufhalten kann.

Sie beginnt, als Mickey (Gerard Depardieu) zusammen mit dem Gangster Serge (Pierre Forget) aus dem Gefängnis ausbricht und auf der Flucht Bill Haleys „Rock Around the Clock" singt, während er einen Polizeiwagen rammt und einen Cop erschießt. Mickey ist ein ehemaliger Boxer, ein junger Krimineller, den die Presse später „le Dingue" nennen wird, den Verrückten. Die Flucht gelingt, aber der Fluchtfahrer lockt Mickey und Serge in eine Falle. Offenbar hat jemand mit dem älteren Gangster noch eine Rechnung offen. Serge wird von einer Kugel getroffen und Mickey bringt den Schwerverletzten auf das Landgut von Noël, denn Noël  und Serge hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Dort stirbt Serge mit einer Kugel im Bauch.
Ähnlich wie bei Melville beginnt danach eine tragische Verkettung von Irrtümern und Zufällen. Der paranoide Mickey glaubt, dass Noël ihn an die Polizei verraten hat und bedroht ihn und seine Frau Nicole (Catherine Deneuve) mit der Waffe. Schüsse fallen und Noël weiß, dass er den Verrückten aufhalten muss um sein ‚Savoir Vivre' zu retten.

Die jungen Gangster sind nicht cool

Zwischen Jean-Luc Godards „Außer Atem“ (À bout de souffle, 1960) und „Wahl der Waffen“ liegen zwei Dekaden. Während Godard in seiner Film noir-Hommage einen Anti-Helden (Jean-Paul Belmondo) zeigt, der die klassischen Vorbilder konterkariert, spielt Gerard Depardieu einen radikal neuen Typus. Sein Mickey ist weder lässig noch ironisch oder cool, sondern eine Mischung aus Gewalt, Dummheit und unbeherrschten Gefühlen. Bei einem Tankstellenüberfall lässt er sich zunächst von der resoluten Besitzerin in die Flucht schlagen, kehrt aber zurück und verwüstet die halbe Tankstelle. Man ahnt, dass er die Tour de Force nicht lange durchhalten kann.

Für Noël ist das Auftauchen des jungen Wilden der Beginn einer Reise in die Vergangenheit und in die Gegenwart. Die Idylle des zurückgezogenen Pferdezüchters wird bedroht, aber Noël weiß, dass er sich der Hilfe seiner ehemaligen Bandenmitglieder auch nach Jahrzehnten sicher sein kann. Bei seiner Suche nach Mickey erfährt er allerdings, dass sich viel geändert hat: Rauschgift, Fixer und Jugendbanden bestimmen das Bild der verdreckten Suburban Areas von Paris, deren Wohnsilos den trostlosen Eindruck sozialer Ghettos vermitteln.

Anders als in der Gangsterfilmen von Jean-Pierre Melville, die hermetische Männerwelten abbilden, erlaubt Corneau in
„Wahl der Waffen“ seinen Figuren eine Liebesbeziehung. Noël ist ein Mann mit zurückhaltenden Manieren und ebensolchen Emotionen, der seine schöne Frau (Catherine Deneuve) auf eine Art und Weise liebt, so, als sei schon längst entschieden, was in diesem Leben noch zu tun sei.
Mickey entwickelt eine unbeholfene, zärtliche Beziehung zu seiner fünfjährigen Tochter, von deren Mutter er nur weiß, dass sie sich vor einen Zug geworfen hat. So gegensätzlich diese Beziehungen auch sind, so zeigt Corneau in stimmigen Bildern eine emotionale Authentizität, die beide Männer auf ihre eigene Weise teilen.

Der Kreislauf der Gewalt führt in den Untergang

Bereits in Melvilles Film sind die Cops Teil des Kreislaufs, der zu einer Entladung der Gewalt führt. In „Wahl der Waffen“ spiegelt sich die Welt von Noël und Mickey in der Ambivalenz der Cops wider. Der ältere, erfahrene Kommissar Bonnardot (Michel Galabru) ist beherrscht und zurückhaltend, der jüngere Sarlat (Gérard Lanvin) ist ein rigider Moralist. Angewidert von den Kompromissen und der Gewalt reagiert er umso heftiger mit Gewalt. Am Ende erschießt er versehentlich Noëls Frau und am Ende auch Mickey.
So geschieht genau das, was Noël mit aller Kraft verhindern wollte. Die Tragödie ist allerdings das Ergebnis einer Verkettung von Fehlern, die nicht nur auf Mickeys Konto gehen, sondern auch auf Noëls Handlungen, die Mickey wiederum zu Fehleinschätzungen provozieren. So endet „Wahl der Waffen“ in Chaos und Trauer, die aber so unvermeidlich zu sein scheinen, als hätten sie in einem deterministischen Filmkosmos bereits von Anfang keine Alternative zulassen können.

Alain Corneau hat dies mit einer eigenen Bildsprache erzählt, ruhig und elegant gefilmt und ohne Hast von Thierry Derocles montiert. Eingeprägt hat sich der Film aber besonders durch die Musik, die wie in Louis Malles „Fahrstuhl zum Schafott“ (L’Ascenseur pour l’échafaud, 1957) die Stimmung des Films beherrscht. War es in Malles Film die traurige Trompete von Miles Davis, so sind es in Corneaus Films die Bassläufe von Ron Carter (der zu Davis‘ zweitem legendärem Quintett der 1960er-Jahre gehörte) und Buster Williams, die der Filmmusik von Phillippe Sarde und dem London Symphony Orchestra einen unvergesslichen Touch gaben.

Geprägt wurde Corneaus Film auch durch die herausragenden Leistungen von Yves Montand und Gerad Depardieu, während Catherine Deneuves Rolle nur bedingt große Auftritte zuließ. Depardieu war 1981 kein Filmrookie mehr, er hatte bereits in 53 Film mitgewirkt, aber seine Darstellung des Mickey war so explosiv und intensiv, dass man bereits vor vier Jahrzehnten ahnte, dass seine Karriere ihn zum Weltstar machen würde.
Yves Montands Rolle war allerdings schwerer zu spielen, denn den Filmtitel „Wahl der Waffen“ ist ein Wortspiel, dass sich vordergründig auf die Gewalt bezieht, aber hintergründig den Verzicht auf sie im Sinn hat. Montand spielt einen Mann, der kein Gangster mehr sein will, dessen Leben aber zerstört wurde und dessen Vergangenheit einen Rachefeldzug fast als zwangsläufig erscheinen lässt. Wie bei Montand dann am Ende die Wahl der Waffen tatsächlich ausfällt, wird von diesem großartigen Schauspieler so subtil und eindringlich gespielt, dass allein seine Wahl der Waffen Corneaus Film bereits zum Klassiker macht.

„Wahl der Waffen” steht nur zum Teil in der Tradition der Gangsterfilme von Jean-Pierre Melville. Die hermetische Welt der Großstadtgangster, deren Verhaltenskodex in einer Reihe französischer Genrefilme noch bruchlose Gültigkeit besaß, wird zwar nostalgisch zelebriert, wirkt aber brüchig.
Der Krieg zwischen den Cops und den Noir-Gangstern war geprägt durch einen professionellen Respekt vor dem Gegner. Die Faszination dieser Genrefilme beruhte darauf, dass der Zuschauer distanzierter, aber nicht unbeteiligter Zuschauer von Geschichten wurde, in denen Menschen Gewalt auf eine Weise ausüben, als sei es tragisch und notwendig zugleich, so zu leben. Dahinter wurde die Anziehungskraft bürgerlicher Wertvorstellungen auf die Gangster sichtbar, die diese Wertvorstellungen brechen müssen, um irgendwann nach ihnen leben zu können. Noël gelang dies, aber der Bruch in „Wahl der Waffen" entsteht durch den anarchischer Gewalt, die keine erkennbaren Ziele mehr verfolgt, weil sie offenbar keine mehr hat oder keine Vorstellung besitzt, wo sie zu suchen sind. Mickey, ein Kind der Unterschicht, wird nie so werden wie Noel: nämlich arriviert.

Alain Corneau kündigte in „Wahl der Waffen also das Ende einer Ära an, nicht nur sozial und gesellschaftlich, sondern auch genrehistorisch. Tatsächlich hat sich Film noir aber nur geändert und taucht als Neo-Noir mit neuen Erzählmustern bis heute immer wieder auf. Entweder als nostalgische Hommage, aber viel häufiger mit einem Blick auf die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen. Der spätere César-Preisträger (1992, Bester Film und Beste Regie für „Die siebente Saite“) Alain Corneau hat dafür eine Vorlage geliefert, die auch vierzig Jahre später so frisch wirkt, als sei der Film gerade eben entstanden.

Überragende Bildqualität

Der in 35 mm gedrehte Film und 135 min lange Film (in den USA lief eine um 20 Minuten gekürzte Version) mit der Aspect Ratio 2.35:1 wurde für das Media Book komplett restauriert und wirkt insgesamt dank ausgewogener Farben und Kontraste sehr filmisch. Die Bildschärfe ist so verblüffend gut, und zwar so gut, dass man sich beim besten Willen keine Steigerung durch ein 4K-Mastering vorstellen kann. Zwei bis drei unscharfe Closeups gehen wohl auf das Konto des Focus Pullers. Der Ton liegt in deutscher, englischer und französischer Fassung in DTS-HD MA 2.0 Mono vor.

Das Media Book selbst ist so sparsam wie das noch sparsamere Bonusmaterial. Biographisches zu dem Regisseur und seinen Darstellern liegen unter dem, was man sich heimlich gewünscht hätte, aber unterm Strich überwiegen die exzellenten technischen Eigenschaften der Bluray derartige Vorbehalte. Schöner wird die Neuauflage von „Wahl der Waffen“ wohl nicht mehr zu sehen sein. 


Wahl der Waffen (Le Choix Des Armes) – Frankreich 1981 – Laufzeit: 135 min - Regie: Alain Corneau - Buch: Alain Corneau, Michel Grisolia - Kamera: Pierre-William Glenn - Musik: Philippe Sarde, Ron Carter, Buster Williams - Darsteller: Yves Montand, Gerard Depardieu, Catherine Deneuve, Michel Galabru, Gérard Lanvin u.a.