Samstag, 22. Mai 2021

The Nevers - HBO-Serie mit Licht und Schatten

Das britische Empire hat es schwer: Es ist das Jahr 1896, als ein Raumschiff über London erscheint und viel Klitzerkram vom Himmel regnet. Danach besitzen viele Frauen plötzlich Superkräfte. Sie heißen von nun an „The Touched“ (Die Berührten), werden von maskierten Vigilanten gejagt und haben auch in der Upper Class einen schweren Stand. 

Frauen, die mehr können als Männer. Das hört sich nach einem feministischen Plot an, ist aber keiner. Auch wenn einige weiße alte Männer abschätzig über Frauen mit Superkräften lästern…

Angriff auf das Empire?

Mit der neuen Serie begibt sich HBO auf vermintes Terrain. „The Nevers“ reiht in die Gruppe jener seriellen Narrative ein, die auf Anhieb nicht leicht zu durchschauen sind. Und es auch nicht sein sollen. Etwa wie „Westworld“, „Lovecraft Country“ oder „Devs“. Mal fällt das epochal aus, mal trivial.
„The Nevers“ ist nicht trivial. Die Serie ist auch nicht schecht, aber sie ermüdet. Immerhin hat Showrunner Joss Whedon die Geschichte trendy an Sujets angepasst, die gerade en vogue sind: weibliche Hauptrollen, viel Fantasy und ein kräftiger Genremix, gerne auch im viktorianischen England - wie aktuell auch in „Die Bande aus der Baker-Street.“ Ein Schuss Retro ergibt immerhin interessante Settings und damit wirkmächtige Production Values. Und nette Kritikerphantasien über Suffragetten und weibliche Selbstermächtigung im viktorianischen Zeitalter. Leider sind Suffragetten in „The Nevers“ schlichtweg nicht zu entdecken, dafür aber intelligente Frauen mit vielen Eigenschaften.

Die erste Episode „Pilot” zeigt, wo es langgehen soll. Sie spielt drei Jahre nach dem mysteriösen Ereignis. Amalie True (Laura Donelly) und Penance Adair (Ann Skelly) wollen Myrtle (Viola Prettejohn) eine „Berührte“ vor den eigenen Eltern retten. Die
sehen Satan am Werk. Das „berührte“ Mädchen spricht urplötzlich so ziemlich alle Sprachen, die es gibt – nur leider nicht mehr die eigene. Fast kommen Amalie und Penance zu spät, denn eine Gruppe Maskierter will Myrtle entführen. Alles mündet in einer wilden Verfolgungsjagd durch enge Gassen, ehe sich die Kutsche, mit der die drei Frauen fliehen, wie von Zauberhand in eine Art Batmobil verwandelt. Und das sieht so aus, als hätte sich Jules Verne das pfeilschnelle Vehikel ausgedacht.

Amalia und Penance, die ebenfalls „Berührte“ sind, gehören zum Waisenhaus St. Romaulda, das von Amalie geleitet wird und mit Lavinia Bidlow (Olivia Williams) eine einflussreiche Patronin aus der Oberschicht besitzt. Man kümmert sich in der kunterbunten Einrichtung um Mädchen, die über seltsame Gaben verfügen. Penance hat zum Beispiel die Gabe, intuitiv völlig neue Maschinen zu konstruieren, eine der wenigen Figuren, die für einen Schuss Humor sorgen. Mutanten und Hi-Tec-Maschinen: Das klingt nach X-Men. Von Mutanten spricht in der Serie aber niemand. Eher macht sich die elitäre britische Führungsschicht in Gestalt des militanten Lord Massen (Pip Torrens) Gedanken über eine Attacke auf die englische Gesellschaft. Nervös macht Massen vor allen Dingen ein ärgerlicher Umstand: „Kein einziger Mann von Rang wurde befallen. Sie führen ihre Attacke über unsere Frauen“, sinniert der Lord, den auch die unaufhaltsamen technologischen Fortschritte des ausgehenden Jahrhunderts nerven. Die „Berührten“ sind für ihn sozusagen der Prototyp einer unkontrollierbaren Veränderung, die man nicht einmal deuten kann: „Es war von Anfang an darauf angelegt, dass wir nur Bruchstücke sehen – aber nie das Ganze.“
Damit beschreibt Lord Massen nicht nur den Notstand des Empire, sondern auch ziemlich pointiert die Essenz der HBO-Serie. Dass es in einer patriarchalischen Gesellschaft ziemlich provokativ ist, wenn ausschließlich Frauen über Superkräfte verfügen, sorgt für eine ironische Note, denn tatsächlich tauchen nach und nach auch Männer auf, die „berührt“ wurden, so der farbige Arzt Dr. Horatio Cousens (Zackary Momoh), der Kranke und Verletzte durch Handauflegen heilen kann. Äußerst praktisch.

Diese feinen Nadelstiche können einem aber schnell entgehen, denn die erste Episode von „The Nevers“ überflutet die Handlung mit irrwitzigem Tempo und einem Riesenaufgebot von Figuren, deren Bedeutung für die Handlung garantiert nicht auf Anhieb zu erkennen ist. Weder beim rabiaten Inspektor Frank Mundi (sehr charismatisch: Ben Chaplin), der eine Mordserie aufklären will, noch bei dem bisexuellen Aristokraten Hugo Swann, der einen geheimen Sexclub für Männer aus der Oberschicht betreibt, weiß man, welchen Platz sie in der komplizierten Handlung einnehmen sollen. Das gilt erst recht für die wahnsinnige Mörderin Maladie (Amy Manson), die ebenfalls „berührt“ wurde, einige Anhänger um sich geschart hat und offenbar einen Rachefeldzug gegen die britische Elite begonnen hat.

Ersonnen wurde „The Nevers“ von Joss Whedon (u.a. „Buffy the Vampire Slayer” (1997-2003), “The Avengers” (2012), “Avengers: Age of Ultron” (2015)). Whedon schrieb auch das Skript für die erste Episode “Pilot”, führte in der ersten Halbstaffel (sechs Episoden) dreimal Regie, wurde danach aber von HBO gefeuert. Die Gerüchte, dass Whedon am Set ein ungenießbarer Tyrann sei, sind seit Jahren bekannt. Anfang 2021 wurde er durch Philippa Goslett („Little Ashes“, 2008) ersetzt, eine Drehbuchautorin, die zum ersten Mal in die Rolle eines Showrunners schlüpft.

Wohin das führen wird, bleibt unklar. Das liegt nicht nur an fehlenden inhaltlichen Hinweisen, sondern auch an der Erzähltechnik Whedons, der mit Nebelkerzen um sich wirft. Alles, was geschieht, wird von einem großen Rätsel überlagert, einem Geheimnis, das einige Zeit lang unerklärlich bleiben muss. Figuren werden in so einem Plot – und das haben die meisten Mystery-Serien der letzten Jahre deutlich gemacht – erklärungsfrei in die Handlung geworfen. Das Geheimnis soll in jedem Winkel der Geschichte Einzug halten, die Motivation der Figuren und ihre Ziele bleiben unklar, sodass die dramatischen Konflikte nur teilweise nachvollziehbar sind.

Dies zeigt auch die zunächst verwirrende Pre-Title-Sequence der ersten Folge. Man sieht scheinbar wahllos Figuren, die ratlos gen Himmel blicken. Am Ende der Episode weiß man, warum: Über der Stadt schwebt ein riesiges Raumschiff, das besagten Klitzerkram über der Stadt ausschüttet. Und der sieht aus wie energiegeladene Schneeflocken. Und nachdem das Raumschiff verschwunden ist, haben es alle dank einer kollektiven Amnesie schnell vergessen. Nur die verrückte Maladie nicht. Ein Erklärungsversprechen, das eingehalten wird. Aber nur dann, wenn man sich die erste Episode noch einmal ansieht.

Fehlende Drehbuchseiten, zu viele Figuren

Die erste Staffel der HBO-Serie „The Nevers“ besteht aus zwei Hälften. Zu sehen gab es bislang sechs Episoden. Man ist hin- und hergerissen, denn Joss Whedon liefert keineswegs Unverdauliches ab. Die Serie ist bei der Skizzierung einiger Figuren sehr witzig, hat auch an anderen Stellen einen trockenen Humor. Und sie sieht visuell verdammt gut aus.
Viele Charaktere haben ein großes narratives Potential, tauchen aber zu selten in den vielen Geschichten auf. Andere sind schlichtweg überflüssig, etwa Tom Riley als Lady Bidlows Bruder Augustus, der zu den Berührten gehört und für Penance romantische Gefühle entwickelt. Eine durchaus interessante Figur wie auch der von Nick Frost fabelhaft gespielte „Beggar King“, der die Londoner Unterwelt kontrolliert. Aber es sind halt zwei Figuren zu viel.

Achtzehn Hauptfiguren hat Whedon in die Handlung geschrieben, die Hälfte hätte es auch getan. So
mäandert die Serie durch die Haupt- und Seitenstränge einer Geschichte, deren Kern allein schon volle Aufmerksamkeit erfordert hätte, und man fragt sich, warum die erste Staffelhälfte sich auf die Story von Maladie fokussiert, während etwa die Intentionen von Lady Bidlow nebulös bleiben. Die arbeitet nämlich mit dem amerikanischen Arzt Dr. Edmund Hague (Denis O’Hare) zusammen, der als Möchtegern-Dr. Frankenstein am liebsten berührte Frauen bei lebendigem Leibe seziert und nun zusammen mit der Patronin des Waisenhauses ein Raumzeitportal studiert, durch das eine Alienrasse, die Galanthi, in das London des zu Ende gehende 19. Jh. eingedrungen ist. Kaum ist das angedeutet, springt die Serie in den nächsten Handlungsstrang. Manchmal erinnert das an die Mythologie der X-Files: man macht einfach weiter, erzählt ein Rätsel nach dem anderen und hofft, dass man die Auflösung irgendwie hinbekommt, wenn das Serienende naht.

Genie und Inkompetenz reichen dem Zeitgeist die Hand

Pars pro toto: „True“, die sechste und letzte Episode der ersten Staffelhälfte, ist gleichzeitig ein Geniestreich und ein verworrenes Erzählknäuel. Sie überrollt den Zuschauer mit einem Zeitsprung in die Zukunft, enthüllt die wahre Identität von Amalia True, springt dafür zurück in die Vorgeschichte der Bäckersfrau Molly, die aus Verzweiflung in die Themse springt, wonach die sehr, sehr mysteriöse Soldatin Zephyr Alexis Navine (Claudia Black), die sich in ferner Zukunft ebenfalls das Leben genommen hat, als Amalie True in Mollys Körper wiedererwacht. Schwer zu verstehen? Nicht ärgern: Das Ganze hat System.

Die Episode hinterlässt den Eindruck, als hätte Joss Whedon jede dritte Drehbuchseite aus dem Skript gerissen und danach den Rest verfilmt. Das Ergebnis ist ein wirres Pacing. „True“ macht damit das Dilemma der Serie nicht nur sicht-, sondern mit diesen Volten auch spürbar: dem freudigen Staunen des Zuschauers über eine unerwartete Wendung folgt die ernüchternde Ratlosigkeit auf dem Fuße.

Dabei ist der Sprung in die Zukunft an sich genial. Aber die neue Geschichte wird von Whedon mit einem Überangebot von neuen Figuren innerhalb einer halben Stunde kaputterzählt. Zwar erfährt der Zuschauer, dass die Galanthi möglicherweise die Absicht haben, die ökologisch ruinierte Erde zu retten, aber in einer post-apokalyptischen Zukunft kämpfen zwei militante Fraktionen in einem blutigen Endzeitkrieg um den richtigen Weg. Die Religiösen wollen die Aliens vernichten, die Atheisten haben bereits erfolgreich Kontakt aufgenommen und sehen in den Galanthi die Retter der Erde. 

Doch Whedon verliert auch hier das Gefühl für Maß und Balance. Kaum dass man sich an die neuen Figuren und ihre Motive gewöhnt hat, fallen sie sich in der Rücken, wechseln das Lager und verraten ohne zu zögern ihre Ideen. Aber das ist ein typischer Formalismus von Joss Whedon. In „The Nevers“ sind alle Figuren ambivalent. Sie können plötzlich das Gegenteil von dem sein, was sie zuvor verkörpert haben. Das macht nicht nur die Charaktere fragil, sondern auch die Handlung. So sieht narratives Overload halt aus, wenn man es übertreibt.

Erzähltechnisch ist das generell eine Katastrophe, aber im Besonderen halt auch für die letzte Episode, die zugleich genial und inkompetent ist. Whedon hatte offenbar den Plan, die Enthüllung des Metaplots mit zahlreichen Plot Twists und Mini-Cliffs, also in die Handlung verpflanzten Cliffhangern, in ein furioses Spektakel zu verwandeln, das ein bisschen erklärt, aber gleichzeitig neue Geheimnisse generiert. Dazu passt dann, dass das anschließende „Molly“-Kapitel clever, aber langatmig erzählt wird, bevor die Handlung dann im letzten Kapitel in ein Actionszene springt, deren Anlass sich der Zuschauer mühsam zusammenreimen muss.
Das alles hätte durch Konzentration und Sparsamkeit zu einer spektakulären Staffelpause führen könnte, spiegelte aber dann doch nur mit eigentümlicher Konsequenz das wider, was die HBO-Serie bereits zuvor zelebrierte: heillose Überfrachtung des Plots, inkonsistente Haupt-, Rahmen- und Nebenhandlungen, spannende Figuren, die dann für lange Zeit verschwinden, und ein postmoderner Genremix aus Comicelementen, Horror und Science-Fiction, der erkennbar ein großes Potential besitzt, aber durch zu ambitioniertes Erzählenwollen beschädigt wurde. Es war im wahrsten Sinne des Wortes einfach zu viel des Guten.


Fazit: „The Nevers“ haben das Potential, der nächste Smash Hit von HBO zu werden. Das könnte noch gelingen, wenn die neue Showrunnerin Philippa Goslett die seltene Fähigkeit besitzt, das Chaos in Ordnung zu verwandeln. Die Idee von Joss Whedon, Woman’s Lib in einen Fin de Siècle-Kontext zu verfrachten, bietet wie fast jedes Period Drama die vielseitigsten Möglichkeiten – von ironischen Kommentaren bis hin zu der Erklärung, warum aus den weißen alten Männern der Vergangenheit die weißen alten Männer von heute geworden sind.
Joss Whedon hat dies wohl auch so gesehen, als er die bekannte Feministin Laurie Penny in den Writers’s Room holte. Ein denkwürdiges Erzählziel in einer verbiesterten, zunehmend humorloser werdenden Zeit. Das könnte etwas werden, wenn man es erzählt, ohne dabei zwanghaft politisch korrekt zu werden. Eine stringente Handlungs wäre dabei mit Sicherheit hilfreich.

Aber dazu müsste man den Figurenpark reduzieren, konzentrierter und vor allen Dingen psychologisch nachvollziehbarer erzählen. Und man müsste sich von einer Attitüde trennen, die pflichtschuldig etwas Feminismus in die Handlung integriert, tatsächlich aber einem anderen Zeitgeist huldigt. 
Und dieser bestimmt die Art, wie serielles Erzählen sich in der letzten Dekade geändert hat. Serien sind hyperkomplex, enigmatisch und eklektizistisch geworden. Und das bedeutet: überfrachtete und undurchdringlich rätselhafte Handlungen wie in „Westworld“ oder „Lovecraft Country“. 
Oder Serien, die ihre Innovationslust ästhetisch durch eine Mixtur unterschiedlicher Genreelemente und visueller Präsentationen ausdrücken. Jüngstes Beispiel für diesen Eklektizismus ist „Die Bande aus der Baker Street“ (
The Irregulars“), die lustvoll Ikonen des Detektivgenres wie Sherlock Holmes und Dr. Watson dekonstruiert und auf gewollt historisch inkorrekte Weise mit seinen Figuren die Young Adults adressiert. Und damit auch riesigen Erfolg bei der Zielgruppe hatte. Um so überraschender war die Nachricht, dass Netflix die neue Serie trotz überragender Nielsen-Streamingquoten bereits nach der 1. Staffel absetzte.
Dieses Schicksal könnte auch „The Nevers“ drohen. Die Serie erreichte bislang im Schnitt 500.000 Zuschauer und befindet sich damit bestenfalls im unteren Mittelfeld eines heftig umkämpften Markts. Und der wird in der Post-„Game of Thrones“-Ära und stimuliert durch die Marvel-/Disney-Erfolge mit einem Dauerfeuer aus Fantasy- und comic-haften Serien übersättigt. Die Erfahrung lehrt aber, dass alles ein Ende hat.

Noten: BigDoc = 3

The Nevers - HBO 2021 - Showrunner: Joss Whedon - Episoden: 6 - D.: Laura Donnelly, Ann Skelly, Olivia Williams, James Norton, Tom Rily, Ben Chaplin, Nick Frost, Pip Torrens, Amy Manson, Denis O'Hare, Zackary Momoh, Rochelle Neil u.a.