Donnerstag, 6. Januar 2022

Star Trek: Discovery – die Wiedergeburt einer Serie

Nach fast viereinhalb Jahren und heftiger Auseinandersetzungen über den Kanon und damit über Wert und Unwert von „Star Trek: Discovery“ hatte man vor allem eins gelernt: in dieser Debatte folgt vieles einer binären Logik, in der es keine Grautöne gibt: Ja oder Nein, gut oder schlecht, Hop oder Top.
Nun aber scheint „Star Trek: Discovery“ (STD) einen evolutionären Prozess zu durchlaufen, der bereits mit der dritten Staffel begann, dann aber in der Midseason scheiterte. Die vierte Season macht zumindest in der ersten Staffelhälfte erneut einen riesigen Schritt. Und zwar zurück zur Erzählweise der alten, klassischen Star Trek-Serien. Und es klappt. Mehr Star Trek ist kaum noch vorstellbar. Die Serie beginnt zu funktionieren – zumindest für die, die in den 1980er und 1990er Jahren begeisterte Fans des Star Trek-Universums geworden sind. Und nun gibt es endlich auch Grautöne zu entdecken.

Zurück in die Zukunft: „Star Trek: Discovery“ setzt auf Bewährtes

Ähnlich vielversprechend begann auch die zweite Staffel, ehe sie in einen völlig überfrachteten Plot abdriftete. Die verrückte KI Control bedrohte den gesamten Kosmos, verschiedene Zeitlinien überlappten sich, die Beziehungen zwischen den Hauptcharakteren wurden immer komplizierter. Und schließlich wurde sogar eine Figur aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Am schlimmsten war aber, dass die Geschichten ihre Originalität eingebüßt hatten, während die Macher um Executive Producer Alex Kurtzman offenbar nur daran interessiert waren, ihre technischen Gimmicks vorzuführen.
„Überflüssige Zeitreisen, halbherzige Erzählkultur, Gigantismus“, schrieb ich damals. 
Dann sprang die „Discovery“ einige Jahrhunderte in die Zukunft – ein Trick, den J.J. Abrams auch im Kino-Franchise nutzte, um etwas Lästiges über Bord zu werfen: den Kanon. 
„Wir haben uns vollständig vom Kanon befreit und können nun ein völlig neues Universum erforschen ", erklärte Kurtzman dem Hollywood Reporter. Über die dritte Season schrieb ich danach nicht mehr.

Nun also ein Reboot. Nicht neu ist, dass auch diesmal alles auf dem Spiel steht, zumindest aber die eigene Galaxis. Nicht mehr und nicht weniger. Die alte Föderation findet wieder zu sich, nachdem die interstellare Raumfahrt aufgrund des „Brandes“ und der Zerstörung des Dilithiums nicht mehr möglich war (Staffel 3). Aber plötzlich taucht eine gigantische Gravitations-Anomalie (DMA) mit einem Durchmesser von fünf Lichtjahren auf, die für desaströse Zerstörungen in der Galaxis sorgt. Cleveland Bookers (David Ajala) Heimatplanet Kweijan wird von der Anomalie völlig zerstört, Millionen sterben und „Book“ gehört völlig traumatisiert zu den wenigen Überlebenden. Natürlich soll die „Discovery“ bei der Suche nach der Ursache dieser Katastrophe eine Schlüsselrolle spielen.

Was STD von den vorherigen Staffeln unterscheidet? Ganz einfach - es ist die Tonalität, und das kann man auch als Betonung verstehen. Neue Akzente und ein veränderter Rhythmus sind deutlich zu spüren: mehr Fokus auf die Dialoge und nur noch moderat dosierte Action.

Bereits die erste Folge „Kobayaski Maru“ erinnert nicht nur durch den Namen des berüchtigten Starfleet-Tests sehr an die klassischen Serien wie „The Next Generation“ oder „Voyager“. Obwohl es der Staffelstart mit kinoreifen Effekten richtig krachen lässt, spürt man, dass sich etwas geändert hat.
Die Handlung wird sorgfältig aufgebaut, die Figuren werden glaubwürdig weiterentwickelt. Da die Kameraarbeit und die Bildmontage bereits in den STD-Staffeln 1-3 gediegen-konservativ war und sich daran nichts geändert hat, entwickelt sich sehr schnell ein Star Trek-Feeling, wie es die jüngeren Zuschauer vielleicht nicht kennen, die älteren aber schon.

Die Storylines der Episoden folgen formal vertrauten Erzählmustern. Es gibt einen Main Plot als horizontales Erzählelement (die Suche nach den Ursachen der Anomalie) und in jeder Folge mindestens einen Subplot, dessen Handlung wie in einem klassischen Procedural am Ende der Episode abgeschlossen wird. Diese Subplots stellen verschiedene Personen der Discovery-Crew entweder mit persönlichen Problemen in den Mittelpunkt oder spiegeln im Kleinen einen problematischen Aspekt des Main Plots wider. Gut, das ist ziemlich old-fashioned, aber nicht alles, was alt ist muss entsorgt werden.

In der ersten Episode ist das gegenseitige Missbehagen, das sich zwischen Michael Burham und der neuen Föderations-Präsidentin Laira Rillak (Chelah Horsdal) entwickelt, eher ein Teil des Main Plots. Rillak respektiert zwar Burhams Leistungen, hält sie aber für unerfahren, um schwierige Missionen und politische Erfordernisse unter einen Hut zu bringen. Michael Burnham (Sonequa Martin-Green) ist mittlerweile Captain auf der „Discovery“ und kommt mit dieser Einschätzung überhaupt nicht klar. Die Beziehung der beiden Frauen wird aber noch für einige Überraschungen sorgen.

Überhaupt Beziehungen: In 4x2 „Anomaly“ schickt Burham Paul Stamets und „Book“ auf eine gemeinsame Mission. Beide können sich nicht riechen und man muss kein Hellseher sein, um zu ahnen, dass sich dies ändern wird.

Eine ähnliche Mischung aus horizontalen und vertikalen Erzählelementen wurde bereits in der ersten Hälfte der 3. Staffel angedeutet, in der neuen Story Arc aber konsequenter umgesetzt. Auf diese Weise konnte man etwas über vertraute Figuren erzählen, die man ein wenig aus dem Auge verloren hatte. Interessant: das Vertikale
profilierte sich deutlich besser hat als der Main Plot. Die „Nebengeschichten“ waren überwiegend spannend und boten einige Überraschungen, während der Main Plot nicht von der Stelle kam.

Das lag natürlich am Thema. Zunächst wurde die Anomalie als astrophysikalisches Phänomen wahrgenommen, erst später verdichteten sich der Verdacht, dass das interstellare Monster das Konstrukt einer fremden Alien-Rasse ist, die provisorisch „Spezies 10C“ genannt wird.
In beiden Fällen gibt es wenig zu erzählen, zumal die Suche nach der Anomalie im Sand verlief. Deshalb ist in 4x3 „Choose to Live“ die Debatte Paul Stamets mit qualifizierten Vulkaniern belanglos, zumal die Wissenschaftler nur herausfinden, dass sich Stamets geirrt hat. So what.

Auch in dieser Episode ist der Subplot interessanter als die gefährliche Anomalie. So taucht Burhams Mutter auf, die sich dem Orden der Qowat-Milat angeschlossen hat. Und prompt wird in bester Star Trek-Tradition ein ethisches Problem verhandelt. Ausgerechnet ein abtrünniges Mitglied der Qowat-Milat hat einen Sternenflottenoffizier getötet, allerdings aus altruistischen Gründen. Was ist zu tun? Burnham will Vergeltung, muss aber erneut lernen, dass ihr intuitives Rechtsverständnis am taktischen Kalkül der Politiker zerschellt.

4x4 „All Is Possible“ koppelt sich dagegen vollständig vom Main Plot ab. Die Standalone-Geschichte dreht sich um Sylvia Tilly (Mary Wiseman), die nach dem Zeitsprung der „Discovery“ ein Problem damit hat, in der neuen Welt ihren Platz zu finden. Sie begibt sich auf eine Übungsmission mit jungen Sternenflottenakademie-Kadetten, nur um auf dem Trainingsplaneten mit einem Haufen Monstern konfrontiert zu werden. Der Überlebenskampf scheint aussichtslos zu sein. 

„All Is Possible“ ist eine eher durchschnittliche Story, in der es um die Star Trek-typischen Botschaften geht: Wie findet eine heterogene Gruppe zusammen und wie kann Teamgeist entstehen? Tatsächlich aber hat die Episode eine andere Funktion, denn Tilly bekommt am Ende ein Angebot: Dr. Kovich (David Cronenberg) bietet ihr eine Position an der Akademie an (mehr dazu in den Trivia).

4x5 „The Examples“ ist eine weitere Standalone-Geschichte, in der Burnham und Book eine Kolonie von einem Planeten evakuieren sollen, die offenbar das nächste Ziel der Anomalie ist. Ihre Strafgefangenen wollen die Kolonisten allerdings zurücklassen, was bei Burnham natürlich auf Widerstand stößt. Zwar können die meisten Häftlinge gerettet werden, aber in der Beziehung zwischen Burnham und Book werden erste Risse erkennbar.

Natürlich sind dies nicht gerade innovative Erzählmuster, aber im Gegensatz zu den vorherigen Staffeln wird durch die abgeschlossenen Geschichten die Komplexität der neuen Staffel abgesenkt. Alles wird überschaubarer. So kennt man „Star Trek“ und konservative Trekkies werden sich freuen. Der Autor dieser Kritik gehört dazu.

Das Finale ist grandios: Star at its best

Nach den ersten fünf Episoden konnte man sich trotz kleinerer Schwächen über einen gelungenen Reboot der Serie freuen. Die beiden letzten Episoden toppten dann aber alles. 
In 4x6 „Stormy Weather“ sollen Captain Burnham und ihre Crew einen Riss im Subraum untersuchen, den die DMA erzeugt hat. Natürlich fliegt die „Discovery“ hinein und natürlich geht die Unternehmung schief, denn das Schiff befindet sich plötzlich mitten im Nichts. Und dieses Nichts wird immer kleiner, es frisst wie ein Schwarzes Loch alles auf – und die Flucht mit dem Sporenantrieb scheitert kläglich. 

Neu ist auch das nichts. In anderen ST-Serien verschwand man schon mal in Anomalien oder wurde von unbekannten Mächten festgehalten. „Stormy Weather erinnert deshalb an „Voyager“ 7x15 „The Void“ (Die Leere), aber auch an 1x13 „Die Zeitfalle“ in „Star Trek: The Animated Series“.
Spannend wird der Kampf gegen die Leere durch eine „Verhaltensauffälligkeit“ des Schiffscomputer Zora (gesprochen von Annabelle Wallis): die KI scheint Emotionen entwickelt zu haben, fühlt sich von diesem evolutionären Schritt aber überfordert. Der Trill-Symbiont Gray Tal kann sich zum Glück in das digitale Bewusstsein der KI hineinversetzen – schließlich hat er gerade kurz zuvor seine Körperlosigkeit beenden können. Das verbindet. Gray schafft es, die Konzentrationsfähigkeit der KI einigermaßen wiederherzustellen, die Besatzung wird bis auf Michael Burham in den Musterpuffer des Teleporters geladen und die Flucht aus der Leere gelingt mithilfe eines simplen Ping-Signals. Und während die „Discovery“ fast von der Strahlungshitze gegrillt wird, singt Zora ein Liedchen, um Burhams Nerven zu beruhigen…

Insgesamt ist „Stormy Weather“ (Regie: Jonathan Frakes, bekannt als Commander William Riker in TNG) eine perfekt durchkomponierte Episode. Geschrieben wurde sie von Anne Cofell Saunders und Brandon Schultz. Saunders arbeitete als Autorin und Produzentin, unter anderem für „Battlestar Galactica“, wo sie für die Episode „Pegasus“ den George Foster Peabody-Award gewann. Brandon Schultz gehört zur Additional Crew der Produktion und war in verschiedenen Funktionen an der Drehbuchentwicklung von bislang 13 STD-Episoden beteiligt.

In der letzten Episode 4x7 „…But to Connect” gelang es den Autoren Terri Hughes Burton Carlos Cisco das Niveau ihrer Kollegen zu halten und zwei komplexe Plot-Linien geschickt auszubalancieren. Zum einen sollen die Repräsentanten der Föderationsmitglieder über eine Grundsatzfrage abstimmen. Soll man versuchen, auf friedliche Weise mit der Spezies 10C Kontakt aufzunehmen oder soll eine hocheffektive, aber ebenso unkalkulierbare Waffe gegen die Anomalie und ihre Schöpfer eingesetzt werden? 

Zum anderen findet auf der „Discovery“ gleichzeitig eine finessenreiche, aber möglicherweise folgenschwere Debatte zwischen Paul Stamets (Anthony Rapp) und der KI statt. Zora hat zwar den Ursprungsort der Anomalie ausfindig gemacht, weigert sich aber, die Daten herauszurücken. Zu sehr sorgt sich die empathische KI um die Crew, falls diese sich an den gefährlichen Ort begeben sollte.
Beide Szenen werden in schnellem Rhythmus parallel montiert.  Das ist stimmig, denn es geht um ethische Probleme, die im Star Trek-Universum sattsam bekannt sind.
Agiert man friedvoll-abwartend oder mit einem militärischen Gegenschlag? Ist eine Künstliche Intelligenz nur ein superschlaues Programm oder eine neue Lebensform?

Während Michael Burham für einen friedlichen Erstkontakt mit der fremden Spezies plädiert und damit die Roddenberry-Philosophie verkörpert, hält ihr Lover „Book“ ein flammendes Plädoyer für den Weg der Rache. Obwohl Books populistische Rede die Versammlung zunächst zu überzeugen scheint, kann sich Burham mit einer Gegenrede durchsetzen.
 Zeitgleich wehrt sich Stamets gegen die Vorstellung, mit einer vermeintlich unberechenbaren emotionalen KI zusammenzuarbeiten, obwohl diese ihre bedingungslose Loyalität gegenüber der Discovery-Crew beteuert.

In „…But to Connect” werden also die besten Star Trek-Eigenschaften lebendig. Und auf den Prüfstand gestellt. Die Debatte im großen Auditorium hat allegorische Qualitäten, zu brillanter Höchstform läuft die Story aber durch den rhetorischen Kampf zwischen Mensch und Maschine auf. Die ist aber keine Maschine und will es auch nicht mehr sein.

Dies erinnert an 2x9 „The Measure of a Man“ (Wem gehört Data?) in „The Next Generation”. Dort ging es die Frage, ob Data zu Forschungszwecken von dem Starfleet-Wissenschaftler Maddox demontiert werden darf oder ob der Android eine autonome Lebensform mit allen Rechten ist: Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichstellung.
„…But to Connect” ist aber keine Neuauflage dieser mittlerweile berühmten Episode. Der Unterschied: die Debatte an Bord der
„Discovery“ wird nicht rational geführt. 
Während in „Wem gehört Data?“ die Maddox-Kriterien „Intelligenz“, „Selbstwahrnehmung“ (engl. Self-awareness) und „Bewusstsein“ (engl. Consciousness) von Data erfüllt werden müssen, entscheiden in „…But to Connect” andere Kriterien. Nicht nur Sumets, sondern auch Gray, Adira und Dr. Kovich (gespielt von „Body Horror“-Regisseur David Cronenberg, dessen Aktivitäten als Schauspieler genauso umfangreich ist wie die Anzahl seiner Filme) haben nicht die geringsten Zweifel daran, dass Zora ein „empfindungsfähiges Wesen“ ist, aber Sumets fürchtet sich vor dem menschlichen Kontrollverlust. Was passiert, wenn eine KI mit Gefühlen plötzlich schlechte Laune hat?
Terri Hughes Burton (Co-Executive Producer in STD und Autor von 4x3 “Choose to Live”) und Carlos Cisco fanden eine intelligente und witzige Lösung des Problems. Nachdem Adira im Quellcode der KI eine unbekannte Region entdeckt, wird klar, dass es sich um das Unbewusste der KI handelt, das in Bildern codiert ist. Es sind Bilder der Liebe, der Loyalität, der Freundschaft – und sie drücken Zoras Bedürfnis aus, ein fühlendes Mitglied der Crew zu werden. Da empfindungsfähige Computer in der Starfleet unerwünscht sind, bedarf es allerdings eines kleinen Tricks, um diese Hürde zu nehmen.

„…But to Connect” ist vermutlich die beste Episode aller STD-Staffeln. Die inhaltlichen Ansprüche sind hoch, sie konnten erfüllt werden. So gut, dass der Cliffhanger der ersten Staffelhälfte geradezu verpufft, ohne großen Eindruck zu hinterlassen. Aber „Stormy Weather“ und „…But to Connect” zeigen auf programmatische Weise den Kurs, den „Star Trek: Discovery“ eingeschlagen hat. Es geht um Emotionen. Um die Verortung der Figuren und ihrer Beziehungen. Es menschelt also kräftig in der neuen Staffel.

Leider wird das neue Feeling nicht perfekt abgestimmt. Zu den wenigen Schwachpunkten der 4. Staffel gehören ausgerechnet die Dialoge, die zu aufdringlich die gefühlsbeladenen Botschaften der sieben Episoden vermitteln wollen. Einiges ist schlichtweg trivial und man freut sich bereits, wenn Tig Notaro als einsilbiges und sarkastisches Crew-Mitglied Jett Reno einen ihrer leider seltenen Auftritte hat.
Auch David Cronenberg mit ausdrucksloser Mimik und einer spock-ähnlichen Coolness sorgt als leitender Mitarbeiter der Starfleet-Akademie für die nötigen Kontrapunkte. Aber manchmal fragt man sich schon ein wenig irritiert, warum in aller Welt Zwischenmenschliches bei gleichzeitig süßlich aufwallender musikalischer Begleitung diskutiert werden muss, während die „Discovery“ fünf Minuten vor ihrer Zerstörung steht.

Warum schauen wir „Star Trek“?

Summa summarum ist die neue Staffel von „Star Trek: Discovery“ eine Wellness-Oase – auf jeden Fall für ältere Semester. Ob die Trekkies den Daumen senken oder nicht, bleibt abzuwarten. Die Rolle, die der Kanon bei den Fans spielt, ist zweifellos wichtig, aber eine Verklärung der klassischen Serien ist Schönfärberei. Nicht alles war Gold, was da glänzte. Aber man erinnert sich lieber an die Highslights. Und nicht vergessen: Es wurde auch früher schon aufgeregt diskutiert, nur gab es damals kein Internet und damit keine Social Media als Durchlauferhitzer. „Star Trek“ wurde trotzdem einer der wichtigsten Bausteine der populären Unterhaltungskultur. Warum das so ist, das ist allerdings nicht so einfach zu erklären.

Subjektiv betrachtet gelingt es Serien im günstigsten Fall bleibende Bindungskräfte zu erzeugen. Man gewöhnt sich an die Figuren, aber nur, wenn die Geschichten gut sind und man herausfinden will, was aus den Figuren wird.
 Mathias Wierth hat zwei Phänomene dieses Rezeptionsverhalten auf den Punkt gebracht: „Das ist zum einen die Tatsache, dass es sich um eine quasi-reale Erfahrungssituation handelt, in der der Zuschauer involviert eintaucht und zum zweiten, dass in dieser Situation eine emotionale Teilnahme entsteht, in der parasoziale Bindungen aufgebaut werden.“

Beide Begriffe meinen ein Verhalten, dass das Gesehene aus der als-ob-Perspektive wahrnimmt. Ereignisse und  Figuren werden als real erlebt. Aber dieses Phänomen, so wie es Wierth beschreibt, ist eher in der Medienpsychologie zu Hause. Gemeint ist eine Interaktion mit virtuellen Akteuren, etwa einem Avatar.

Dass die parasozialen Bindungen durch eine empathische Reaktion auf bestimmte Figuren entstehen, ist nur auf den ersten Blick trivial. Fiktionen sind in der Regel noch etwas komplizierter als sie Wierth beschrieb. So muss beispielsweise untersucht werden, warum die Bindungskräfte auch ihre Wirkung nicht einbüßen, wenn man sich eine Serie zum x-ten Mal anschaut. Schließlich weiß man ja, wie die Geschichte ausgeht. Es wird wohl eher eine medienspezifische Form von Empathie geben, die mit Figuren so umgeht wie mit guten Freunden: auch wenn diese immer wieder die gleichen Witze erzählen, lacht man ihnen über die Pointe.

Objektive Gründe für die Bindung an eine Serie gibt es auch. Besonders bei „Star Trek“. Einen Grund möchte ich besonders hervorheben. Es ist der Wertekanon von Gene Roddenberry, der auf fast naive Weise darauf bestand, dass „Star Trek“ von einer Zukunft erzählt, in der Armut, Krankheiten und vor allen Dingen Geld keine Rolle mehr spielen, in der Rassismus und Egoismus überwunden sind und in der nicht nur die Menschen, sondern auch die Mitglieder der Föderation einem ethischen Codex folgen oder zumindest ehrlich bemüht sind, sich an die selbst definierten Regeln zu halten. „Star Trek“ war daher immer eine Utopie, keine Dystopie.

Naiv im Sinne von dümmlich ist dieser Kanon aber nicht. Und zwar weil viele ahnen, dass ihre eigene Wirklichkeit weit davon entfernt ist, was uns
„Star Trek“ zeigt. Aber man trifft eine Vereinbarung mit sich selbst: wenigstens für eine kurze Zeitspanne möchte man glauben, dass dies alles wahr sein könnte.
So gesehen ist „Star Trek“ ein soziales und psychologisches Sedativum, dem man sich in schlechten Zeiten gerne hingibt. Vielleicht ist „Star Trek“ eine Wunderdroge, die es uns ermöglicht, der ernüchternde Wirklichkeit wenigstens zeitweilig die Rote Karte zu zeigen. Gegen diesen Eskapismus ist nur wenig einzuwenden. Erst recht nicht von mir.

Aber natürlich ist „Star Trek“ nicht nur Eskapismus. Im Gegenteil. Das ahnt man, wenn man zum x-ten Mal eine alte Staffel aus dem Regal holt und dabei entdeckt, dass die scheinbar angestaubten Geschichten hellseherische Qualitäten besaßen und Probleme verhandelt wurden, die damals Science Fiction waren, heute aber unsere Realität sind. Und damit sind nicht die technischen Gimmicks gemeint. Abschließend möchte ich daher zwei Deutungsangebote machen, die eine mögliche Antworten auf die Frage
Warum schauen wir Star Trek?“ sind.

Was „Star Trek“ aber essentiell bedeutet, hat der Dozent Dr. Josef König 1997 in seinem Aufsatz „Star Trek und die Ethik“ auf den Punkt gebracht: „Star Trek unterscheidet sich von anderer Science-Fiction durch die Konzentrierung der Handlung auf dramatische Konflikte. Der Plot der Einzelepisoden basiert häufig auf klassischen Motiven, die archetypische menschliche Konflikte widerspiegeln. Besonders die Figur des Captain Picard steht für intensive ethische Reflexion. Das Wertesystem, auf das er seine Entscheidungen gründet, lässt sich zurückverfolgen auf die Philosophie der Aufklärung und die kantsche Ethik. Wenn Captain Picard eine Entscheidung - oft zu aktuellen Themen wie Gentechnologie, Drogen, Abtreibung etc. - trifft, legt er stets ihre ethischen Grundlagen dar. In der „Sechs-Stufen-Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils" des amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg steht Picard damit auf der höchsten Stufe: Für ihn gelten ausschließlich universelle ethische Prinzipien, selbst demokratische Verfahren garantieren keine Gerechtigkeit (…) Die Ethik orientiert sich an der Tradition der großen geistesgeschichtlichen Strömungen der Renaissance und vor allem der Aufklärung. Die Individualität der Bürger der Föderation steht in keinem Widerspruch zur Unterordnung der persönlichen Interessen unter das Gemeinwohl. Damit knüpft die Verfassung der Föderation direkt an Immanuel Kants philosophischen Entwurf „Zum ewigen Frieden" (1795) an. Es ist die Vernunft, die diesen Grundsatz hervorgebracht hat.“

Björn Sülter, der das empfehlenswerte Buch „Es lebe Star Trek“ verfasst hat, erteilt dagegen ganz pragmatisch einem Fan das Wort: „Star Trek hat mich geprägt wie kaum etwas zuvor. Die Idee, dass alle Menschen gleich behandelt werden, dass es keinen Krieg und keinen Hunger mehr gibt, dass das Anhäufen von Vermögen nicht mehr die treibende Kraft ist, dass verschiedenste aktuelle Themen rund um das Thema Politik und Mensch so direkt angesprochen werden, hat mir gezeigt, dass es sich lohnt, stets positiv und optimistisch in die Zukunft zu blicken. Geprägt hat es mich speziell in meiner Art, stets das Gute im Menschen zu sehen, Konflikte diplomatisch nach Jean-Luc-Manier anzusprechen und logisch und vernünftig wie Mr. Spock und Data zu argumentieren, um Verbesserungen in den verschiedensten Bereichen zu erreichen. Ich würde sagen, Star Trek hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin: ein Idealist, der hilfsbereit ist, der (das) Verständnis für die Sorgen und Ängste anderer hat und außerdem ein Optimist, der sich nicht durch Negativität beeinflussen lässt und stets das Gute im Blick hat.“

Und Sülter? „Star Trek: Discovery ist in dieser Hinsicht die menschlichste Serie aus dem Trek-Kosmos und lässt die vielfältigen Emotionen jederzeit zu. Allein dafür gebührt den Machern und der Serie Respekt.“ D'accord!

Trivia

CBS hat übernommen: Große Aufregung gab es, als die Serie bei NETFLIX komplett aus dem Regal verschwand. Die von den CBS Studios produzierte Serie läuft bei Paramount+ und Pluto TV, beide Ableger des Mutterkonzerns. In Deutschland hat AMAZON PRIME VIDEO eine Lizenz gebucht. Der Staffelpreis ist moderat. Legt man ihn auf die ersten 7 Episoden um, so zahlt man etwas mehr als € 2,- pro Folge. Das dämpft die Aufregung.

Offenbar nicht bei allen, denn es gab auch heftige Verrisse. Zum Beispiel auf Heise.de. Ich lasse den Namen des Autors ungenannt und zitiere nur einige Perlen:

  • „Leider kann der optische Bombast wie schon in früheren Staffeln nicht darüber hinwegprotzen, dass die Drehbuchautoren eher Kreisklasse sind.“
  • „Bei Discovery dagegen sind alle komplett gaga. Was in einer Sitcom funktionieren mag, ergibt aber noch lange keine glaubhafte Sternenflotten-Crew.“
  • „Man hat durchgehend das Gefühl, dass der Writers' Room von Star Trek: Discovery das Herz am rechten Fleck hat. Es mangelt aber anscheinend am grundlegenden Verständnis daran, wie man eine gute Geschichte oder auch nur annähernd glaubhafte Dialoge schreibt.“
  • „Der Autor dieser Rezension würde sich für weitere kostenlose Folgen Discovery nicht mal freitags um neun vor seinen Rechner setzen. Dafür ist ihm seine Zeit zu schade.“
  • Fazit: „Die vierte Staffel muss man sich nicht antun.“


Creator und Executive Producer der 4. Season ist weiterhin Alex Kurtzman, der mit CBS eine lukrative Vertragsverlängerung bis 2026 abgeschlossen hat. Nur am Rande: so viel verdient nicht mal Robert Lewandowski. Kurtzman ist auch verantwortlich für die neuen Franchise-Projekte. Es werden weitere Serien (darunter auch die Animationsserie „Star Trek: Lower Decks) auf den Markt geworfen, um à la Marvel ein eigenes Serienuniversum zu erschaffen.

  • „Star Trek: Strange New Worlds“ soll die Geschichte Captain Christopher Pike weiterzählen.
  • In „Star Trek: Starfleet Academy“ wird – nomen est omen – das berühmte Ausbildungszentrum für Raumfahrt-Kadetten im Zentrum stehen. Die passende Hauptdarstellerin könnte die von Mary Wiseman gespielte Tilly werden, die prompt aus der neuen STD-Staffel herausgeschrieben wurde.
  • Auch Michelle Yeoh soll als ehemalige Herrscherin des Spiegeluniversums in „Star Trek: Sektion 31“ eine eigene Show bekommen. Die Fans wird’s freuen, denn die supergeheime Geheimdienstunterabteilung der Föderation geistert seit Jahrzehnten im Star-Trek-Universum herum. Und das nicht immer vertrauenerweckend. Allerdings ist das Projekt momentan auf Eis gelegt worden.
  • Mit „Star Trek: Prodigy“ ging 2021 eine Serie für Kinder an den Start. Sie wird auch 2022 fortgesetzt, inklusive einer Rückkehr von Captain Janeway.
  • 2022 wird mit Staffel 2 auch „Picard“ weitererzählt, die dritte Staffel mit Patrick Stewart ist bereits fest eingeplant.


Wenn man sich die Zeitlinien der neuen Serien anschaut, braucht man also einen „Reiseführer durch die Galaxis“, um nicht den Überblick über die Starfleet-Geschichten zwischen den Jahren 2260 bis 2400 zu verlieren.

Quellen:

  • Wierth, Mathias (2015): Serien im TV und non-linear. Erfolg durch Bindung.
  • Sülter, Björn. Es lebe Star Trek - Ein Phänomen, Zwei Leben: Franchise-Sachbuch, präsentiert von SYFY (German Edition). In Farbe und Bunt Verlag. Kindle-Version.
  • König, Josef: Star Trek und die Ethik (1997).