Freitag, 12. August 2022

Doctor Strange in the Multiverse of Madness - Größenwahn oder neue Erzählform?

Es scheint so, als würde das Marvel Cinematic Universe (MCU) auf die Selbstauslöschung zusteuern. Alles muss noch gigantischer werden, visuelle Opulenz wird wichtiger als ein Plot mit echten Charakteren, crossmediale Strategien sollen den Zuschauer enger an die MARVEL-Welt binden. Wird das Ganze dann noch mit Hybris kombiniert, ist der krachende Absturz nicht fern.
Zerschmettert wird diese Hypothese allerdings von den nackten Zahlen: Fast 1 Milliarde US-Dollar hat
Doctor Strange in the Multiverse of Madness" bislang an den Kassen eingespielt. Da kann doch nichts falsch gemacht worden sein, oder?

Multiple Identitäten, Träume und die Moral der Ökonomie

Doch. Und ganz ehrlich: eine biedere Handlungszusammenfassung kann man sich ersparen. Denn der Film ist nach „Doctor Strange“ (2016) nicht etwa der zweite Solo-Film für Benedict Cumberbatch als Magier, sondern das Ergebnis einer konzeptionellen Entscheidung, die zusammen mit „Spider-Man: No Way Home“ aus dem Marvel Cinematic Universe ein Marvel Cinematic Multiverse machen soll. Es geht um das Sprengen etablierter Erzählformen: Anything goes!
Und so funktioniert der Film wie eine Oper, in der kenntnislose Musikfreunde desorientiert nach dem Kontext suchen. Newbies kennen die Texte der Sänger und Sängerinnen nicht, vielleicht nicht einmal die Geschichte, die erzählt wird. Aber sie lieben die Musik und die tollen Kulissen.
Deshalb gibt es (wieder einmal) in dem neuen Marvel-Blockbuster keinen ruhigen Handlungsaufbau. Nein, man wird gleich in die tollen Kulissen geschmissen, auch wenn man Zerstörungsorgien nicht mehr für sonderlich innovativ hält. Egal, „Madness“ hat wie alle Marvel-Filme natürlich opulente Augenbetäubung zu bieten. Da fliehen gleich zu Beginn ein Mann (Benedict Cumberbatch), der so aussieht wie Doctor Strange, und eine junge Frau durch ein völlig durchgeknalltes bonbon-farbiges Panoptikum des Schreckens, verfolgt von bizarren Monstern. Und die kann selbst der mächtige Zauberer nicht bannen und so beginnt er, die magischen Kräfte seiner Begleiterin aufzusaugen. Es täte ihm leid, dies tun zu müssen, aber das große Ganze verlange nach diesem Opfer. 

Schnitt. „Unser“ Doctor Strange (Benedict Cumberbatch) wacht in seinem Bett auf, schnellt hoch und hatte offenbar einen sehr hässlichen Alptraum.

Wir werden in den nächsten zwei Stunden zwei Dinge lernen: 1. bei den Alpträumen hat sich Dr. S. Freud geirrt, und 2. gibt es „unseren“ Doctor Strange anscheinend nicht mehr. Denn Träume sind in
„Madness“ keine Kopfgeburten, sondern Direktverbindungen zu alternativen Ichs, die in den unzähligen Parallelwelten eines Multiversums leben. Auf diese Weise bekommt Doctor Strange quasi per Live-Schalte mit, was ein anderer Doctor Strange gerade so treibt. In seinem Traum heißt sein Alter Ego „Defender Strange“ und moralische Skrupel kennt diese Variante von Doctor Strange nicht. 

Und wir werden lernen, dass man durch die böse Magie des „Traumwandelns“ einfach in die Körper eines alternativen Ichs schlüpfen kann, um es vollständig dem eigenen Willen zu unterwerfen. Daher haben wir es in „Madness“ nicht nur mit alternativen Ichs zu tun, sondern wissen nicht immer, ob nicht sogar ein ganz anderes Ich in ihnen steckt. Dass man den Film mehrere Male sehen muss, um da durchzublicken, ist gewollt. Verstehen ist dabei ein Problem geworden. Komplexität wird wohl in Phase 4 des MCU das neue Credo.

Einen Plot gibt es auch. Denn die junge Frau, die plötzlich auftaucht und den toten „Defender Strange“ mitgebracht hat, ist die einzige Person im Multiversum, die einzigartig ist. America (!) Chavez (Xochetl Gomez) kann dank ihrer Kräfte, die sie allerdings nicht kontrollieren kann, Portale zu anderen Universen öffnen. Auf diese Weise landet sie in der Welt „unseres“ Doctor Strange, der sie zunächst vor dem glubsch- und einäugigen und krakenähnlichen Monster Gargantos retten muss. Das sieht fast genauso aus wie das Trashmonster in Frank Arnolds
„It came from Outer Space“ (1953). Auch die anderen Monster in „Madness“ erinnern an die damals angsteinflößenden Kreaturen aus den Sci-Fi-Monsterfilmen der 1950er-Jahre oder sehen aus wie die Enkel von H.P. Lovercrafts "Cthulhu" – nur werden sie mittlerweile tricktechnisch perfekter realisiert als in Arnolds Film.

Gargantos wurde Chavez von Wanda Maximoff aka „Scarlet Witch“ (Elisabeth Olsen) auf den Hals gehetzt. Denn Wanda, die nach der Lektüre eines richtig bösen magischen Buches, dem Darkhold, zu einer allmächtigen und richtig bösen Hexe geworden ist, will die Superkräfte von Chavez besitzen, um grenzenlos durch das Multiversum reisen zu können. Natürlich will sie by the way auch das Multiversum unter ihre Kontrolle bringen.
Es ist der Anfang einer Reise, in der Doctor Strange beim Versuch, das Multiversum zu retten, einige seiner alternativen Ichs kennenlernt, manche in einem erbärmlichen Zustand, andere recht böse, weil sie auch in dem bösen Buch gelesen haben. Es ist der Beginn einer rauschhaften Bilderorgie, die faszinierend anzuschauen ist, aber geschickt zukleistert, dass die Geschichte ziemlich trivial ist und ganz offenherzig der familienfreundlichen Agenda des Disney-Konzerns folgt. Die Bösen wären nicht böse, hätten sie doch nur eine richtige Familie!

Das kann man verstehen. Dennoch fühlt man sich wie besagter Opernfreund, der nach Kontext sucht, aber leider die Zusammenhänge nicht kennt. Erstaunlich. In einem Blockbuster sollte man sich nicht verirren müssen. Sie sind Entertainment, aber auch Produkte, mit denen Geld verdient werden muss. Eins gehört zum anderen und schlimm ist das nicht. Und Entertainment ist nicht per se unintelligent. 

Wer das trotzdem glaubt und Comics und deren Verfilmungen für ekelhaft hält, sollte sich auf die Suche nach der längst verschwundenen Filmkunst begeben und sich den über 60 Jahre alten Film „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais anschauen (den gibt’s sogar bei Amazon Prime, was einigermaßen überrascht). 
Während der Pressevorstellung tobten und brüllten die Zuschauer vor Wut. Sie hatten etwas Unterhaltsames erwartet. Resnais‘ Avantgardefilm war aber ohne Gebrauchsanweisung völlig unverständlich. Ein Manual gab es aber nicht. Der Regisseur stritt sich sogar mit seinem Autor über die Deutung, beide hatten gegenteilige Auffassungen. 

Er wolle „den menschlichen Glauben an die Realität unserer Welt zu erschüttern“, erklärte Resnais. Jahrzehnte später versuchten das auch die Wachowskis, verpackten aber alles massenkompatibel. Und so haben Resnais’ Film, „Matrix“ und „Madness“ etwas gemeinsam: „Zu keinem Zeitpunkt des Films kann sich der Zuschauer sicher sein, ob das, was er gerade auf der Leinwand sieht, Gegenwart oder Erinnerung ist, Traum oder Wachtraum“, schrieb der SPIEGEL 1961 über „Letztes Jahr in Marienbad“.
Manchmal ist der Weg von Avantgarde und Filmkunst zum Blockbuster eben doch ein kurzer. Und so möge man mir diesen kleinen Schlenker in die Filmgeschichte verzeihen.

Im Falle von „Madness“ hat die Sache mit dem Verstehen aber einen ökonomischen Haken. Um zu verstehen, wieso aus dem loyalen Avengers-Mitglied Wanda Maximoff die böse „Scarlet Witch“ geworden ist, muss man nämlich die von den Kritikern hochgelobte Disney+-Serie „WandaVision“ (2021) gesehen haben.
Und schon sind wir beim Crossmedia-Storytelling. Es soll Streaming und Kinofilme so verschweißen, dass sie als diversifizierte Produktangebote vermarktet werden können, gleichzeitig aber vernetzt sind und einer medienübergreifenden Dramaturgie folgen.
Das deutete
bereits die Serie „Agents of S.H.I.E.L.D“ an – „WandaVision“ trieb als Start in die Phase 4 des MCU das Crossmedia-Storytelling noch rigoroser voran und es scheint wahrscheinlich zu sein, dass wir das Ende der Fahnenstange noch nicht gesehen haben. Wer also ein Marvel-Produkt kauft, muss auch alle anderen kaufen. Sonst versteht er Bahnhof. Angedeutet hatte sich das schon früher, nun wird es Programm. Und das wird teuer für den Konsumenten.

Fiktionen – frisch zerlegt und wieder zusammengesetzt

Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen für die Parameter des Geschichtenerzählens. Sie ändern sich radikal. Tröstend: „Madness“ hilft ein wenig beim Anpassungsprozess. Denn in der filmischen Fiktion der Parallelwelten gibt es Menschen, die mit wissenschaftlicher Methodik das Multiversum untersuchen und – endlich - für einen gewissen Überblick sorgen.
Wie zu erwarten ist, führt das zu Klassifizierungen. Und da trägt „unsere“ Universum die Nr. 616. Eines unter vielen also. Zudem existieren Mulitversum ausnahmslos Spiegeluniversen, was man schon nach „Spider-Man: No Way Home“ wissen konnte. Dort bekam Peter Parker aber nur eine leicht dosierte Variante des Multiversums zu sehen. 

In Sam Raimis wird alles dagegen richtig schlimm. Der Regisseur der Spider-Man-Trilogie (2002-2007) macht aus „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ ab und an einen Horrorfilm (aber einen handzahmen) und verschafft dabei sogar seiner Lieblingsfigur Ash (Bruce Campbell) in einer klitzekleinen sado-gepeinigten Nebenrolle einen denkwürdigen Auftritt. Also „The Evil Dead“ meets MCU.

Denkwürdig deshalb, weil Campbells Rolle zeigt, worum es dem Team um Kevin Feige tatsächlich geht: um die völlige Dekonstruktion des fiktionalen Erzählens.
In der Diegese des neuen Marvel-Films gibt es Verknüpfungen zu Filmen, die mit dem MCU nichts zu tun haben, aber auch Zusammenführungen von Comicfiguren aus dem Marvel-Kosmos. Zum Beispiel die X-Men. Und das hatte man sich bislang nicht getraut. Nun aber finden sich im Drehbuch von Michael Waldron (Executive Producer und Autor von 6 Episoden der Marvel-Serie „Loki“) einige bizarre Szenen, die in besseren Zeiten noch für einen Shitstorm gesorgt hätten.

Eine Szene macht fassungslos: Als Doctor Strange und Chavez von Stranges Erzfeind Karl Mordo (Chiwetel Eijofor) in der Universum Nr. 838 entführt wird, landet Strange von einem Tribunal aus Superhelden: Black Bolt (Anson Mount), der Anführer der Inhumans, der mit dem Quasi-Sonic-Stream seiner Stimme, ganze Planeten vernichten kann; Mister Fantastic (John Krasinski) von der „Fantastischen Vier“, der intelligenteste Mann der Welt; eine farbige Captain Marvel (Lashana Lynch), deren Macht unbegrenzt scheint und Captain Carter aka Peggy Carter (Hayley Atwell). 
Sie gehören zu den Illuminati, die Strange zum Tode verurteilen wollen, weil er das Darkhold missbraucht hat. Allerdings haben sie den falschen Doctor entführt. Nur Professor Xavier (Patrick Stewart), der Anführer der Illuminati, will Strange eine letzte Chance geben.

Aber diese von einigen Fans lang erwartete Zusammenführung ist nur Staffage, denn als „Scarlet Witch“ auftaucht, killt sie nach kurzem Widerstand und mit leichter Hand die scheinbar unbezwingbaren Superhelden. Professor Xavier wird ganz einfach das Genick gebrochen.
Im Bonus-Material erklären die Macher grinsend diesen Fan-Service: die Fans hätten sich das schon immer gewünscht, nur bekommen sie es, aber nicht so wie erhofft: „Wir haben sie alle getötet!“
Sorry, aber das ist nicht nur schlechter Humor, sondern auch größenwahnsinnig.
Aber es ist nicht sinnfrei. Die Botschaft ist simpel: Hört, wie können alles erzählen, was uns einfällt. Wir können je nach Laune jeden Superheld töten – es sind ja nur Exemplare aus einem alternativen Universum. Es gibt weder Gesetze noch Grenzen. Wir können Universen zertrümmern und aus ihrer Asche wieder auferstehen lassen. Naturgesetze spielen keine Rolle mehr. Wir kappen alle Verbindungen zur Realität (also der Erde 1, in der wir Zuschauer leben) und versiegeln das MCU so hermetisch, dass die Welt jenseits der Kinoleinwand ausgelöscht wird.

Wie Star Trek-Fans wissen, geht alles zu Bruch, wenn man den Kanon nicht beachtet. Und ähnlich wie ein Kanon folgt auch das Worldbuilding in einem Serien- und Filmkosmos einer inhärenten Logik. Sicht- und überprüfbar wird sie zum Beispiel durch die Kontinuität beim Erzählen, die psychologisch motivierte Entwicklung der Figuren und die Teilhabe des Zuschauers an dieser Continuity.
Wenn aber Spider-Man aus dem Universum Nr. 12 den hammerschwingenden Thor aus Universum Nr. 388 tötet, dann ist im nächsten Film alles vergessen - und man kann im Prinzip machen, was man will. 
Im Star Trek-Kosmos hat man etwas Ähnliches mit einer alternativen Zeitlinie versucht. Das MUM (Marvel Cinematic Multiverse) hat nun noch mehr Beinfreiheit. Das alles könnte auch bedeuten, dass dieser bedingungslose Eskapismus irgendwann einmal Mark Zuckerbergs geplantes „Metaverse“ übertrumpfen wird. Dann haben wir Brain-Computer-Interfaces und werden von Disney endgültig von der Ödnis des realen Lebens befreien. Und vermutlich werden wir uns das passende Universum auch selbst aussuchen dürfen. Nur wird in allen der Gaspreis gleich hoch sein.

Simple Klischees und noch seichtere Dialoge

„Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ wird also seinem Titel gerecht. Es ist tatsächlich „Madness“, die am Zuschauer vorbeirauscht, abgeschmeckt mit Hybris und einer gewissen Ignoranz gegenüber den Figuren. Aber alles mit einem nüchternen ökonomischen Kalkül, das aufzugehen scheint.
Dabei ist nicht alles schlecht in „Madness“. Durchgeknallt, aber hübsch anzusehen ist es zum Beispiel, wenn Strange und Chavez in einem irren Höllentempo durch ein Dutzend Universen rasen. Eins besteht nur aus Farbkleksen, ein anderes ist animiert wie ein Comic. Für ein paar Filmsekunden wurde hier sicher eine Menge Geld verpulvert. Auch die Set Designs sind echte Hingucker, etwa wenn man beim Blick durch ein Fenster die vorbeitrudelnden Planetentrümmer eines zerstörten Universums bestaunen kann.

Dass die Darsteller innerhalb dieses CGI-Feuerwerks wenig Raum bekommen, wenn sie nicht gerade physisch aktiv sind, überrascht nicht. Für Benedict Cumberbatch dürften einige Begegnungen mit seinen alternativen Ichs ein gefundenes Fressen gewesen sein, kann er dabei doch alle Register seines Könnens ziehen. Am Ende darf er dank „Traumwandeln“ sogar die zum Zombiekadaver mutierte Leiche von „Defender Strange“ mit sichtlichem Spaß fernsteuern. 

Zu der von Elisabeth Olsen gespielten Hexe bekommt man weniger Zugang, es sei denn, man nicht „WandaVision“ gesehen. Und angesichts ihrer schlummernden Kräfte wird Xochitl Gomez als America Chavez aka „Miss America“ nicht immer klug ausgereizt. Auch Humor und die Ironie kommen leider zu kurz. Daran ändern einige schlagfertige Dialoge und die obligatorischen Witze des Marvel-Urgesteins Wong (Benedict Wong) nicht viel.

Ernüchternd ist aber, wie wenig Feige, Raimi und Waldron mit den Motiven ihrer Figuren anfangen können. Was treibt die Figuren eigentlich an? Im Falle von „Scarlet Witch“ deutet sich die Antwort in „Wanda Vision“ an. In
„Madness“ geht sie All-In. Sie will die Söhne einer alternativen Wanda klauen, um in einem ruhigen Paralleluniversum ganz die liebe Mama sein zu dürfen.
Doctor Steven Strange trauert dagegen seiner alten Liebe nach, der Ärztin Christine Palmer (Rachel McAdams), deren alternativer Version er auf einem anderen Planeten begegnet. Das führt zu traurigen Reflexionen, Geständnissen und Anspielungen, die wir aus „Doctor Strange“ (2016) kennen: "Palmer: „It was never going to work out between us." Strange: "Why not?" Palmer: Because, Stephen, you have to be the one holding the knife. And I always respected you for it, but I couldn't love you for it."

Also hat Doctor Strange auch im alternativen Universum seine große Liebe nicht erobert. Diese Erinnerung an die Arroganz des Doctors ist zwar pointiert, aber man braucht ein gutes Gedächtnis, um den Gag zu verstehen. Aber letztendlich werden die Figuren von Motiven angetrieben, die mit dem Verlust der Familie (Chavez, Scarlet Witch) und der Sehnsucht nach Liebe (Strange) sowie die Trauer über den Tod geliebter Menschen (Scarlet Witch) zu tun haben. Leider eingedampft auf simple Klischees und noch seichtere Dialoge. Das passt thematisch zwar zum Disney-Kanon, aber trotzdem stellt sich die Frage, ob es die Zerstörung ganzer Universen rechtfertigt. Und wenn „Scarlet Witch“ am Ende ihre Tugendhaftigkeit wiederentdeckt, dann ist das so trivial hingerotzt, dass man fassungslos ist.
Die Hauptfiguren werden zwar etwas menschlicher, aber ohne Tiefgang nicht spannender. Vergleicht man sie mit Thanos, so entpuppte sich dieser Oberbösewicht geradezu als düsterer Philosoph, wenn er seine Motive erklärte.

Immerhin durchläuft Benedict Cumberbatch in Sam Raimis Film einen von den Umständen und seinen alternativen Ichs erzwungenen Reflexionsprozess, der ihn am Ende weniger arrogant erscheinen lässt. Aber immer noch selbstbewusst genug, um seine Eitelkeit nicht komplett unterdrücken zu müssen. Dies erdet die Figur ein wenig. 

Und das war den Machern offenbar auch wichtig, denn trotz der Identitätskrisen und den multiplen Persönlichkeiten haben Feige, Raimi und Waldron davor zurückgeschreckt, die Dekonstruktion der Erzählschablonen auf die Spitze zu treiben. Am Ende ist „unser“ Doctor Strange, also der von der Erde 616, doch das Original und bleibt es auch. Fundamentale Identifikationsbedürfnisse des Publikums zu beschädigen, das war den Machern von „Madness“ offenbar dann doch zu viel.
Sie konnten aber nicht die Finger von einer Mid-Credit-Scene lassen, in der genau das in Frage gestellt wird.

Noten: BigDoc = 3,5


Trivia

Zusammengefasst erfindet sich das MCU also, auch ökonomisch. Richtig hässlich wird die Ökonomie dann, wenn sich Medienkonzerne, zu deren Corporate Identity auch moralische Grundsätze gehören, dem politischen Willen autoritärer Staaten unterwerfen sollen. Nicht selten ist dann die Angst vor dem Verlust eines Marktes größer als die Resilienz.
So berichtete „The Hollywood Reporter“ im April dieses Jahres, dass Saudi-Arabien seinen Markt für „Madness“ sperrte, weil der Film mit America Chavez eine lesbische Latina-Superheldin ins MCU einführte. Kuwait, Katar und die Arabischen Emirate verzichteten zunächst auf eine Zensur.
Ähnliches war bereits mit Chloé Zhaos „The Eternals“ geschehen, der den meisten Staaten in der Golfregion wegen der offensichtlichen LGBTQ-Referenzen nicht passte. Disney weigerte sich zunächst, soll in diesem Fall aber laut THR dann aber doch Schnitte vorgenommen haben. Und nach der Sichtung von „Madness“ regte sich die chinesische Zensur darüber auf, dass in einem Zeitungskiosk während der Gargantos-Szene ganz kurz die Titelseite einer oppositionellen Zeitung zu sehen war, die ihren Sitz in New York hat. Es wäre nicht der ersten Marvel-Film, der auf dem chinesischen Markt blockiert wird. Marvels „Shang-Chi“ war für die chinesischen Zensoren eine bösartige Karikatur des Chinesen.
Nicht immer wird die Gegenwehr durchgehalten. Der dritte „Iron Man“-Film wurde nur in einer extra für China geschnittenen Version (Variant Edition) freigegeben.
Manchmal ist Gegenwehr aber erfolgreich. SONY, das „Spider-Man: No Way Home“ in China vertreiben wollte, weigerte sich nachzubessern, als es Stress wegen der im Film zu sehenden Freiheitsstatue gab.
Man sieht: Während Disney und die Marvel Studios die völlige Freiheit über die Inhalte erlangen wollen, werden sie in anderen Teilen unseres realen Universums zensiert. 

Quellen


Doctor Strange in the Multiverse of Madness - USA 2022 - R.: Sam Raimi - D.: Michael Waldron - Musik: Danny Elfman - Laufzeit: 126 Minuten - FSK: ab 12 Jahren - D.: Benedict Cumberbatch, Elisabeth Olsen, Xochitl Gomez, Rachel McAdams, Benedict Wong, Chiwetel Ejiofor, Patrick Stewart u.a. - Special Guests: Bruce Campbell (Pizzaverkäufer), Michael Stuhlbarg (Dr. Nicodemus West), Charlize Theron (Clea).