Mittwoch, 5. Juli 2023

TV-Kritik: „Schachnovelle“ von Philipp Stölzl floppt im TV

Es war ein hochkarätiger Flop. Am 3. Juli startete die ARD ihr „Sommerkino“ mit dem Versprechen „hochkarätige Filme des nationalen wie internationalen Kinos“ zu präsentieren. Aber bereits der Auftakt ging gründlich in die Hose.

Philipp Stölzls Verfilmung (Kinostart: 2021) von Stefan Zweigs berühmter „Schachnovelle“ erreichte nur einen Marktanteil von 10%. Der Anteil bei den 18-49-Jährigen lag sogar bei nur 4,8%. Und was noch schlimmer war: die Zuschauer switchten schon nach wenigen Minuten in Scharen auf andere Kanäle und machten sich aus dem Staub. Da ahnt man bereits, was der folgenden Rezension droht.

Geschichte? So what!

Das ewige Problem der Literaturverfilmung scheint sich in Nichts aufgelöst zu haben. Es wird immer weniger gelesen. Wozu also über Vorlage und Film nachdenken? Wer nun hofft, die Leseverweigerung durch knackige Verfilmungen wenigstens etwas kompensieren zu können, sollte sich keine Illusionen machen. Auch das klappt nicht.
Und wenn wir uns an den neuen Zeitgeist angepasst haben, werden wir die folgenden Fragen von einer KI beantworten lassen: Wird der Film der Vorlage gerecht? Atmet er den Geist der Vorlage? Oder wurde da etwa ein Buch entkernt, sodass entweder nur der Kernplot übrigbleibt und/oder die literarische Vorlage mit hinzuerfundenen Figuren und Handlungen so aufgeblasen wird, dass etwas Neues entsteht. Und das ist dann möglicherweise nur noch ein weit entferntes Echo der Vorlage.

Es geht auch einfacher. Wenn man über Philipp Stölzls Verfilmung der „Schachnovelle“ schreiben will, muss man sich zunächst mit Stefan Zweigs „Schachnovelle“ auseinandersetzen. Und mit der ersten Verfilmung aus dem Jahre 1960. Auch mit der Geschichte Österreichs und der von Stefan Zweig, der sich umbrachte, nachdem er seine Novelle geschrieben hatte. Alles kleinteilig, langatmig und für den Leser zeitraubend. Mit anderen Worten: It’s boring!

Es geht in dem Buch und den zwei Filmen nämlich um die deutsche Geschichte, und zwar jenen Teil, der offenbar einen langen Atem hat und sich wieder regt, umtriebig wird, in verschiedenen Varianten Europa heimsucht und wie ein schleichendes Gift in die Köpfe der Menschen eindringt. Es geht um den deutschen Faschismus, das nie ganz verdrängte Monster. Es geht auch um die Spielarten des Rechtspopulismus, um Rassismus, um Demokratiefeindlichkeit und die Schnelligkeit, mit der sich die Umtriebe in der Zeit des Internets ausbreiten. Es geht um die gelackten Neurechten, die suggerieren, dass es mit ihnen keineswegs so schlimm wird wie früher, während die Menschen an der Basis der Gesellschaft schon längst unverhohlen aussprechen, was sie von ihren neuen Führern erwarten. So betrachtet ist Philipp Stölzls „Schachnovelle“ ein guter, ein notwendiger Film. Rezensieren muss man ihn trotzdem.

Die literarische Vorlage

Stefan Zweigs „Schachnovelle“ ist etwas länger als 50 Seiten (Gesammelte Werke, 2014, Seite 541-593), eine Novelle, die der vor den Nationalsozialisten geflohene Schriftsteller im Exil schrieb, ehe sich Zweig und seine Frau 1942 umbrachten. Zweig hielt das Buch für zu komplex, um erfolgreich zu werden. Das Gegenteil trat ein: die 1941 veröffentlichte „Schachnovelle“ wurde millionenfach verkauft. Bis heute.

Erzählt wird die Geschichte von zwei Männern, die ungleicher nicht sein können. Da ist der Schachweltmeister Mirko Czentovic, der eine Überfahrt auf einem Passagierdampfer von New York nach Buenos Aires gebucht hat. Dort trifft er auf den mysteriösen Dr. B., der ungebeten in eine Beratungspartie hineinstolpert, die einige betuchte Gäste mit dem Schachgenie arrangiert haben. Natürlich sind die ambitionierten Amateure nicht völlig unbegabt, aber chancenlos. Sie stehen vor der Niederlage, als eben jener Dr. B. eingreift und mit einer meisterlichen Verteidigungsstrategie dem Weltmeister ein Remis abringt.

In Zweigs Novelle gibt es einen Erzähler, der dieses Ereignis miterlebt hat. Aber bevor er sich der Hauptfigur zuwendet, erfährt der Leser einiges über den Schachweltmeister, der als Sohn eines südslawischen Donauschiffers geboren wurde. Offenbar ein tumber Junge, der ein ungebildeter Analphabet blieb und vom Erzähler als imbezil bezeichnet wird. Psychopathologisch hätte man Czentovic vor 100 Jahren als Idioten bezeichnet. Heute klassifiziert man Menschen mit einem IQ unter 70 als Menschen mit kognitiver Behinderung.
Über 80 Jahre später scheint Stefan Zweigs Charakterisierung des Schachweltmeisters aus der Zeit gefallen zu sein. Der Schriftsteller spielte selbst Schach, aber traut man Zeitzeugen, dann war es schwierig, ihn eine Partie gewinnen zu lassen, selbst wenn man es wollte. So gehörte Zweig offenbar zu den Autoren, die mangels substantieller Kenntnisse des Schachs fast zwangsläufig zu Klischees greifen mussten, um das dramatische Potential dieses Spiels dingfest zu machen. In ihrer Phantasie erscheint das „Spiel an sich“ mythologisch überhöht als unbegreiflicher Höhepunkt des intellektuellen und künstlerischen Schaffens, die Nähe zu ihm führt aber unweigerlich in den Wahnsinn. Kein Wunder, dass viele Schachspieler mit Zweigs Novelle nicht viel anfangen können. Und das, obwohl in der Schachgeschichte immer wieder Schachgenies auftauchten wie Akiba Rubinstein, die irgendwann in einer Nervenheilanstalt landeten.

„Aber bei aller Virtuosität Zweigs regt sich dennoch Unbehagen. So scheint es typisch für die Schachwelt zu sein, dass sie eine Erzählung für besonders gelungen hält, die dem Spiel letztlich keinen großen Respekt bezeugt“, schrieb Johannes Fischer, ein bekannter Schachmeister, in einer Rezension für das Schachmagazin KARL.
Andere Autoren entdeckten im Schach eine Metaphorik, die den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse widerspiegelt, ein Spiel ohne Zufall, in dem die Vollkommenheit des Siegers über den Ausgang entscheidet.
Dies alles ist Unsinn. Wer Turnierschach spielt, der weiß, dass Schach zwar Muster und Strukturen besitzt, aber keinesfalls logisch ist. Im Prinzip ist es - zumindest auf dem Niveau durchschnittlicher Amateure - eine Abfolge von Fehlzügen und Zufällen. Und so ist es ziemlich reaitätsfern, dass sich Zweig den Schachweltmeister nur als genialen Idioten vorstellen konnte und seinen Herausforderer als schizophrenes Naturtalent.

Nach der Vorstellung des „Imbezilen“ enthüllt der Erzähler nach und nach das Geheimnis des merkwürdigen Dr. B. Wir sind in 1930er-Jahren. Die Nationalsozialisten haben Österreich „heim ins Reich geholt“ und Dr. B, der in Wien zur Upper Class der Wohlhabenden und Gebildeten gehört, hat als Vermögensverwalter rechtzeitig einige Kirchenschätze vor den Nazis in Sicherheit gebracht. Aber nicht sich selbst. Er wird von den Nazis in einem Hotel interniert. Die Gestapo verzichtet aber auf physische Folter, entzieht B. aber alles, was sein Geist zum Leben benötigt. Deprivation nennt man das heute. Bis B. zufällig ein Buch in seinen Besitz bringt, dass seine Qualen beenden soll. Aber es ist „nur“ ein Schachbuch. B. liest es trotzdem und tatsächlich eignet er sich ein tiefes Verständnis des königlichen Spiels an. Am Ende braucht er weder Brett noch Buch. Die Partien finden längst in seiner Imagination statt. Und dort spielt er gegen sich selbst tausende von Partien, wie er dem Erzähler mitteilt.  Blindschach nennen das die Schachspieler. Für Zweig war es die Identitätsspaltung der finale Höhepunkt des Naziterrors. Zu Zweigs Phantasmagorie gehörte allerdings auch die völlig unrealistische Vorstellung, dass ein unbeschriebenes Blatt sich in wenigen Wochen das Schachspiel aneignen kann - und das auf einem weltmeisterlichen Niveau.

Das kann man als künstlerische Freiheit bezeichnen. Aber wovon erzählt der Autor eigentlich in der Schachnovelle? Zweig und seine Frau nahmen sich das Leben zu einem Zeitpunkt, als der Sieg der Nationalsozialisten in Europa und möglicherweise auch weltweit unvermeidbar zu sein schien. Die Niederlage der deutschen Wehrmacht in Stalingrad im Februar 1943 erlebte der Schriftsteller nicht mehr.
In der Figur der Dr. B. ließ Zweig den Vertreter einer zivilisierten Kultur mitsamt der dazu gehörenden Oberschicht untergehen - eine Reflexion des eigenen Schicksals als Emigrant. B., der den Nazis entkommen kann, ist am Ende der Geschichte ein gebrochener und schwer traumatisierter Mann, den das Schachspiel nicht retten kann. Sein Antagonist Mirko Czentovic ist dagegen der Protagonist einer heraufziehenden Barbarei - ein Schwachsinniger, dessen ungewöhnliche Fähigkeiten auf den 64 Feldern als ungebührlich bezeichnet werden müssen. Ein Idiot, dessen Kopf nur mit Schach gefüllt werden kann, weil er zuvor völlig leer war. Eine monomanische Figur, deren intellektuelle und affektive Defizite zum Symbol einer neuen Herrenrasse stilisiert werden sollen. Sie
kennt nur ein Ziel: unbedingte Macht über andere. Pech nur, dass Czentovic als Sendbote des Bösen nicht taugt. Man muss nur Hannah Arendt lesen, um das zu verstehen.

Am Ende wird Dr. B., der in der Binnenerzählung der Novelle dem Erzähler von seinen Erfahrungen berichtet und sie auch selbst deutet, im direkten Duell mit Czentovic den Weltmeister zunächst besiegen, in der Revanchepartie aber psychisch zusammenbrechen und die Partie aufgeben - Ausdruck des Pessimismus, mit dem Stefan Zweig dem absoluten Zivilisationsbruch durch den Naziterror begegnete. In dieser Konstellation wird das Schachspiel des Schachautomaten Mirko Czentovic zum Vorboten einer barbarischen Gegenkultur, an der Zweigs Figur ebenso zerbrechen muss wie an der Psychofolter der Gestapo.

1960: Die erste Verfilmung mit Curd Jürgens und Mario Adorf

„Im Ergebnis nicht mehr als ein effektvolles Gesellschaftsspiel“, schrieb der FILMDIENST über die Adaption durch Gerd Oswald, einen Regisseur, der als Halbjude 1938 in die USA emigrieren musste. Oswald, der u.a. mit Herbert Reinecker das Drehbuch verfasste, ließ ein Starensemble antreten. Curd Jürgens, der Star des deutschen Nachkriegskinos, spielte elegant den offenbar adeligen Rechtsanwalt Werner von Basil, Mario Adorf gab den Schachweltmeister nicht als automatenhaften Idioten, sondern als arrogantes und geldgieriges Arschloch, das seinen devoten Manager wie den letzten Dreck behandelt. Während Jürgens die Rolle des gebrochenen Mannes mit Charisma spielte, musste sich Adorf mit einer stereotypen Rollengestaltung begnügen.

Oswalds Film wurde von den Kinogängern weitgehend ignoriert und von der Kritik zerfetzt. Die Ignoranz ließ sich mit dem Widerwillen des Publikums erklären, das offenbar kein Interesse an der eigenen Geschichte mehr hatte. Die Kritiker hingegen waren in Aufbruchsstimmung und konnten in Oswalds Film nur das verhasste deutsche Pantoffelkino erkennen. 1962 folgte mit dem „Oberhausener Manifest“ unter dem Einfluss der Nouvelle Vague und der Frankfurter Schule eine Generalabrechnung mit dem deutschen Nachkriegskino. Auch die Verrisse waren vom Zeitgeist diktiert. Erst 1963 gelang mit den Auschwitz-Prozessen ein Einbruch in die immer noch von Altnazis weitgehende kontrollierte deutsche Justiz und Verwaltung. Zuvor waren die meisten Versuche gescheitert, die Nachfahren des Dritten Reichs vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen.

63 Jahre später erkennt man im Film des Emigranten Gerd Oswald, der in den USA u.a. an „Rawhide“ und später an „Star Trek“ beteiligt war, einen ambivalenten Kommentar zur deutschen Geschichte. Oswalds orientiert sich einerseits stark an der Struktur von Zweigs Novelle, andererseits gab es kein Framing durch einen Off-Erzähler, der mittlerweile fast vollständig aus dem Kino verschwunden ist. Vielleicht zu Unrecht.

Interessant an Oswalds Film ist etwas anderes. Die Nazis musste man der Lupe suchen. Zwar erlebt Werner von Basil, wie sich Wien nach dem Einmarsch der Wehrmacht verändert, aber die Soldaten sieht er während einer nächtlichen Autofahrt nur als Schattenrisse an den Häuserwänden. Erst zu spät begreift von Basil, dass er fliehen muss. Aber es ist zu spät: der Anwalt wird vom Gestapo-Mitarbeiter Hans Berger erhaftet und in einem Hotel in Einzelhaft überführt. In Zweigs Novelle gab es die Figur des Gestapo-Mannes allerdings nicht. Und die Nazis entdeckten auch nicht das verbotene Buch, denn B. beginnt mit dem Blindschach, weil ihn das Buch irgendwann zu langweilen beginnt.
Den Nazi spielte der zu diesem Zeitpunkt der bereits sehr populäre 29-jährige Schauspieler Hansjörg Felmy, der später als Kommissar Hans Haferkamp zur Ikone des TATORT wurde. Warum die Rolle mit einem bekannten Sympathieträger besetzt wurde, lässt sich nicht ermitteln. Felmy spielte den Gestapo-Mann als höflichen, kultivierten Fachmann für besondere Fälle, eine Figur, in der sich kein Monster verbarg, sondern ein regimetreuer Bürokrat, der physische Folter verachtete und durch eine effektivere Methode ersetzen wollte. Überhaupt wirkten die Nazis in Oswalds Verfilmung wie eine Handvoll krimineller Geschäftsleute, die sorgfältig über die Wahl der Waffen diskutieren und ansonsten die Teilhabe an der Wiener Kultur genießen.

Vielleicht war dies 1960 die einzige Möglichkeit, 15 Jahre nach dem Kriegsende der mitten im Verdrängungsprozess befindlichen deutschen Kinoöffentlichkeit einen Nazi zu präsentieren. Eine unglückliche Anpassung. Selbst eine kinogerechte Love Affair konnte und wollte sich Oswald nicht verkneifen. Die englische Schauspielerin Claire Bloom spielte die Balletttänzerin Irene Andreny, die eine Affäre mit Hans Berger hat, sich aber zunehmend für Werner von Basil zu interessieren beginnt. Und so endet der Film erwartungsgemäß mit einem Happy-End, denn die Künstlerin befindet sich ebenfalls auf dem Schiff und bietet von Basil am Ende die Option einer gemeinsamen Zukunft im Ungewissen an. Bei Philipp Stölz sieht das völlig anders aus.

Gerd Oswalds Verfilmung der „Schachnovelle“ war summa summarum ein handwerklich ordentlicher Film, der überwiegend von seinem exzellenten Cast profitierte, zu dem auch Darsteller wie Dietmar Schönherr, Hans Söhnker und Albert Lieven gehörten. Ästhetisch war der Film nicht sonderlich experimentierfreudig, die Kamera hielt sich auch in der Phase der psychischen Dekompensation Werner von Basils zurück und lieferte nur gelegentlich schräge und expressionistische Einstellungen ab, die im Kino traditionell zur Visualisierung des Wahnsinns gehören.
Schach ist auch in Oswalds Film ein Teil der bekannten Metaphorik – es geht um Gut oder Böse, um Sieg und Niederlage, wobei die Niederlage die Identität des Verlierers auslöschen kann. Man kann dem Film aber nicht vorwerfen, Schach unrealistisch darzustellen, immerhin hatten die Produzenten mit Rudolf Teschner einen Experten an Bord geholt, der dafür sorgte, dass die Partieschnipsel nicht völliger Blödsinn waren. Die erste Begegnung von Dr. B mit dem Weltmeister zeigt in den wenigen Einstellungen, in denen das Schachbrett zu sehen ist, das spektakuläre Ende einer Partie zwischen Aljechin und Bogoljubow. Der eine war Weltmeister, der andere wurde es nie.

Einen gesellschaftspolitischen Kommentar gab Oswald allerdings nicht ab und er ist auch über 60 Jahre später nicht zu entdecken. Vielmehr erzählte er die tragische Geschichte von Menschen und Opfern in einer tragischen Vergangenheit. Richtig schuld war keiner, die Zeiten waren halt so. Und so spiegelte die erste Verfilmung der „Schachnovelle“ wider, was man sich im Nachkriegsdeutschland leisten konnte, ohne das Publikum zu vergraulen.

Neuverfilmung durch Philipp Stölzl

Während des Main Title fährt die Kamera von Thomas W. Kiennast über ein Schachbrett, dann zeigt sie eine flackernde Birne. Cut: Closeup auf Oliver Masucci, der in die Kamera blickt und ganz entfernt an James Stewart in „Vertigo“ erinnert. Nicht ganz so entsetzt, aber gänzlich verloren.
Anders als Gerd Oswald konfrontiert Philipp Stölzl („Der Medicus“, 2013) den Zuschauer sofort mit seiner Hauptfigur, die im Off die Züge aus der Partie Aljechin-Bogoljubow flüstert, als seien sie eine magische Beschwörungsformel. Stefans Zweigs Hauptfigur heißt nun Bartok und er ist im Begriff, das rettende Schiff zu betreten, das ihn in die Freiheit bringen wird. Im Kopf ist er aber nach wie vor ein Gefangener.
Die Züge aus der erwähnten Partie kann Bartok eigentlich nicht kennen, denn er hat die Szene mit dem Schachweltmeister Mirko Czentovic noch nicht erlebt. Aber vielleicht kennt Bartok die Partie zwischen dem Weltmeister Alexander Aljechin und Efim Bogoljubow aus dem Turnier in Bad Pistyan 1922. Denn genug Zeit zum Studieren der alten Meister hat der Notar Dr. Josef Bartok auch in Stölzls Film.

Stölzl hat die Handlung aus Zweigs Novelle anders strukturiert. Sie beginnt zwar auch auf dem Passagierdampfer, rahmt aber nicht die Erzählung des Dr. B. ein, sondern integriert sie als Rückblenden in den Film. Es gelingt Stölzl zunächst recht gut, das Assoziative, das Gegenwart und Vergangenheit verbindet, geschickt zu visualisieren, ohne dass die Kontinuität der Geschichte unübersichtlich wird.

Anders als der von Curd Jürgens gespielte Notar sieht Bartok während einer Autofahrt, was nachts auf den Straßen von Wien geschieht. Er hat seine Frau Anna (Birgit Minichmayr) aufgefordert zu fliehen, er würde später nachkommen. Die Deutschen haben bereits ihr Ultimatum ausgesprochen, die österreichischen Nazis toben als fanatischer Mob in den Straßen und schlagen auf Bartoks Auto ein, weil sie in ihm ein Mitglied der bourgeoisen Oberschicht vermuten. Und bereits in der Nacht vor der Annexion Österreichs müssen die Juden die Straßen schrubben.
Ohne die Unterstützung der Bevölkerung wäre auch die innerhalb weniger Wochen logistisch perfekt umgesetzte Deportation von 70.000 österreichischen Juden nach Auschwitz nicht möglich gewesen, aber 2013 war fast die Hälfte der Österreicher laut einer Studie der Zeitung „Der Standard“ davon überzeugt, dass sie Opfer der NS-Regimes gewesen waren und keineswegs Täter. Ob sie etwas mit Stölzls Film anfangen können, bleibt eine unbeantwortete Frage. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass auch andere sich nicht gerade mit Ruhm bekleckerten. So durften die jüdischen Flüchtlinge, die Deutschland und Österreich verlassen hatten, nicht auf Hilfe hoffen. 32 Staaten und zahlreiche Hilfsorganisationen beschlossen 1938 im französischen Évian, dass man keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen wolle. Alle waren sich einig, dass man den
Flüchtlingen unbedingt helfen müsse. „Aber nicht bei uns“, lautete die Formel der konkreten Umsetzung. Zum Glück ist das in der EU nicht vorstellbar.

Überhaupt zeigt Stölzl das unselige Kapitel deutlich realistischer als Gerd Oswald. Man erfährt zwar nicht, dass sich Österreich seit 1934 als austrofaschistischer Ständestaat präsentierte und sich dabei an Mussolinis Italien orientierte, dafür aber, dass Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg keineswegs heim ins Reich wollte. Unterstützung von den Westmächten erhielt er aber nicht. Als die deutschen Truppen am 12. März 1938 einmarschierten, wurden sie von einer jubelnden Bevölkerung empfangen. Die Saat war aufgegangen.

Auch die Nazis, die Bartok unverzüglich heimsuchen, sind weit entfernt von Oswalds Version. Wer genau bei Stölzl hinschaut, wird nicht nur deutsche Uniformen sehen, sondern auch jene der StaPo. Die Staatspolizei, im Kern der Inlandsgeheimdienst Österreichs, arbeitete den deutschen Besatzern zu und wenn der inhaftierte Bartok im Luxushotel „Metropol“ die Schreie der von der Gestapo Gefolterten hört, gibt es keinen Zweifel darin, dass beide Behörden wie geschaffen füreinander waren.

Auch der von Albrecht Schuch (Schuch spielt in einer Doppelrolle auch den Schachweltmeister Mirko Czentovic) gespielte Gestapo-Mitarbeiter Franz-Josef Böhm erinnert zwar zunächst ein wenig an den freundlichen Hansjörg Felmy, aber spätestens, wenn Bartok im Folterkeller zusehen muss, wie ein alter und massiv gefolterter Freund erschossen wird, macht er sich keine Illusionen mehr über sein Schicksal. Er ist fest davon überzeugt, dass Böhm ihn liquidieren wird, wenn er die Codes der Auslandsbanken nennt, auf denen die österreichischen Kirchen ihr Vermögen in Sicherheit gebracht haben.
Er irrt sich. Bartok wird tatsächlich freigelassen, als er die Codes rausrückt, und Böhm wird zu spät erkennen, dass er verloren hat. Die Codes sind nichts anderes als die codierten Züge einer Schachpartie.

Philipp Stölzls Adaption der berühmten Novelle ist also historisch korrekter, dabei auch rigoroser und brutaler. Dabei auch eigenwilliger, denn die Auseinandersetzung zwischen dem intellektuellen und polyglotten Bartok und dem „Schachautomaten“ und Schachweltmeister Mirko Czentovic rückt ganz an den Rand der Geschichte. Dafür erzählt Stölzl die Geschichte des Wiener Notars mit einer Intensität, die Oliver Masucci („Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, 2019; „Phantastische Tierwesen: „Dumbledores Geheimnisse“, 2022; Deutscher Filmpreis für „Enfant Terrible“, 2020) eine weitere Höchstleistung abverlangte.
Der von
Oliver Masucci buchstäblich verkörperte geistiger Zusammenbruch Bartoks ist deutlich dramatischer als Curd Jürgens zurückhaltende Performance in Oswalds Film. Einige Kritiker warfen Stölzl sogar vor, dass er sich im Elend seiner Hauptfigur suhlt. In langen Sequenzen zeigt der Regisseur, wie sich Bartok innere und äußere Verwahrlosung vollzieht. Der zunächst elegant gefilmte Film mit seinen gleitenden Steadycam-Aufnahmen und den aufwändigen Interieurs verwandelt sich in Horrorbilder des psychischen Zerfalls, bis Oliver Masucci nackt vor seinem demontierten Bett sitzt und sich bereits in Reichweite des Wahnsinns befindet.

Da ist schon nichts mehr übrig von dem Mann, der bei der ersten Begegnung mit dem Gestapo-Mann Böhm ein Schachbrett sieht und arrogant feststellt: „Schach ist eine Freizeitbeschäftigung für gelangweilte preußische Generäle!“ und sein Gegenüber lakonisch antwortet: „Ich liebe das Spiel, weil es darum geht, das Ego des Gegners kleinzukriegen.“
Das ist zwar von Robert James Fischer geklaut, der 1972 Schachweltmeister wurde, aber der amerikanische Großmeister war bekennender Antisemit und hatte wohl auch sonst nicht alle Latten auf dem Zaun. Insofern ist die Szene keineswegs ein billiger Kalauer.

Auch das Königliche Spiel erhält in Philipp Stölzls „Schachnovelle“ eine andere Bedeutung. Aus dem Film verschwindet ganz und gar die Andeutung, dass es das Spiel selbst sein könne, dem der Wahnsinn innewohnt. Anders als bei Zweig und auch in Oswalds Version stabilisiert das Schachspiel Bartok zunächst, nachdem es ihm gelingt, vor einem Verhör ein Schachbuch zu stibitzen. Erst als Bartok von einem Gestapo-Schergen in der Badewanne fast ertränkt wird und sein zusammengebasteltes Schachspiel von Böhm entdeckt und zerstört wird, bricht der schachliche Autodidakt zusammen. Er muss nun seine Partien „blind“ spielen, tritt gegen sich selbst an und brabbelt vor sich hin. Nicht das Schach, sondern die Isolationsfolter hat ihn zerstört.

Dass Philipp Stölzls „Schachnovelle“ am Ende aus dem Ruder läuft, ist nach der gelungenen Mischung aus historischer Genauigkeit und authentischem Psychodrama enttäuschend. Zwar funktioniert die Verzahnung des Schiffsszenen mit den Rückblenden ins Wiener „Metropol“ sehr gut. Aber das Aufeinandertreffen von Bartok und Mirko Czentovic hätte eine naturalistische und wohl auch etwas distanziertere Conclusio verdient. Stattdessen entschieden sich Stölzl und sein wenig bekannter Drehbuchautor Eldar Grigorian dafür, die filmische Fiktion zugunsten eines halluzinatorischen Vexierspiels aufzulösen.

So erfährt der Zuschauer, dass Bartok, der in der Eingangssequenz seine Frau Anna auf dem Schiff trifft, diese nur halluziniert hat. Und als der reiche Schachfanatiker Owen McConnor (Rolf Lassgard) Bartok einen Scheck über 20.000 US-Dollar für einen finalen Kampf mit dem Schachweltmeister bezahlt, verwandelt sich der Film in einen Parcour des Wahnsinns, der endgültig die Beziehung zwischen der fiktionalen Realität und den Halluzinationen Bartoks auf eine Weise ausufern lässt, dass man schlichtweg nicht mehr weiß, was tatsächlich geschieht oder was in Bartoks Kopf stattfindet.

Ist Bartok überhaupt Bartok? Auf dem Schiff nennt er sich zeitweilig Max van Leuwen. In der irrlichternden Schlussszene gibt es eine kurze Einstellung von einem alten Schachbuch, in der van Leuwen und Czentovic die Spanische Eröffnung aus der Schlussszene bereits Anfang des Jahrhunderts gespielt haben. Easter Egg oder Mindfuck?

Damit ruinieren Stölzl und Grigorian einen beachtlichen Film, ein visuell üppig arrangiertes und eindringliches Drama, das sich am Ende soweit von Stefans Zweigs Novelle entfernt, dass von einer Literaturverfilmung eigentlich nicht mehr die Rede sein kann. So „kulminiert Stölzls Film letztendlich in einem schauspielerischen Kürlauf von Oliver Masucci, der nicht nur Zweigs Buch sprachlich und damit auch visuell zuwiderläuft, sondern auch Stölzls Film fragmentiert, der zum Ende immer mehr zerfasert, von NS- und Wahnsymbolen, lauten Momenten und »irren« Kameraperspektiven überfrachtet wirkt und das eigentliche Schachspiel mit all seinen Wider­sprüchen zunehmend in den Hintergrund drängt“, schrieb Axel Timo Purr für artechock.

Am Ende von Stölzls Film traut man nicht einmal mehr der Rahmenhandlung. Und das ist schlecht für einen Film, der mittelbar von einem Land erzählt, in dem jeder Fünfte eine Partei wählt, deren Vordenker per Gerichtsbeschluss „Faschist“ genannt werden darf. Ein Land, in dem nicht wenige glauben, dass es diesmal gut ausgehen wird. Es ist schwer zu glauben, dass man in dieser Situation einen Film braucht, der davon erzählen will, aber wie ein LSD-Trip endet.


Noten: BigDoc = 2,5

Pressespiegel

„Die Traumatisierung, das Schachspiel als Überlebensmetapher - all das bleibt in dem Film "Schachnovelle" Konstruktion. Nicht eine Sekunde lang vermag der Film Bartoks Verzweiflung und Desorientierung in der Einzelhaft glaubhaft zu erzählen. Das liegt nicht an dem Bartok-Darsteller Oliver Masucci. Es liegt daran, dass der Film zwar eine Konstruktion hat, aber keine Vision und filmische Haltung, die auch den Darstellern Halt geben könnte. In steril wirkenden, eintönig ausgeleuchteten Kulissen wirken sie selbst wie Schachfiguren einer Verfilmungsidee“ (Katja Nicodemus, NDR)

„Inhaltlich wirkt diese Schachnovelle, vor allem durch die neuen Figuren und eingestreuten Verweise auf die Odyssee, stellenweise überladen, lässt die schlanke Eleganz der Vorlage vermissen. Die Re-Interpretation, das Weiterdenken der Vorlage jedoch ist sehenswert: Wo Zweig resignierte, gerät Stölzls Adaption zur Mahnung“, (Christian Neffe, KINOZEIT).


„Schachnovelle“ (2021) – nach der gleichnamigen Novelle von Stefan Zweig – Laufzeit: 111 Min – FSK: 12 – Regie: Philipp Stölzl – Darsteller: Oliver Masucci, Albrecht Schuch, Birgit Minichmayr, Rolf Laasgård - Drehbuch: Eldar Grigorian – Kamera: Thomas W. Kiennast – Musik: Ingo Frenzel.