Freitag, 24. November 2023

Der Western ist zurück! – Die Serie „The English“ bietet grandiose Bilder


Er wurde bereits mehrere Male für tot erklärt und ist nun wieder da: Der Western! Aber nicht im Kino, sondern im seriellen Format. Ob dies mit Taylor Sheridans Neo-Western „Yellowstone“ oder noch mehr mit Sheridans Prequel „1883“ zu tun hat, bleibt Spekulation.

Keine Spekulation ist, dass aktuelle Serien wie „Lawmen: Bass Reeves“, „Billy the Kid“ und „The English“ nach neuen Erzählformeln suchen oder bekannte in ein neues Licht rücken. Denn eins ist klar: Ästhetisch sahen Western nie so gut aus wie heute.

„The English“ ist ästhetisch ein Meilenstein des Genres

Egal, ob es sich um die High Plains in Oklahoma oder den Nachthimmel über Nebraska handelt: in der Western-Serie „The English“ von Hugo Blick sorgte der dreifach preisgekrönte Kameramann Arnau Valls Colomer für eine überwältigende Bildästhetik. Dass Showrunner, Regisseur und Autor Hugo Blick seinen Western in Spanien drehte (Castilla-La Mancha), erinnert zwar vordergründig an die Spaghetti-Western der 1960er-Jahre, ist aber meilenweit vom Schmuddel-Look dieses Genres entfernt. 

Auch dank der Kamera- und Schnitttechnik. So erlaubten die unterschiedlichen Lichtverhältnisse nach dem Sonnenaufgang, vor der Dämmerung und besonders während der nächtlichen Dreharbeiten nur begrenzt Aufnahmen on Location. Stattdessen entstand besonders bei den Nachtaufnahmen ein Mix aus Aufnahmen on Location, die im Studio mit Szenen vor Blues Screens ergänzt wurden. Wenn über den nächtlichen Himmel Sternschnuppen huschen, sieht dies authentisch aus, ist tatsächlich aber eine höchst artifizielle Bildkomposition. Blick und Colomer schufen ein brillantes Layout für eine Serie, die technisch neue Maßstäbe setzt und auch dank anamorpher Objektive überwältigende Panorama-Landschaften zeigt. Alles untermalt vom grandiosen Soundtrack des argentinischen Komponisten Federico Jusid, der einen Vergleich mit Ennio Morricone nicht scheuen muss.

Höchst artifiziell ist auch die Geschichte, die in „The English“ erzählt wird. Wir sind im Jahr 1890, aber die erste Episode beginnt mit einem Off-Monolog von Emily Blunt, in dem sich die Protagonistin viele Jahre später an eine außergewöhnliche Freundschaft erinnert. Blunt spielt die Aristokratin „Lady Cornelia Locke“, die ihre Heimat England verließ, um sich im fernen Mittwesten der USA für den Tod ihres Sohnes zu rächen. Sie landet in Kansas in einem gottverlassenen Hotel, nur um zu sehen, dass der Hotelbesitzer Richard Watts (Ciaran Hinds) den Indianer „Wounded Wolf“ (Chaske Spencer) foltert und zudem den Auftrag hat, Locke zu töten. Der Mord soll dem Indianer in die Schuhe geschoben werden. Doch am Ende ist Watts tot und „Wounded Wolf“, der mit dem Namen Eli Whipp in der US-Kavallerie als Pawnee-Scout und Sergeant gedient hatte, und die Engländerin ziehen gemeinsam weiter. Whipp will in Nebraska ein Versprechen der Army einlösen und sich als Farmer niederlassen. „Hier warst du einer von uns, dort bist du einer von ihnen“, gibt ihm ein Soldat mit auf den Weg. Denn Indianer haben keine Rechte.

Der Westen als Ort der Hölle

Die Zweckgemeinschaft zwischen Locke und Whipp verwandelt sich langsam in eine tiefe Verbundenheit. Wer nun einen konventionellen Western erwartet, wird überrascht. Hugo Blick, der mit „The Shadow Line“ (2011), „The Honourable Woman” (2014) und “Black Earth Rising” drei serielle Masterpieces schuf, macht es in “The English” dem Zuschauer wieder einmal nicht leicht. Über die Geschichte des Völkermords in Ruanda schrieb Benedict Frank in der „Süddeutschen“: „Die Koproduktion von BBC Two und Netflix mutet dem Publikum vieles zu. (Black Earth Rising) balanciert immer wieder auf der Grenze zur Überforderung, überschreitet diese hier und da und sammelt die Zuschauer erst spät mit Erklärungen wieder ein.“

Blicks neue Serie ist keinen Deut anders. Die komplexen Hintergründe der Story werden erst in den letzten beiden Episoden einigermaßen nachvollziehbar. Die meisten Figuren verbergen ein Geheimnis, von Hugo Blick in schwer durchschaubaren Nebenhandlungen versteckt, die zunächst wie Fremdkörper wirken. 
In den ersten vier Episoden beschreibt
der britische Filmemacher den Westen als einen Ort der Hölle. Während ihrer Reise erfahren Locke und Whipp, dass buchstäblich jeder (abgesehen von einer Handvoll Mennoniten) eine tödliche Gefahr ist. Whipp erklärt seiner Begleiterin, dass sie das Messer bereithalten muss, wenn sie ihrem Mörder begegnet. Der würde angesichts von Lockes schönem Gesicht einen Moment lang zögern, dies sei der Moment, in dem sie mit dem Messer zustoßen müsse. Sonst sei sie tot.
Whipp ist der geborene Killer, aber Cornelia Locke lernt schnell dazu. Mit der Winchester fremdelt sie, aber mit Pfeil und Bogen hat sie bereits in England umzugehen gelernt. In „The English“ ist die ehemalige Sportschützin eine tödliche Gefahr. Auch später mit dem Messer. „The English“ ist in Sachen Brutalität eher auf der Seite von Mauro Aragonis Neo-Spaghetti-Western „That Dirty Black Bag“ (AMC).

Geldgier, Niedertracht und Sadismus bestimmen die Regeln des Umgangs. Wer beim Erstkontakt nicht vorsorglich die Waffe zieht, ist wenig später tot. Jeder verrät jeden. Scheinbar normale Bürger und brutale Outlaws arbeiten zusammen, um die nach Westen ziehenden Treks der „Boomer“ zu überfallen, sie zu ermorden und auszuplündern. Und auch die scheinbar harmloseste Begegnung in den Weiten der Midlands endet für Whipp und Locke immer mit einem brutalen Blutbad.
Abgesehen von Folter, Vergewaltigung und Massenmord hat die Brutalität ihren ideologischen Sitz vor allen Dingen in den Köpfen der Figuren. Auf ihrer langen Reise begegnen Locke und Whipp Männern, die stolz auf die millionenfache Abschlachtung von Büffeln sind, besonders, weil sie die Indianer in den Hungertod treiben sollten. Ein Wissenschaftler beschäftigt sich mit der Rinderpest und sieht in der Bekämpfung der Bazillen auch einen Weg, um die parasitären Indianer auszumerzen. Indianische Frauen werden so umerzogen, dass sie patriotische Amerikaner werden sollen, tatsächlich aber als Sex- und Haussklaven dem weißen Mann dienen müssen.
Hugo Blick erzählt in epischen und grausamen Bildern eine Geschichte, in der Rassismus und Massenmord an der indigenen Bevölkerung an der Tagesordnung sind. Aber der Rassismus kann seinen ökonomischen Kern nicht verbergen. Es geht längst nicht mehr um den Gründungsmythos, nämlich die Zivilisation in die Weiten des Westens zu tragen, sondern um dessen Ausplünderung. Rinderbarone profitierten von den riesigen Grasflächen, die billig zu haben waren und neue Städte wurden dort gebaut, wo man zuvor die Leichen der massakrierten Indianer verscharrt hatte. Es gibt nur wenige Western, die so gnadenlos und gewalttätig den anti-zivilisatorischen Nihilismus des prä-kapitalistischen Westens skizzieren.

Artifizielle Kunstwelt mit zu komplexem Plot

Das spricht für eine realistische Erzählweise. Tatsächlich stecken in „The English“ zwei Geschichten. Die eine will hyperdramatisch den Gründungsmythos dekonstruieren. Die andere ist ein berührendes Melodram, in dem sich mit Locke und Whipp zwei Menschen begegnen, die ihre kulturellen Grenzen überwinden, auch weil sie lernen, miteinander zu sprechen. Höchst künstlich und eloquent ist diese Sprache. Der zunächst sehr kurzangebundene Whipp und die hochgebildete englische Lady werden  bald am nächtlichen Lagerfeuer poetische Gespräche führen. Allerdings sprechen auch andere Figuren so, auch wenn sie gerade im Begriff sind jemanden zu töten. Diese elaborierte Theatersprache verwandelt „The English“ in eine ambitionierte Kunstwelt, quasi in einen Mix aus Spaghetti-Western und Arthouse.

Realistisch im herkömmlichen Sinne ist dies nicht. Mitunter glaubt man, dass Blick der Erbarmungslosigkeit des Wilden Westens mit einem neuen Mythos begegnen möchte: dem von der Schönen und dem edlen Wilden. Faszinierend aber ist das aber schon, denn Emily Blunt („A Quiet Place“ I und II, „Oppenheimer”) und Chaske Spencer („The Twilight Saga” 2009-2012) performen auf Oscar-verdächtige Weise – ein brillantes Paar, das unterschiedlicher nicht sein könnte, aber genau weiß, dass man dem anderen bedingungslos trauen kann. Beide sind Verlorene, beide werden sich am Ende gegenseitig als ihre Heimat bezeichnen. Die einzige, die ihnen geblieben ist. Dies ist die emotionale Grundierung der Serie. Und man wünscht sich, dies wäre kein Mythos.

Erzähltechnisch gelingt Blick leider nicht alles. Denn was die Geschichte mit Lockes totem Sohn zu tun hat, versteckt Hugo Blick in einem nicht auf Anhieb zu verstehenden Geflecht von Nebenhandlungen und zahlreichen Flashbacks, die nur sehr langsam aufdröseln, welche Rollen der englische Rinderbaron Thomas Trafford (Tom Hughes) und der einflussreiche General Store-Besitzer David Melmont (Rafe Spall spielt den Massenmörder und Vergewaltiger leider viel zu outriert) in dem mysteriösen Plot einnehmen. Hinzu kommen noch bizarre Figuren wie die steinalte Outlaw-Anführerin und Indianer-Hasserin Black Eyed Mog (Nichola McAuliffe) und ein kauziger, aber ziemlich schlauer Sheriff, der ausgerechnet den Nachname Marshall trägt (Stephen Rea war bereits in „The Shadow Line“ mit von der Partie; für seine Rolle „The Honourable Woman” gewann er den BAFTA Award und für „The English“ den Irish Film & Television Award). Eine kohärente Geschichte sieht anders aus. Und das nicht nur in den klassischen, häufig stereotypen Western, sondern auch in Neo-Klassikern wie Clint Eastwoods „Unforgiven“.

„The English“ erzählt unterm Strich von einem barbarischen Alptraumland, das von Sadismus, Gewalt und Rassismus in einem Maße beherrscht wird, das den Westen des ausgehenden 19. Jh. in eine Landschaft verwandelt, in der die Psychopathen darüber entscheiden, was Recht und Unrecht ist. Ohne Schuld ist da keiner. Auch Whipp nicht, der vor vielen Jahren angesichts eines Massakers an einem Cheyenne-Stamm untätig blieb.
Natürlich spielt der Genozid an den „First Nation“ eine Schlüsselrolle in Blicks Story, aber dieser historische Blickwinkel bietet keine neuen Erkenntnisse. Wer erst nach „The English“ begreift, dass es sich bei der Verdrängung der Indianer erst um Völkermord und später um eine zerstörerische Akkulturation handelte, hat eine Menge Western verpasst. Und auch aufgrund eines unbefriedigenden Endes ohne echte Katharsis weiß man zum Schluss nicht, was Hugo Blick wirklich im Sinne hatte. Erst der Epilog der Serie, der 13 Jahre später in England spielt, rettet die Serie mit einer gnadenlos guten Schlussszene, in der Identität, Stolz und Selbstbehauptung der
„First Nation“ auf wundersame Weise gerettet werden. Man möchte dies glauben. Wer es nicht tut, muss sich Sterlin Harjos und Taika Waititis Serie „Reservation Dogs“ anschauen.
Einer der besten Western seit Jahrzehnten, wie ein Kritiker glaubte, ist „The English“ nicht. Auch nicht ein seltenes, sensationelles Meisterwerk, wie der Kritiker des „Guardian“ feststellte. Aber dank der beiden überragenden Hauptdarstellern und auch dank des ästhetischen Konzepts ist Hugo Blick ein Sechsteiler gelungen, den man trotz einiger Schwächen nicht so schnell vergessen wird. Zumindest erfährt man, was die Duttons in Taylor Sheridans „Yellowstone“ zu dem gemacht hat, was sie sind.

Überarbeitete Fassung vom 25.11.2023

Trivia

  • „The English“ lief in Deutschland zunächst bei Magenta TV und ist jetzt auch im Portfolio von Amazon Prime Video abrufbar. Und das für den erstaunlichen Staffelpreis von weniger als 6 €!
  • Die Backstory von Eli Whipp ist historisch korrekt. Viele Pawnees hassten das Leben in der Reservation und gingen als Scouts zur US-Army. Die in der Serie gezeigten Wagons Trains sind nicht ganz korrekt. Sie fanden 2-3 Jahrzehnte früher statt und hatten 1890 ihren Zenit längst überschritten.
  • Die Pawnees gehörten bis weit in 19. Jh. zu den mächtigsten Indianerstämmen und waren für ihre ausgedehnten Raubzüge berühmt-berüchtigt. Am 5. August 1978 wurden die Pawnees Opfer eines Massakers, das von verbündeten Sioux-Indianern verübt wurde. Diese blutigen Kriege zwischen den verfeindeten Stämmen bleiben oft unerwähnt, gehören aber ebenso zu den historischen Fakten wie der Genozid durch weiße Männer.
  • Dass Hugo Blick mehr richtig als falsch gemacht hat, beweist auch ein Blick in die Foren, wo einige von einem woken Rührstück faseln. White Supremacy ist auch in Deutschland unterwegs...

Noten: BigDoc = 2

„The English“ – BBC Two, Amazon Prime Video 2022 – Miniserie (6 Episoden) – Showrunner, Autor und Regisseur: Hugo Blick – Kamera: Arnau Valls Colomer – Musik:  Federico Jusid – D.: Emily Blunt, Chaske Spencer, Rafe Spall, Stephen Rea, Tom Hughes.