Samstag, 18. November 2023

Deutsches Haus - Disney+ erzählt vom ersten Auschwitz-Prozess

Wenn man bei Google nach „Deutsches Haus“ sucht, findet man natürlich Einträge zu der neuen Disney+-Serie. Aber noch mehr Links zu gleichnamigen Restaurants, Kneipen und Hotels, die so heißen. „Deutsches Haus“: das steht für Tradition, für gutbürgerliche Küche, die Schweineschnitzel, Spiegeleier mit Bratkartoffeln oder Kohlroulade nach Hausfrauenart anbietet. „Deutsches Haus“ ist ein Synonym für Dignität.

In der neuen Disney+-Serie wird diese Dignität und besonders das Gutbürgerliche vollständig auseinandergenommen. Showrunner Annette Hess erzählt vom ersten Auschwitz-Prozess in Jahren 1963-1965 und was dies mit einer naiven jungen Frau macht, die mit dem Holocaust und dem eisigen Schweigen der Verantwortlichen und der Mitläufer konfrontiert wird. Das Schweigen der Milieus will Verdrängung und Vergessen. Die von Katharina Stark herausragend gespielte Hauptfigur will es nicht und wird prompt mit den Tabuzonen der eigenen Familiengeschichte konfrontiert. Ein Riss, der sich nicht schließen lässt.

Eine Frage der Semantik

Ob es heute noch Hausfrauen gibt, die nach Hausfrauenart kochen können, sei dahingestellt. In der neuen Disney+-Serie, die ab dem 16. November online ist, scheint die Familie Bruhns dies offenbar gut zu können. Sie führt ein Restaurant mit dem Namen „Deutsches Haus“ und der Schankraum ist immer rappelvoll.
Wir sind im Jahr 1963. 18 Jahre nach Kriegsende haben sich Ludwig Bruhns (Hans-Jochen Wagner) und seine Frau Edith (Anke Engelke) ins mittelständische Milieu hochgearbeitet. Annegret (Ricarda Seifert), eine ihrer beiden Töchter, ist Krankenschwester. Eva (Katharina Stark) geht ihren eigenen Weg: sie ist Europasekretärin, spricht Polnisch, kennt sich mit Wirtschaftsrecht aus und ist als Dolmetscherin und Übersetzerin gefragt.

Eher zufällig wird sie von der Frankfurter Staatsanwaltschaft engagiert. Man will die Aussage eines polnischen Juden protokollieren, einem Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Und Eva übersetzt. Von „Herberge“ ist die Rede, von einem Raum, in den die „Gäste“ geführt und in dem sie „erleuchtet“ wurden.
Entsetzen macht sich breit. Eva greift zum polnisch-deutschen Wörterbuch und ist auch bestürzt: tatsächlich war die Rede von Häftlingen, die in einem großen Raum eingeschlossen und danach vergast wurden. Trotz dieses Fauxpas wird Eva ein Job als Übersetzerin beim Auschwitz-Prozess angeboten, die Zeit drängt. Doch was bedeutet „Auschwitz“? Eva weiß es nicht.

Eine naive, junge Person voller Ideale und Ambitionen mit den Härten der Realität zu konfrontieren, ist ein für den Bildungsroman des 18.und 19. Jahrhunderts typisches Narrativ. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Welten führt die Helden dieses Genres in die Desillusionierung, lässt sie aber reifen. Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ war ein literarischer Meilenstein. Thomas Manns „Zauberberg“ war es Anfang des 20. Jh. auch, aber der Schriftsteller lässt seine Figur am Ende scheitern. Trotz seines Bildungshungers zieht Hans Castorp als Soldat in den 1. Weltkrieg.

Die Geschichte des ersten Auschwitz-Prozesses aus der Perspektive der naiven Hauptfigur zu erzählen, ist daher eine ausgezeichnete und sehr schlüssige Idee. Showrunner und Drehbuchautorin Annette Hess erzählen die Geschichte ihrer Hauptfigur als Familiengeschichte und verwenden dabei zunächst ziemlich geschickt sowohl tradierte als auch mainstream-kompatible Erzählmittel. Sie verfehlen ihre emotionale Wirkung nicht und haben das Potential, im nächsten Schritt zur Reflexion führen zu können.

Aber das Nachdenken steckt wie immer im Konjunktiv fest. Immerhin ist der Trend positiv: Laut der MEMO-Jugendstudie von 2021 sind 84,8% der Befragten zwischen 16 und 25 Jahren davon überzeugt, dass man sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen muss. In der neuen Disney+-Serie erfährt man nun, dass dies früher ein No-Go war. Der Zeitgeist der jungen Bundesrepublik in den 1950er- und 1960er-Jahren bestimmte eine Kultur des Nichtwissens und des Leugnens, so als hätte der Nationalsozialismus nicht stattgefunden.
Die Befragung der Generation stimmt positiv, allerdings nehmen die zunehmende Ablehnung des Erinnerungskultur und der in den letzten Jahrzehnten ständig präsente Antisemitismus in Deutschland wieder zu, auch wegen der aktuellen Ereignisse in Gaza. Der Rechtspopulismus, der schleichend auch in etablierten Parteien zum Gedankenexperiment wird, besitzt eine neue Semantik. Sie wabert zwischen dem Gesagt-werden-können und dem So-nicht-so-gemeint-haben-wollen hin und her. Eine unheilvolle Dialektik, in der alles denkbar und möglich ist, wenn man das Gesagte anschließend dementiert oder relativiert.

Vox populi, die Stimme des Volkes, ist da schon etwas kompromissloser, ehrlicher und ekliger. In den Foren wird das „öffentlich-rechtliche Belehrfernsehen“ attackiert, das die Menschen mit „woken“ Inhalten traktiert. Und jeder fünfte wahlmündige Deutsche wählt eine Partei, deren heimlicher Führer gerichtsfest als Faschist bezeichnen werden darf. Und der ankündigte, dass seine Kritiker AUSgeSCHWITZt werden müssen. Das sind die Wortspiele eines neuen Horrors.

Niemand wusste es. Angeblich.

Das Wort „Auschwitz“ kennt Eva also nicht. Auch ihre Eltern kennen es nicht. Niemand kennt es. Und da Eva nicht googeln kann, bleibt es bis zu ersten Prozesstag auch so. Ein Staatsanwalt rät Eva daher vorausschauend, alle polnischen Wörter für „Ermorden“, „Totschlagen“, „Foltern“ und „Massakrieren“ zu lernen.

Mit dieser Semantik können auch die Angeklagten nichts anfangen. Jene, die einräumen, dass sie als SS-Männer in Auschwitz waren, haben nichts gesehen, nicht einmal den Rauch aus dem Schornstein des Krematoriums, in dem die Ermordeten verbrannt wurden. Im realen Prozess, deren Tondokumente im Internet abgerufen werden können (s. Quellen), konnten sich die Angeklagten nicht einmal mehr an Aussagen erinnern, die sie zwei Jahre zuvor eidesstattlich unterschrieben hatten. Das und anderes wird in der Serie leider nicht gezeigt.

Hauptankläger Hans Kübler (Max von der Groeben) hat keinen leichten Stand. Die Verteidiger der Täter sind aggressiv und versuchen, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu beschädigen. Dr. Fritz Jerichow (fies gespielt von Sabin Tambrea), bezeichnet die Zeugen als Lügner und Eva Bruhns als dilettantische Übersetzerin – bis zum Auftritt der völlig traumatisierten Dr. Rachel Cohen, die nach ihrer Aussage zu den Angeklagten geht und von einem Jungen erzählt, der erst zwei Tagen im KZ war und ihr sagte, dass er „ins Gas müsse.“ Es ist ein Glanzauftritt von Iris Berben: „Und Sie wollen behaupten, dass Sie jahrelang nichts gewusst haben, aber ein Kind bereits nach zwei Tagen Bescheid wusste?“, schreit sie die den Tätern ins Gesicht. Sie verlässt das Gericht und läuft geradewegs in ein Auto. Ihr Tod gehört zu den überkonstruierten Szenen, die später überhandnehmen werden.

Den rauchenden Schornstein wird Eva später in einem Bild entdecken, dass ihre ältere Schwester als Kind gemalt hat. Annegret zerreißt das Bild hastig. Eva ist alarmiert und sucht in den Prozessakten nach dem Namen „Bruhns“ – und findet ihn. Ihr Vater war in Auschwitz SS-Rottenführer und Koch im Kasino. Er wird Eva erklären, dass dies die „schönste Zeit seines Lebens“ war, denn endlich hätte man als Familie an einem Ort zusammenleben können. Hans-Jochen Wagner spielt einen Mann, der seine Familie liebt. Er ist warmherzig, empathisch und mit sich im Reinen. Sehen so Monster aus?

Wenn in der ersten Episode einer der Richter in einer Naheinstellung minutenlang die Anklageschrift mitsamt den Gräueltaten der Angeklagten vorliest und zwischendurch einen Schluck Wasser trinkt, weil die Stimme versagt, werden die Monster allerdings greifbar.
Ähnlich pointierte Momente zeigen, dass die Regisseurinnen Randa Chahoud und Isabel Prahl filmästhetisch gute Lösungen für die Darstellung des Unerhörten gefunden haben. Dazu gehört auch die Musik von Dascha Dauenhauer (Deutscher Filmpreis und Europäischer Filmpreis für „Berlin Alexanderplatz“; „Der Schwarm“), die sich mit sperrigen Klängen dem flüchtigen Konsum der Serie wiedersetzt.

Die Darstellung des Prozesses ist faktengetreu

„Deutsches Haus“ basiert auf dem gleichnamigen Roman (2018) von Annette Hess. Hess ist weniger Schriftstellerin, sie gehört vielmehr zu den renommiertesten Drehautoren Deutschlands. Die von ihr entwickelte TV-Serie „Weissensee“ erhielt 2011 den Deutschen Fernsehpreis als beste Serie, die dritte Staffel gewann 2016 den Grimme-Preis. Hohe Einschaltquoten erzielte das ZDF mit „Ku’damm 56“. Hess schrieb das Drehbuch für die Geschichte über drei Schwestern, die sich in der 1950er-Jahren mit den stockkonservativen weiblichen Rollenmodellen im Deutschland der Restauration auseinandersetzen müssen. Hess war Creative Producer der Serie und auch an den Fortsetzungen beteiligt.

Für Annette Hess war die Verfilmung ihres Romans „Deutsches Haus“ nicht nur eine persönliche, sondern angesichts der aktuell zunehmenden antisemitischen Angriffe auf deutsche Juden auch eine politische Herzensangelegenheit. Als Zehnjährige sah sie 1977 Stanley Kramers „Das Urteil von Nürnberg“ – ihr erster Kontakt mit dem Holocaust. Einen Vergleich mit dem Filmklassiker müssen Buch und Serie nicht scheuen, denn Hess gelingt es, einen sehr genauen und auch persönlichen Blick auf die Nachkriegszeit zu werfen.

„Zentral (…) ist die Frage, warum unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist. Es wird sehr deutlich an den Figuren der Kriegskinder Eva und Annegret Bruhns. Ihre Generation durfte keine Fragen über die Vergangenheit ihrer Eltern stellen. So findet natürlich keine Aufarbeitung statt, sondern Verdrängung“, erklärte die Autorin in einem Interview.

Diese Aufarbeitung gelingt der Serie über weite Strecken sehr gut. Was unter die Haut geht: die Gerichtsszenen folgen wortgetreu den Protokollen und Tonbandaufnahmen des Prozesses. So erhält die Fiktion eine Authentizität, die in unseren non-faktischen Zeit immer wichtiger wird, obwohl oder gerade, weil sie immer weniger Beachtung findet. Die Dokumente sind auf der Website des Fritz Bauer-Instituts öffentlich zugänglich. Aufschlussreich sind die Schlussworte (als Mitschrift und Tonaufnahme) der Angeklagten Boger und Schlage (Befehlsnotstand, Whataboutism).

Nicht alles ist stimmig

Dramaturgisch orientierte sich Hess wie auch im Buch am Subgenre „Familiengeschichte“. Dazu gehören by the way wie in „Ku’damm“ die (auch sexuellen) Befreiungsversuchen junger Frauen in der langsam austrudelnden Restaurationsphase der Bundesrepublik. Diesen Tropus findet man auch in der Serie. So ist Eva mit Jürgen Schoormann (Thomas Prenn), dem reichen, erzkonservativen Sohn eines Versand-Unternehmers (Henry Hübchen) verbandelt. Jürgen will seine zukünftigen Verlobte nicht im Gerichtssaal sehen und ist rätselhafterweise auch nicht interessiert an Evas intimen Angeboten.

Backstorys sind dramaturgisch fast immer notwendig. In „Deutsches Haus“ laufen sie leider häufig aus dem Ruder. Der zu einer wichtigen Nebenfigur aufgebaute Staatsanwalt David Miller (Aaron Altaras) bleibt unscharf, sowohl, was seine Rolle und seine Motivation während des Prozesses betrifft, als auch in seiner Fixierung auf die Prostituierte Sissi (Alice Dwyer), die ihn anzieht und gleichzeitig abstößt. Warum dies erzählt wird, erschließt sich zunächst nicht. Später räumt David ein, dass er und sein Bruder nicht wie behauptet im Lager waren, sondern dass die Familie sicher in Kanada lebt. David leidet also am sogenannten Überlebensschuld-Syndrom, einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er verschwindet sang- und klanglos aus der Serie. Das alles wirkt überkonstruiert, hat aber wenigstens etwas mit dem Thema zu tun.

Andere Charakterentwicklung wirken in „Deutsches Haus“ dagegen prätentiös. Evas Verlobter, der kein Interesse an Sex hat, offenbart sich irgendwann seinem Vater: Er hat in den Kriegsjahren als Kind (!) einen alliierten Fallschirmjäger zu Tode geprügelt und dabei einen „Samenerguss“ gehabt. Was soll dem Zuschauer damit erklärt werden?
Evas Schwester Annegret, die sich als Krankenschwester auf eine sexuelle Affäre mit dem Chefarzt eingelassen hat, wird dabei ertappt, dass sie Säuglingen Coli-Bakterien spritzt, um die danach lebensgefährlich erkrankten Kinder durch liebevolle Pflege „zu retten.“ Annegret, die sich fleißig an der Verdrängungsarbeit der Familie Bruhns beteiligt, wird ebenso wie David psychopathologisiert, was im Falle Annegrets den Schluss nahelegt, dass die Nazis und ihre Mitläufer allesamt geisteskrank waren und ihre Befindlichkeit an ihre Kinder weiterreichten.

Mit dieser schwer nachvollziehbaren Figurenentwicklung bewegt sich die Serie leider zu sehr in der Grauzone zwischen Melodram, Soap und fehlender psychologischer Plausibilität. Das Subgenre „Familiengeschichte“ funktioniert erst dann wieder überzeugend, als Eva immer intensiver in die eigene Familiengeschichte vordringt. In den letzten beiden Folgen erfährt sie, und das ist dann wirklich eine starke Szene, dass ihre Eltern Überzeugungstäter waren. Sie denunzierten Robert Mulka (Martin Horn), einen der Hauptangeklagten, beim Reichssicherheitshauptamt, weil dieser sich kritisch über Goebbels berüchtigte Sportpalastrede („Wollt ihr den totalen Krieg?“) geäußert habe. Da stehen die Eltern nun nach Worten ringend vor ihrer Tochter und bezeichnen sich als potentielle Opfer, die ohne diese Denunziation selbst im Lager gelandet wären. Hier trifft Hess den Kern, denn diese Entlastungsstrategien bildeten neben dem absoluten Schweigen den Kern der deutschen „Bewältigungskultur“. Eva packt ihren Koffer und geht.

Auschwitz-Prozess ohne Fritz Bauer

„Deutsches Haus“ mäandert also zwischen einigen misslungenen Momenten und glanzvollen Szenen. Dies wurde von den meisten deutschen Kritikern nicht aufgearbeitet. Offenbar wurden „Erinnerungskultur“ und „Bekenntniskultur“ verwechselt.
Aber auch eine Serie, die unzweifelhaft und sehr ambitioniert auf einem hohen moralischen Niveau agiert, kann Leerstellen und Macken aufweisen. Dies muss erläutert werden. Unverständlich ist zum Beispiel, dass der für den Auschwitz-Prozess eminent wichtige Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (Thomas Bading) – die wohl wichtigste historische Figur bei der Vorbereitung des ersten Prozesses und auch der nachfolgenden – in der Serie keine große Rolle spielt. Die kurzen Auftritte des jüdischen Juristen laufen eher unter dem Label „pflichtschuldig“, sind kurz und nichtssagend. Fritz Bauer wird zwar im Abspann genannt, aber weder in der IMDB noch in der Besetzungsliste von crew-united taucht der Nazijäger auf.

Hier muss man an die Filme von Giulio Ricciarelli („Im Labyrinth des Schweigens“, 2014) und Lars Kraume („Der Staat gegen Fritz Bauer“, 2015) erinnern, die diese Lücke schließen, sich zudem dramaturgisch noch näher am Hauptthema befinden und Nebenplots nur am Rande mitlaufen lassen.
Ricciarelli erzählte ebenfalls von einer naiven Hauptfigur, dem jungen Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling). Als einziger Staatsanwalt der Frankfurter Justizbehörde will sich Radmann mit dem Thema Auschwitz und den NS-Kriegsverbrechen beschäftigen. In dem Politthriller findet der Jurist heraus, dass die Angeklagten von Netzwerken geschützt werden, in denen die Polizeibehörden, das BKA und der BND interagieren. Der BND wurde tatsächlich erst ab Mitte der 1960er-Jahren von den Nazis gesäubert.

„Im Labyrinth des Schweigens wird der beginnende Wandel der deutschen Nachkriegsjustiz mit präzisen, genau beobachteten und gut recherchierten Szenen zu einer durchweg spannenden, aber nicht künstlich dramatisierten, einzigartigen Rekonstruktion deutscher Geschichte und deren Be- und Empfindlichkeiten“, schrieb ich vor neun Jahren. Ricciarellis Film war analytisch genauer und präziser auf die politisch-historischen Hintergründe des Prozesses fokussiert als die Geschichte von Annette Hess.

In Kraumes „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) dreht sich fast alles um Bauers Beteiligung an der Entführung von Adolf Eichmann, dem Cheflogistiker des Holocaust. Aber auch um die Frage, ob Bauer homosexuell war (daran ließ der Film keinen Zweifel aufkommen). Nicht ganz unwichtig, denn über Bauer schwebte der Paragraph 175, der erst 1969 den Sex zwischen Männern über 21 Jahren straflos stellte. Endgültig abgeschafft wurde der Paragraph erst 1994! In Kraumes Film geht der von Ronald Zehrfeld gespielte Staatsanwalt Karl Angermann nach einer Selbstanzeige wegen Homosexualität freiwillig ins Gefängnis, um nicht mehr erpressbar zu sein. Ob Bauers Backstory notwendig war? Eher nicht.
Positiv: Kraumes Film war insgesamt actionreicher und erzählte sehr faktenbasiert die Geschichte eines Nazijägers, der gegen das gesamte System antrat: „Wenn ich mein Amtszimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland“, soll Bauer einmal gesagt haben.

Dies stimmte, denn zu dem labyrinthischen System gehörten auch Politiker wie der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl, der 1962 als junger Landtagsabgeordneter dafür sorgte, dass Auschwitz aus den Schulbüchern in Rheinland-Pfalz gestrichen wurde. Fritz Bauer hatte ein Referat über „Die Wurzeln faschistischen und nationalsozialistischen Handelns“ geschrieben, das in einer Broschüre den Schulklassen zugänglich gemacht werden sollte. Helmut Kohl begründete seine Entscheidung damit, dass der zeitliche Abstand zum Nationalsozialismus zu gering sei, um sich darüber ein abschließendes Urteil bilden zu können. Und dies, obwohl Kohl, der später von der Gnade der späten Geburt sprach, alles andere als ein Altnazi war. Dies erzählt einiges über die „Bewältigungskultur“ in den 1960er-Jahren, gegen die sich wenige Jahre später die „68er-Bewegung“ auflehnte.

Auch das Fernsehspiel „Die Akte General“ (2016) von Stephan Wagner, in dem Ulrich Noethen den Generalsstaatsanwalt spielt, sollte man sich anschauen. Wagner erzählt von Fritz Bauers gescheitertem Versuch, einen ehemaligen Mitarbeiter des Reichsinnenministeriums vor Gericht zu bringen. Es handelt sich Hans Globke, der es als Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze schaffte, nach dem Krieg unter Bundeskanzler Konrad Adenauer zum Chef des Bundeskanzleramtes zu werden.

Summa summarum hätte Fritz Bauer in „Deutsches Haus“ also mehr Beachtung finden müssen, auch wenn dies dramaturgisch nicht ganz einfach gewesen wäre. Allerdings hätte ein auf den Prozess bezogenes Gespräch zwischen Fritz Bauer und Eva Bruhns mühelos im Drehbuch untergebracht werden können. Stattdessen feuert Bauer seine Übersetzerin, weil ihr Verlobter es so will. Viel mehr ist von Fritz Bauer, der mittlerweile als einer der wichtigsten Juristen der Nachkriegsgeschichte gilt, nicht zu sehen.

Der Schluss lässt vieles offen

Drei großartige Szenen hat „Deutsches Haus“ noch zu bieten. In der 4. Episode „Der Ort“ reisen Mitglieder der Frankfurter Staatsanwalt und der Verteidigung nach Polen, um den KZ-Komplex Auschwitz mit eigenen Augen zu sehen – und zu vermessen. Konnten die, die nichts gesehen haben wollen, tatsächlich nichts sehen? Es kommt zu einer Schweigeminute vor der Todeswand, an der Zehntausende erschossen wurden, und Annette Hess zeigt die schweigenden Besucher ungekürzt in einer einzigen ungeschnittenen Einstellung. Das geht unter die Haut.

Sehr gelungen ist auch die Entwicklung von Diana Boger (Runa Greiner), der Tochter des Hauptangeklagten Wilhelm Boger (Heiner Lauterbach). Die Beziehung zu ihrem geliebten Vater löst sich in Nichts auf, als sie mit versteinerter Miene und schließlich auch weinend erfährt, dass ihr Vater der Erfinder der „Boger-Schaukel“ war, einem Folterinstrument, das er bei verschärften Verhören als „Sprechmaschine“ bezeichnete. Die Häftlinge nannten Boger die „Bestie von Auschwitz“, auch weil er den Kopf eines jüdischen Kindes an einer Wand zertrümmerte. Dessen einzige Schuld war es, einen Apfel zu besitzen. Der reale Wilhelm Boger starb 1977 in der Haft.

Auch Eva Bruhns, mittlerweile ohne Job, Verlobten und Familie, hat noch einen bemerkenswerten Auftritt, als sie in einem Friseur einen ehemaligen Auschwitz-Häftling erkennt. Von ihm will sie sich in einem Akt der Selbstkasteiung den Kopf kahlscheren lassen. Der Friseur reicht ihr den Mantel und bittet sie zu gehen. Er blickt ihr nach: „Sie wollen, dass wir sie trösten.“

Leider enttäuscht trotz dieser denkwürdigen Szenen ausgerechnet die fünfte und letzte Episode „Das Urteil“. Über die Urteile erfährt man kaum etwas. Die Kamera entfernt sich aus dem Gerichtssaal, zeigt ein Radio, man hört die Urteilsverkündung, die langsam ausgeblendet wird. Annette Hess bleibt stattdessen bei ihrer Hauptfigur und wie in einem Bildungsroman erfährt man, was Eva gelernt hat: Selbstbehauptung, Emanzipation und die Ablehnung eines frauenfeindlichen Rollenmodells. „Deutsches Haus“ will also beides sein: eine Abrechnung mit dem Geschichtsrevisionismus, der bis in die Gegenwart hineinreicht, aber auch eine feministische Parabel.
„Deutsches Haus“ (engl. The Interpreter of Silence) ist trotz dieser vermeidbaren Schwächen eine gelungene mediale Reflexion über die Komplexität des Schweigens und der Verdrängung und die Ablehnung von Schuld und Mitschuld. Aber auch ein kulturgeschichtliches Erinnern an die muffige und spießige Muffigkeit der Nachkriegsjahrzehnte. Auch wenn die Episoden des Fünfteilers beinahe Spielfilmlänge haben, ist dies eine gewaltige Aufgabe, die nicht durchgehend gelungen ist.

Annette Hess und ihre Regisseurinnen erzählen ihre Geschichte weniger als Courtroom-, sondern als Familien-Drama. Das spart viele komplexe politische Dimensionen des Themas aus, erreicht wohl aber emotional viele Zuschauer, die nicht allzu tief in die Hintergründe eintauchen wollen.
Ob die Disney+-Miniserie am Ende ähnliche Bedeutung erhält wie Ende der 1970er-Jahre Marvin J. Chomskys US-Serie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ (1978), das wage ich zu bezweifeln. Kritisiert als Seifenoper, erreichte „Holocaust“ vor fast einem halben Jahrhundert allein in Deutschland 20 Millionen Zuschauer. Auch solche, die trotz der Auschwitz-Prozesse immer noch nicht wussten, was in den Kriegsjahren geschehen war. Viele Jahre später erkannte man, dass die „Seifenoper“ einen Turnaround in der deutschen Gesellschaft provoziert hatte.

Die Verhältnisse haben sich seither geändert.

Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden“ (Fritz Bauer, 1903-1968).

Note: BigDoc = 2

Deutsches Haus – Disney+ 2023 – 5 Episoden (56-65 Minuten) - Showrunner, Drehbuch: Annette Hess – nach dem gleichnamigen Roman von Annette Hess – Regie: Randa Chahoud und Isabel Prahl – Musik: Dascha Dauenhauer – D.: Katharina Stark, Anke Engelke, Hans-Jochen Wagener, Ricarda Seifried, Thomas Prenn, Henry Hübchen, Heiner Lauterbach, Iris Berben, Martin Horn, Max von der Groeben, Hans Hofmeyer.

Trivia

  • Mit dem Label UHD und Dolby Vision konnte Disney+ nicht punkten. Dass die Farben matt sind, kann man als Stilmittel akzeptieren. Dass sie streckenweise wie überbelichtet aussehen, ist jedoch ziemlich merkwürdig. Auch tontechnisch ist „Deutsches Haus“ kein Volltreffer geworden. Es wird viel genuschelt. Das ist zwar realistisch, aber ab und an sehnt man sich beim Zuhören nach einer Nachsychronisation, wie man sie aus US-Serien kennt. Früher wurde der Ton „geangelt“, heute werden oft Körpermikrofone schlecht eingesetzt und die Darsteller nuscheln absichtlich, weil sie das für authentisch halten. 
  • Die Wikipedia punktet auch nicht: der Verfasser des Beitrags zitiert bei der Inhaltsangabe lediglich den PR-Text von Disney+.

Quellen