Samstag, 13. Juli 2024

Der verrückte Sherlock Holmes (1971)

1971 kam ein Film in die Kinos, der über ein halbes Jahrhundert später in die Rubrik „verlorene Filme“ passte. Also ein Film, den man nicht einmal in der Nacht auf einem Spartensender sehen kann. „Der verkehrte Sherlock Holmes“ (They Might Be Giants) ist so ein Film. Jahrzehntelang konnte ich einen meiner Lieblingsfilme nicht auftreiben. 

Nun gibt es ihn offenbar doch: auf Bluray (englische Fassung, extrem teuer) und als deutlich preiswertere DVD mit einem mehr als ordentlichen Bild. Eine Neuentdeckung lohnt sich.

Auf der Jagd nach Professor Moriarty

Wenn die Zuschauer George C. Scott mit Inverness-Mantel und Deerstalker-Mütze zum ersten Mal zu sehen, ist auch die Meerschaumpfeife nicht weit. Der Zuschauer weiß sofort, wen er sieht. Die Embleme lassen nur einen Schluss zu: Scott spielt den legendären Detektiv Sherlock Holmes aus den Romanen von Arthur Conan Doyle.
Doch der Eindruck trügt. Scott ist nicht Holmes, sondern er heißt Justin Playfair, ein Name mit einem metaphorischen Charakter. Der ehemalige Starjurist erlitt nach dem Tod seiner Frau ein massives Trauma, er vergaß alles und verwandelte sich über Nacht in Sherlock Holmes. Ein Mann mit neuer Identität, ein Kämpfer für die Gerechtigkeit. Und ein Paranoiker, wie einige Psychiater diagnostizierten. Aber die wurden von Justins Bruder, Blevins Playfair (Lester Rawlins), bezahlt. Und der erzählt ausgerechnet einem Briefboten freimütig, dass er seinen Bruder in der Irrenanstalt einsperren will, um dessen Vermögen kontrollieren zu können. Eine der wenigen dramaturgisch plumpen Szenen, die sich Regisseur Anthony Harvey in seinem Film leistete.

Für den fiesen Coup fehlt nur noch die Unterschrift der Psychiaterin Dr. Mildred Watson (Joanne Woodward), die Playfair in der Anstalt aufsuchen soll. Grandioser Auftritt von Playfair aka Sherlock Holmes: Er wird Zeuge, wie ein Patient mit Gewalt in seine Zelle gebracht werden soll. Holmes, nach dieser Szene können wir ihn so nennen, schreitet ein, überwältigt zwei Pfleger mit Jiu-Jitsu und heilt natürlich brillant den Patienten an Ort und Stelle. Dieser schweigt nur deshalb seit Jahren, weil niemand in ihm einen der berühmtesten Stummfilmdarsteller aller Zeiten erkannt hat: Rudolph Valentino. Fall gelöst!

Eine Folie à deux, die ins Glück führt

Mildred Watson ist von dem analytischen Scharfsinn des „verrückten“ Detektivs sofort fasziniert und will vor ihrer schwerwiegenden Unterschrift mehr ihn erfahren. Holmes, der beim Namen Watson natürlich hellhörig geworden ist, nimmt die Psychiaterin mit auf eine skurrile Reise durch New York. Es ist eine Schnitzeljagd. Holmes will seinen ewigen Widersacher Professor Moriarty endlich stellen - und der hinterlässt überall Spuren. Der finale Showdown soll nach dem Drama an den Reichenbachfällen endgültig über Leben und Tod entscheiden. Die fast überall versteckte Botschaften und Hinweise, so glaubt Holmes fest, sind selbst in einem Mülleimer zu finden.

„Der verkehrte Sherlock Holmes“ ist kein Krimi, sondern eine bizarre und melodramatische Liebesgeschichte, in der zwei beschädigte Menschen zusammenfinden. Holmes, der seine alte Identität abgelegt hat, und Dr. Watson, eine hochdekorierte Medizinerin, die in ihrem Privatleben eine Totalversagerin ist. „Sie haben in ihrem Leben niemanden gefunden, der sie liebt“, stellt Holmes lakonisch fest, nachdem er Watson bis ins kleinste Detail analysiert hat. Denn Holmes, das ist klar, ist als genialer Detektiv natürlich auch ein genialer Psychiater.

Der Rest des Films ist die unumkehrbare Verwandlung dieser merkwürdigen Beziehung in eine Folie à deux, eine seltene, aber beunruhigende Geisteskrankheit, bei der in einer Paarbeziehung der Gesunde immer stärker in die wahnhafte Welt des Partners gezogen wird und sie schließlich als real anerkennt. Häufig erkrankt in derartigen Symbiosen der zuvor Gesunde heftiger als der Kranke. In „Der verkehrte Sherlock Holmes“ wird dies die Hauptfiguren ins Glück führen.

Was das Wahre in uns ist

Anthony Harvey, der 1968 mit „Der Löwe im Winter“ drei Oscars und zwei Golden Globe Awards gewann, konnte nie mehr an diesen Erfolg anschließen. Auch mit „Der verkehrte Sherlock Holmes“ nicht, den Harvey nach dreijähriger Pause drehte. Es gibt zwar brillante Szenen in „Der verkehrte Sherlock Holmes“, leider aber auch solche, in denen viele Nebenfiguren kaum mehr als Klischees sind und der Humor gelegentlich auf wackeligen Füßen steht.

Getragen wird der Film dagegen von George C. Scott und Joanne Woodward, der Frau von Paul Newman. Woodward interpretierte ihre Rolle nicht schlecht, aber wie in einer Screwball Comedy gelegentlich etwas zu überdreht, was der Figur nicht guttut. Woodward glänzte dagegen immer dann, wenn sie ruhige Parts spielte.
Scott mimte den „Verrückten“ mit Wucht und Ausstrahlung als brillanten Logiker, der im Gegensatz zu anderen die Realität genauer wahrnimmt und dank seiner moralischen Grundsätze bedingungslos für Gerechtigkeit kämpft. Besonders die ungerecht Behandelten oder jene Menschen, die von der Gesellschaft ausgespuckt wurden, erfahren von dem von ihnen verehrten „Holmes“ ehrlichen Respekt und eine beeindruckende Dignität.

Holmes Blick auf die Realität ist dabei ziemlich treffsicher. Jedes Ding hat eine zweite Seite, erklärt er Watson. Damit ist kein Antagonismus von Begriffen gemeint, sondern eine besondere Dialektik. Denn in allem steckt mehr, als man glaubt. Das gilt nicht nur für die Suche nach Moriarty, sondern auch für Menschen, bei denen das hinter einer Fassade Verborgene möglicherweise ihre wahre Identität ist. Damit stellt der Film die Fragen, ob man wahnsinnig sein kann, wenn man als Holmes glaubwürdig ist. Und ist es nicht eher wahnsinnig, wenn man eine Psychiaterin ist, der es nicht gelingt, geliebt zu werden und sich trotzdem nicht von dieser Identität lösen kann?
George C. Scott verkörpert diese Dialektik des Wahns faszinierend und er zieht mit ihr den Zuschauer auf seine Seite. Nur am Rande: zu der Figur passt die Stimme des deutschen Synchronsprechers Arnold Marquis‘ um Klassen besser als die Originalstimme von Scott.

Sozialkritik wie in einem Melodram

In Holmes und Watson verrückter Reise durch New York zeigt Anthony Harvey im Mittelteil sein Bild der Stadt: es gibt ewige Verlierer und Menschen, die sich im Moloch verlieren. Menschen, die permanent in den hinteren Rängen eines Kinos leben und nur einmal pro Woche in einer Obdachlosenunterkunft duschen. Andere, wie das Ehepaar Bagg, sind dagegen glücklich, weil sie „verrückterweise“ seit 40 Jahren aus Abscheu vor der Außenwelt ihre Wohnung nicht verlassen haben und stattdessen auf dem Dach Sträucher, Blumen und Tomaten züchten. Andere, wie der Bibliothekar Paebody (hervorragend von Jack Gilford gespielt), würden lieber als Scarlet Pimpernel mit dem Degen für Gerechtigkeit sorgen, obwohl er dafür zu schüchtern ist. Auf der anderen Seite stehen die Skrupellosen und von Gier Getriebenen, die Kinobetreiber, die ihre Dauergäste aus dem Kino werfen, weil sie fortan Pornos zeigen wollen, aber auch die vom System zur Absurdität Gezwungenen, die sozialkompatiblen, aber völlig empathiefreien Irrsinn verbreiten. Stichwort für Kenner des Films: die Auseinandersetzung in der Telefonvermittlung.

In solchen Szenen gelingen Harvey in „Der verkehrte Sherlock Holmes“ teils diskrete und teils grobe Reflektionen über Sein und Nichtsein in einer herzlosen Metropole. Der Originaltitel „They Might Be Giants”, ein Zitat aus Cervantes “Don Quijote”, ist daher programmatischer als der alberne deutsche Verleihtitel. Riesen werden zu können: Das gilt nicht nur für Menschen, die auf der Straße leben, sondern auch für Verrückte, die im Wahn die bessere Seite des Menschseins freilegen.
Dies ist zwar eine romantische Idealisierung des Psychopathologischen, möglicherweise auch etwas schlicht gestrickt. Aber im Kino der Gefühle ist das Melodram mit seinen heroischen und pathetischen Gesten zwar nicht realistisch, emotional aber ehrlich. Und die Musik des fünffachen Oscar-Preisträger John Barry ist sowieso zeitlos gut...

In „Der verkehrte Sherlock Holmes“ hat Holmes am Ende die Liebe wiedergefunden. Dr. Watson hat sie auch entdeckt und glaubt nun wie in einer klassischen Folie à deux an die Existenz Moriartys. Das Paar geht am Ende Hand in Hand in einen tiefdunklen Tunnel, in dem ihnen der Erzschurke entgegenreitet. Watson hört das Pferdegetrappel zunächst nicht, dann schließlich doch. Beide gehen halluzinierend in die Dunkelheit, während die Leinwand grellweiß wird.

Fazit: „Der verkehrte Sherlock Holmes“ ist kein vergessener Geniestreich. Es lohnt sich aber, diese schräge Geschichte neu zu entdecken – ein Melodram mit einem Schuss Sozialkritik, eine Komödie mit tragischen Momenten, eine Liebesgeschichte mit einem empathischen Plädoyer für das Andersartige, getragen von einem starken Schauspielerensemble.

Anmerkung: Einige Zuschauer ärgerten sich über das offene Ende. Vermutlich ist Watsons Reaktion auf das Pferdegetrappel einfach zu erklären: Tatsächlich gibt es kein Pferdegetrappel und Watson verfällt der gleichen Halluzination wie Holmes.

Für Filmklassiker gibt es keine Noten. Wer neugierig ist: es wäre eine 1,5 geworden.


„Der verkehrte Sherlock Holmes“ (They Might Be Giants) – USA 1971 – Regie: Anthony Harvey – Drehbuch: James Goldman – Musik: John Barry – Laufzeit: 88 Minuten – D.: George C. Scott, Joanne Woodward, Jack Gilford, Lester Rawlins, F. Murray Abraham (in seinem ersten Film).