Montag, 22. Juli 2024

„We Were The Lucky Ones" - eine Geschichte über das Überleben des Holocaust

Nach Deutsches Haus", einer Serie über den ersten Auschwitz-Prozess in Nürnberg, nahm Disney+ mit We Were The Lucky Ones“ eine weitere Serie über Shoah und Holocaust ins Programm auf. Die Serie umfasst die Jahre 1939-1945 und erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie in Polen. Die Kurcs haben kaum eine Überlebenschance, werden in alle Winde zerstreut und überleben am Ende doch.

We Were The Lucky Ones“ hat gelegentlich mit dem Pacing zu kämpfen, verweist aber sehr subtil über den historischen Rahmen hinaus auf den aktuellen Antisemitismus in Europa. Dem Rezensenten hat die Serie deutlich besser gefallen als der Film The Zone of Interest“. Der wurde von den Kritikern gefeiert, während die Serie von Erica Lipez weitgehend ignoriert wurde. 

Hoffnung ist kein Verbrechen, sondern eine Notwendigkeit

Es gibt viele Handlungsstränge in der Hulu-Serie, aber alle beschreiben das fast Unmögliche. Nämlich als Jude den Holocaust im Zweiten Weltkrieg zu überleben. In der achtteiligen Miniserie We Were The Lucky Ones“ erzählen Showrunner Erica Lipez und ihre Regisseure Thomas Kail, Amit Gupta, Measa Hardiman mit emotionalen, aber nie melodramatischen Bildern von diesem Wunder. Es ist die Geschichte der jüdischen Familie Kurc, die 1939 im polnischen Radom ins Räderwerk der Nazis gerät.
Die Eltern Sol (Lior Ashkenazi) und Nechuma (Robin Weigert) besitzen im polnischen Radom eine Modegeschäft. Sie spüren bereits seit einiger Zeit, dass der Antisemitismus in der polnischen Gesellschaft deutlich zugenommen hat. Nun sind die Deutschen einmarschiert und die Kurcs stellen sich die Frage: Bleiben oder fliehen? Aber nicht jeder in der Familie erkennt so klar wie ihre Tochter Halina (Joey King), dass das Bleiben ein Synonym für den Tod sein kann.
Halina (Joey King) ist die Jüngste der Geschwister. Addy (Logan Lerman) lebt als Komponist in Paris und will allen Warnungen zum Trotz zum Pessachfest nach Radom reisen. Mila (Hadas Yaron) ist mit Selim (Michael Aloni), einem Arzt verheiratet, Jakob (Amit Rahav) studiert Jura. Genek (Henry Lloyd-Hughes) ist der Älteste, er arbeitet als Anwalt in Radom und erlebt hautnah, wie jüdische Anwälte bereits Repressionen erfahren, bevor die Deutschen einmarschiert sind.

In den folgenden Jahren werden die Kurcs werden in alle Winde zerstreut, überleben aber Verfolgung und Deportation ebenso wie die russischen Lager und die polnischen Ghettos. Und auch den Widerwillen von Fluchtländern, die die europäischen Juden nicht aufnehmen wollen. Addy Kurc flieht nach Brasilien, landet zunächst im Senegal in einem Arbeitslager, kann mit seiner späteren Frau Eliska (Lihi Kornowski) aber fliehen. Andere Familienmitglieder tauchen mit gefälschten Papieren unter, werden wie Halina von den Nazis gefoltert, halten aber durch und werden als nicht-jüdisch anerkannt. Mila verliert ihren Job und wird trotz gültigen Ausreisegenehmigung nach Palästina mit anderen Juden zu einem Killing Field gefahren, wo sie und ihre Tochter der Massenerschießung nur knapp entkommen können. Genek landet mit seiner Frau Herta (Moran Rosenblatt) in einem sowjetischen Arbeitslager. Später wird Genek, der sich als Katholik ausgibt, Soldat in der polnischen Armee (die keine Juden akzeptiert) und überlebt 1944 ein Himmelfahrtskommando - den Kampf um Monte Cassino. Währenddessen sind Sol und Nechuma zu Fuß über die Alpen nach Italien geflohen.

Diese abenteuerliche Geschichte würde als Fiktion das unterlaufen, was man an Bildern über die Judenverfolgung im Kopf hat. „We Were The Lucky Ones“ erzählt weniger von den KZ’s und der Massenvernichtung, sondern vom Willen einer Familie, dem Holocaust mit allen Mitteln zu entgehen.
Glaubwürdig wird diese Geschichte durch ihre Authentizität. Sie basiert auf dem gleichnamigen Buch von Georgia Hunter, in dem die Schriftstellerin 2017 die Geschichte ihrer Familie beschrieb. Eine Familie, die verzweifelt kämpfte und am Ende wieder zusammenfand. „Hoffnung ist kein Verbrechen, sondern eine Notwendigkeit“, resümiert ganz am Ende Adam Eichenwald (Sam Woolf), der Mann von Halina.

Das Unbegreifliche erkennt man erst, wenn es vor der Wohnungstür steht

Erzählerisch läuft es bei der Serie nicht immer rund. In der ersten Staffelhälfte kämpften die Scriptwriter mit zu vielen Handlungssträngen. Die Flut der Ereignisse in eine übersichtliche Bildmontage zu integrieren, gelang dabei nur begrenzt. „We Were The Lucky Ones“ springt besonders in der zweiten Staffelhälfte zu oft und zu schnell von einer Sequenz zur nächsten und verliert gelegentlich einige Figuren aus dem Auge. Das Pacing ist also zu anspruchsvoll. Zudem gibt es in der Serie 13 Hauptfiguren, dazu ein Dutzend wichtiger Nebenfiguren. Die meisten Darsteller sind relativ unbekannt. Man muss schon ein gutes Personengedächtnis haben, um den Überblick über die Einzelschicksale nicht zu verlieren.

Aus dem Ensemble überzeugen als Schlüsselfiguren besonders Logan Lerman (zuletzt öfters als Producer aktiv) als intelligenter und pragmatischer Lebenskünstler Addy und Joey King (2019 Golden Globe-Normierung für „The Act“) als Halina, die sich unter Lebensgefahr den Nazis immer wieder entziehen kann. Sam Woolf („The Witcher“) als Halinas Ehemann gelingt eine bewegende Charakterstudie. Er muss die Verzweiflung vieler Juden erleben. Seine Familie wurde vollständig ausgelöscht. 

Keinen bleibenden Eindruck hinterlässt die Filmmusik von Oscar-Gewinnerin Rachel Portman (Oscar 1997 für die Filmmusik in Emma). Neben dem Leitmotiv (Main Theme) ist die häufig sehr manipulative Mood-Technik, die überwiegend die Gefühle der Protagonisten musikalisch ausdrückt, das dominierende Element und das Klavier das dominierende Instrument. Der Score der Serie ist überwiegend melancholisch, selten dramatisch oder gar pathetisch. Unpassend ist das nicht, es ist aber auch nicht originell. Persönlich würde ich mir angesichts des Sujets eher eine minimalistische Filmmusik wünschen, wie sie gelegentlich von Hans Zimmer eingesetzt wird. Auch Jóhann Jóhannsson (Arrival) komponiert sparsam und verwendet auch dissonante Elemente. In „We Were The Lucky Ones“ hören Zuschauer eher das, was sie vermutlich erwarten.

Dafür kann „We Were The Lucky Ones“ mit subtilen Handlungsdetails punkten. Dass ihre Eltern Nechuma (Robin Weigert) und Sol (Lior Ashkenazi) die Heimat nicht verlassen wollen, wird nicht von allen Kinders verstanden. Tatsächlich war das Grauen des Holocaust Ende der 1930er-Jahre nicht zu ahnen. Die neue grausame Realität, der Zerfall aller Hoffnungen und der schnelle Verlust der gutbürgerlichen Existenz wird in der Serie mit eindringlichen Bilder geschildert. Wie in Vittorio De Sicas Der Garten der Finzi Contini (1970) gibt es keinen sicheren Ort für Juden. In De Sicas Film können die Protagonisten diese Illusion für kurze Zeit in Hoffnung verwandeln. Bei den Kurcs geht alles schneller. Erst verlieren sie ihr Modegeschäft, dann verschanzen sie sich in ihrer Wohnung, nur um aufgeregt zum Fenster zu eilen. Dort sehen sie, wie die Wehrmacht lärmend und unerbittlich auch in die letzten als sicher empfundenen Rückzugsorte eindringt: die eigene Wohnung. Nun wird den Kurcs klar, dass man die Invasion der Barbaren nicht mit einigen kleinen Zugeständnissen aussitzen kann. Es geht endgültig ums nackte Überleben. Und wer sich fragt, warum die Juden nicht rechtzeitig geflohen sind, sieht in „We Were The Lucky Ones“, dass das Unbegreifliche deshalb so unbegreiflich ist, weil man es erst dann erkennt, wenn es vor der Wohnungstür steht.

Der Antisemitismus ist nicht ausgemerzt

Natürlich zeigen Serien wie „We Were The Lucky Ones“ oder „Deutsches Haus“ (beide bei Disney+ zu sehen) mit ihrer Botschaft, dass Geschichte sich jederzeit wiederholen kann. Kein Wunder, dass die jüdischen Communitys die Serie euphorisch feierten. „…one of the best you’ll see all year“ urteilte die pädagogisch orientierte Website Kveller. Keine Einzelmeinung, denn auch die Kritiker reagierten insgesamt mit einem 95%-Rating bei Rotten Tomatoes.
Allerdings nicht alle. So schrieb die bissige Kritikerin des englischen The Guardian, Lucy Mangan, dass der derzeit zunehmende Antisemitismus zwar die Dringlichkeit der Serie bestätigt, diese aber die Juden im besetzten Polen zu klischeehaft als hilflose Opfer zeigt. Und überhaupt würde die Serie nichts Neues zeigen: „But little is new here, and that means most of ist power is generated almost. Buttons are pushed.“

In „We Were The Lucky Ones“ sind die Figuren alles andere als hilflose Opfer. Dass die meisten Zuschauer reflexhaft mit Empathie auf Holocaust-Serien reagieren, ist dagegen eine ideologische Unterstellung. Trotzdem oder gerade deswegen kann man die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Holocaust-Serien und -Filmen nicht routinemäßig vom Tisch wischen. Die eigentliche Pointe von Mangans Kritik ist nämlich radikal. Die Kritikerin erinnert daran, dass wir alle irgendwann zum ersten Mal etwas über den Holocaust erfahren haben, egal, ob fiktional oder dokumentarisch. Alles, was danach kam, müsse daran gemessen werden, ob es den Schock und die ausgelöste Empathie für die Opfer noch einmal auslösen oder gar vertiefen könne. „We Were The Lucky Ones“ gelingt eben dies nicht, so Mangan.

Dies ist historisch betrachtet eine völlig andere Art der Bewertung von Holocaust-Filmen und -serien, die gewollt eine Repetition des Bekannten und die Pflege einer Erinnerungskultur im Sinn haben. Und überhaupt: Kann oder muss man Geschichte des Holocaust überhaupt originell, frisch aufgepeppt präsentieren und vielleicht auch mit neuen alten Schocks garnieren, damit es der Zielgruppe unter die Haut geht?

Ein neues Thema ist das nicht. László Nemes Jeles’ „Son of Saul” oder “The Zone of Interest” von Jonathan Glazer sind Beispiele für neue Erzählungen und neue Perspektiven. Aber meiner Meinung sind innovative Erzählungen ebenso wichtig wie konventionell erzählte. Beide stellen sich einem Thema mit einer tonnenschwerer Bedeutung. Sie gegeneinander auszuspielen, ist Bullshit. Filme sind nicht statisch. Was heute als konventionelle Stagnation erscheint, kann sich in 20 Jahren als präziser Augenöffner präsentieren.

Das eigentliche Thema der Serie

„We Were The Lucky Ones“ hat nämlich ein anderes Thema als den Holocaust. Die deutschen Konzentrationslager spielen in der Serie nur beiläufig eine Rolle, die Deportation der polnischen Juden schon. Der Schwerpunkt ist aber ein anderer. Erzählt wird von denen, die helfen konnten, es aber nicht taten. Erzählt wird auch vom politischen Klima Polens, von Nachbarn und Kollegen, die sich zurückzogen und ihre jüdischen Freunde im Stich ließen. Erzählt wird auch von der Ablehnung vieler Länder, die sich im WK II weigerten, Juden aufzunehmen.

In Polen hatte dies historisch einen Grund: der Plan der deutschen Invasoren wurde durch den in der polnischen Gesellschaft weit verbreiteten Antisemitismus unterstützt. Forciert wurde der Hass auf die Juden bereits vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht durch eine repressiv-nationalistische Regierung, die gezielt Juden aus vielen führenden Positionen entfernte und stigmatisierte. Auch die Gewalt nahm zu. Zwischen 1935 und 1937 wurden in Polen fast 80 Juden umgebracht, jüdische Geschäfte wurden geplündert. Auch politisch wurde der Druck auf die Juden größer, da die polnische Regierung die Auswanderung der verhassten Minderheit forderte. Summa summarum musste man den von Hitler überfallenen Staaten den Antisemitismus nicht einimpfen. Er war schon da.
Aber auch die Flucht vor dem Grauen war problematisch. Selbst bezahlte Überfahrten und gültige Papiere waren nichts mehr wert. Addy Kurc erfährt dies, als die bezahlte Schiffspassage nach Brasilien daran scheitert, dass das Schiff zunächst nach Dakar und später in das vom Vichy-Regime beherrschte Casablanca umgelenkt wird. Dort landet Addy in einem Lager. Und nachdem die Flucht nach Brasilien gelingt, erlebt er Jahre später die Gleichgültigkeit der Behörden. Nach Kriegsende teilen sie den Juden lapidar mit, dass sie aufgrund der Gräueltaten der Deutschen psychisch so belastet seien, dass sie der brasilianischen Gesellschaft beim Aufbau nicht helfen könnten.

Die Diaspora der Juden war also unterschiedlichsten Repressionen ausgesetzt: dem Antisemitismus, der Gleichgültigkeit und der generellen Ablehnung von Migranten aus anderen Kulturkreisen. „We Were The Lucky Ones“ erinnert auch daran, wenn man es denn so sehen möchte, dass die Asylpolitik der EU und der jeweiligen Bündnisstaaten zunächst divers und liberal war, mittlerweile aber angesichts der Überforderung einiger EU-Länder deutlich pragmatischer geworden ist. Das ist auch richtig so. Der Witz ist, dass sich die EU bei der Entwicklung ihres Asylrechts ethisch an der Odyssee der Juden im Zweiten Weltkrieg orientierte – so etwas dürfe sich nicht wiederholen. Man sieht: Wir haben ein Problem.

Note: BigDoc = 2

 
We Were The Lucky Ones – USA 2024 – Networks: Hulu, Disney+ (D) – nach dem Buch We Were The Lucky Ones by Georgia Hunter – Showrunner: Erica Lipez – Drehbuch: Erica Lipez u.a. – 8 Episoden (53 – 75 Minuten) - Joey King, Logan Lerman, Henry Lloyd-Hughes, Robin Weigert, Lior Ashkenazi, Hadas Yaron, Sam Woolf u.a.


Anhang

Die politischen Umwälzungen in Europa sind unüberschaubar, denn auf irritierende Weise verschwimmen die politischen Fronten. Nicht alle Rechtspopulisten sind Antisemiten. Andere schon. Das führt zu überraschenden Positionswechseln. Ein Beispiel: Die als Nazijäger berühmt gewordenen Beate und Serge Klarsfeld, der selbst ein Holocaust-Überlebender ist, bekannten sich vor einigen Wochen öffentlich dazu, dass sie im Falle einer Stichwahl zwischen Linksbündnis und der Rassemblement National von Marine Le Pen ihre Stimme den Rechtspopulisten geben würden. Der RN sei anti-islamistisch, erklärte die Beate Klarsfeld, die 1968 den damaligen deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit ohrfeigte, und Anti-Islamismus sei wichtig für die Juden.

Der Feind meines Feindes ist mein Freund?