Sonntag, 28. Juli 2024

The Veil - Elisabeth Moss als Agentin in einem mittelmäßigen Thriller

Serien setzen beim Kampf um die Quoten auf ein As im Ärmel, um im harten Streaming-Wettbewerb nicht abzuschmieren. In Steven Knights „The Veil“ ist es Elisabeth Moss, die als Trumpfkarte ausreichende Bindungskräfte beim Zuschauer freisetzen soll. Moss, wohl eine der facettenreichsten Schauspielerin der letzten 20 Jahre, gelingt dies wieder einmal exzellent.

Aber auch Moss kann den am Ende überdrehten Sechsteiler nicht retten. Nach einer guten ersten Staffelhälfte verliert die Serie mit zu vielen Twists die Balance. Weniger wäre mehr gewesen. Eine John le Carré-Geschichte ist „The Veil“ nicht geworden.

Lüge oder Wahrheit? Oder beides?

Das englische Veil bedeutet Schleier, kann aber auch mit verschleiert sein übersetzt werden. In der englischen Agent*innen-Serie verschleiern zwei Frauen, die sich gemeinsam von der Türkei bis nach London durchschlagen, clever ihre Identität, obwohl sie während der langen Gespräche im Auto eigentlich pausenlos über nichts anderes sprechen: Familie, Freunde, Beruf, Männer. Beide bezeichnen sich als Formwandler und das kann nichts Gutes bedeuten.

Eine obsessive Beziehung zwischen zwei Frauen, die sich eigentlich spinnefeind sein sollten, kennt man aus der Serie „Killing Eve“. Wenn eine der beiden eine Auftragskillerin ist, kann dies schnell morbid werden. „The Veil“ erzählt von einer ähnlichen Konstellation. Zwei Frauen sind gemeinsam auf der Flucht, belauern und belügen sich, sind gelegentlich auch ehrlich und versuchen dabei, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. In dem bei Disney+ an den Start gegangenen Spionagethriller entsteht dabei ein Mix aus Freundschaft, Misstrauen und Paranoia. Die eigentliche Frage ist: Verfolgen die Protagonistinnen bis zum Schluss eisern ihren Plan oder ändern sie sich?

Der Zuschauer hat in den ersten drei Episoden die Wahl: entweder sehen sie den beiden gefährlichsten Frauen des Planeten bei einem Psychospiel zu. Oder eine der beiden Frauen ist völlig harmlos. Imogen Salter (Elisabeth Moss) ist es bestimmt nicht. Die britische MI6-Agentin ist eine Spezialistin für die Entlarvung und völlige Dekonstruktion gefährlicher Zielobjekte. In der ersten Szene sieht man, wie genüsslich sie ihren Job liebt. Vorgetäuschte Empathie, eine messerscharfe psychologische Analyse und diverse Spionage-Gimmicks sind die Waffen einer Frau, die selbst die gefährlichsten Verbrecher zur Strecke bringt. Und dem Zielobjekt dann die bevorstehende Verhaftung anzukündigen, ist The Creme on the Coffee. Ein James Bond der psychologischen Überwältigung sozusagen.

Die andere Frau spielt Yumna Marwan mit rauem Charme. Doch wer ist die wirklich? Entweder Adilah El Idrissi, eine Frau mit französisch-algerischem Hintergrund, die sich dazu verführen ließ, dem IS beizutreten. Oder sie ist Sabaine al Kubaisi, eine der brutalsten und gefährlichsten IS-Kommandantinnen der Terrororganisation. Eine Frau, die den Kampfnamen Dschinn Al Raqqa trägt und offenbar einen schrecklichen Terroranschlag plant.
Um das herauszufinden gibt sich Imogen Salter als vermeintliche NGO-Aktivistin aus und befreit Adilah aus einem Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze. Dort wurde Adilah als IS-Kämpferin erkannt. Sie baumelt bereits an einem Strick um den Hals, als sie im letzten Moment gerettet wird. Nun fliehen die beiden Frauen gemeinsam nach Istanbul, später nach Paris und London, während Kamerafrau Bonnie Elliott keine Gelegenheit auslässt, um die pittoresken Landschaften und Städte stilsicher ins Bild zu setzen.

Konstruierte Konflikte und zu viele Twists

Langweilig wird dies in den ersten Episoden zu keinem Zeitpunkt. Das liegt auch Elisabeth Moss, die sich in „The Handmaid’s Tale“ vom Opfer zur rachsüchtigen Furie entwickelte und nun erneut alle Register der Verwandlung zieht. Ist sie soziopathisch oder eine Frau, die auch Mitgefühl für ihre Zielobjekte entwickeln kann?
Ein wenig erinnert sie an Jeff Bridges in „The Old Man“. Bridges spielt einen Ex-Agenten, der sich ebenfalls sehr empathisch in das Gemüt anderer Menschen einschleichen kann, aber nur, um herausfinden, wo diese am verletzlichsten sind. Moss spielt das auf ähnliche Weise und zwar so exzellent, dass sie zum Dreh- und Angelpunkt in „The Veil“ wird, einer Serie, die ohne diese phantastische Schauspielerin nur ordentlicher Durchschnitt geworden wäre.

Denn etwas wird schnell klar: die Nebenhandlung von
„The Veil“ gehorcht eher dramaturgischen Absichten und weniger der Realität. Koordiniert wird Salters Mission in Paris. Die MI6-Agentin wurde an den französischen Geheimdienst DGSE ausgeliehen und wird dort nicht nur vom lokalen DGSE-Chef Magritte (Thibault de Montalembert), sondern auch vom Agenten Malik Amar (Dali Benssalah) „geführt“ - und der ist Imogens Lover. So ein Nebenplot kann schnell langweilig werden, wenn die Akteure sich ständig via Smartphone austauschen. Steven Knight, der auch alle Drehbücher geschrieben hat, führte daher den CIA-Agenten Max Peterson (Josh Charles) in die Handlung ein und skizzierte diese Figur als arrogantes und zumeist skrupelloses Arschloch. Für Peterson sind seine französischen Kollegen inkompetente und drittklassige Pfuscher mit den trägen Eigenschaften von unmotivierten Beamten. In Frankreich überzeugt ihn nur der gute Käse, sonst nichts. Das brezelt die Handlung etwas auf, ob diese Klischees glaubwürdig sind, steht auf einem anderen Blatt. Dass es konstruiert ist, spürt man allerdings auf Anhieb.

Ein weiteres Problem des Plots findet man ebenfalls schnell heraus: die wahre Identität der Frauen verliert immer mehr an Bedeutung. Salter und ihre Reisegefährtin kommen sich näher und es spannend zu sehen, wie Elisabeth Moss ihr permanentes Lächeln, ihre gespielte Wut und Verletzlichkeit als Waffen einsetzt. Am Ende, als beide Frauen in Paris ankommen, weiß Adilah, wer Salter tatsächlich ist, und Salter ist sich sicher, dass Adilah genau das ist, was sie von Anfang an vermutet hat: eine gefährliche Terroristin. Alles andere wäre erzähltechnisch ein Schwarzes Loch geworden, das jedwede Spannung verschluckt hätte. Also kein „Who ist Who?“
„Die besten Lügen sind meistens wahr“, erklärt Imogen ihrer Begleiterin und verspricht ihr eine neue und sichere Existenz in England. Das hat einen Preis, denn Adilah muss entscheidende Details des Terroranschlag preisgeben. Mittlerweile ist klar, dass der IS die amerikanische Ostküste mit schmutzigen Atomwaffen attackieren will. Das Schiff ist bereits unterwegs, die Uhr tickt also.

Dass man irgendwann nicht mehr weiß, wer auf wen schießt und wer der Agency, dem MI6 oder dem IS angehört, wirkt überdreht. Überhaupt packt Steven Knight immer mehr Ballast in die Figuren. Adilah gibt preis, dass ihre Tochter offenbar das Ergebnis einer mehrfachen Vergewaltigung durch IS-Kämpfer ist. Imogen gesteht dagegen, dass sie vom Tod fasziniert ist, der „Auslöschung des Selbst“, eine morbide Obsession, deren Auslöser die Ermordung ihres Vaters war. Der wurde liquidiert, als der Verdacht entstand, dass er ein Doppelagent des russischen Geheimdienst FSB ist. Und überhaupt: Könnte es sein, dass der FSB hinter dem Anschlag steht und den IS für seine Zwecke instrumentalisiert hat?

Am Ende jagt ein Plot-Twist den nächsten. Am ärgerlichsten ist, dass Knight am Ende Imogens alten Mentor und Ex-Geliebten Sir Michael Althorp (James Purefoy) als möglichen Strippenzieher präsentiert. In der Regel ist es keine gute Idee, wenn man eine neue Figur am Ende einer Story als Erkläronkel einführt. Ist Althor der gefürchtete Dschinn Al Raqqa? Arbeitet er für den FSB? Oder ist er ein Fürst der Dunkelheit, der den Untergang der menschlichen Zivilisation beschleunigen will, damit sie sich anschließend in neuem Glanz erneut erhebt? Und last but not least: Lebt Imogens Vater noch? Zu viel Fragen, zu wenig Antworten.

In „The Cottage“, der letzten Episode, mutiert Imogen Salter in dem ganzen Durcheinander zur Rachegöttin und erinnert mit ihrem Outfit, einem knöchellangen roten Kleid, auffällig an „The Handmaid’s Tale“. Leider wirkt die letzte Episode wie eine pathetische Comic-Verfilmung, die sich eher für die Ästhetik der Gewalt interessiert und weniger für die Logik des Narrativs. Am Ende steht Imogen vor einem Berg an Leichen, ohne dass man klüger geworden ist. Der Zuschauer wird mit zu vielen mysteriösen Andeutungen überfordert. Anything goes. Ambivalent bleibt bis zum Schluss auch Adilah, die offenbar alles wollte: ein neues Leben und die Durchführung des Terroranschlags. Immerhin ist Yumna Marwans Performance unterm Strich kaum schlechter als die ihrer berühmten Kollegin Elisabeth Moss.

„The only real shock is why, at a time of far too much TV, anyone would waste their time watching this”, schrieb Benjamin Lee im “Guardian”. Zeitverschwendung sei der seichte Mix aus „Homeland” und „Killing Eve”.
Vielleicht ist das etwas zu hart, denn nach sechs Episoden steht es Fifty-Fifty. Drei Episoden sind Premium, die letzten drei sind fahrig und überfrachtet. Am Ende wählt Steven Knight eine Einstellung von Elisabeth Moss, die wir aus „The Handmaid’s Tale“ kennen. Mit einem leicht zynischen Lächeln bittet sie einen unbekannten Gesprächspartner um einen neuen Job und einen neuen Namen. So wird in der letzten Einstellung der Hauptfigur wie in einem Exorzismus jedwede Ambivalenz ausgetrieben.

Note: BigDoc = 3

The Veil – Network: NX on Hulu – Streaming (D): Disney+ - Showrunner, Autor: Steven Knight – Regie: Daina Reid, Damon Thomas – Kamera: Bonnie Elliott – Laufzeit: sechs Episoden (38-67 Minuten) - D: Elisabeth Moss, Yumna Marwan, Dali Benssalah, Thibault de Montalembert, Josh Charles.