Mittwoch, 20. Juni 2007

Adams Äpfel

Dänemark 2005 - Originaltitel: Adams Æbler - Regie: Anders Thomas Jensen - Darsteller: Ulrich Thomsen, Mads Mikkelsen, Nikolaj Lie Kaas, Paprika Steen, Nicolas Bro, Ali Kazim, Gyrd Løfqvist, Lars Ranthe, Ole Thestrup - FSK: ab 16 - Länge: 93 min.

Tarantino meets Bergman
Man kann davon ausgehen, dass ein Film, der den Kulturpreis dänischer Pastoren gewinnt, beim unvorbereiteten Publikum eine Reihe finsterer Klischees abruft. Als da wären: Prüderie, Langeweile, Belehrung. Wer dann „Adams Äpfel“ sieht, der nun endlich und fast ein Jahr nach dem Kinostart als DVD vorliegt, wird mehr als einen Schock zu verkraften haben. Der Film ist extrem gewalttätig, zynisch, völlig unkorrekt und beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Gegensatz von Gut und Böse. Mit anderen Worten: Quentin Tarantino meets Ingmar Bergman. Upps!

Anders Thomas Jensen gilt als der herausragende dänische Drehbuchautor. Will man dies pointiert auf den Begriff bringen, so fällt einem nur ein Wort ein: Originalität ohne formale Exzentrik. Letzteres ist nicht ganz unwichtig, hat Jensen sich immerhin einmal als Autor am Dogma-Projekt „Mifune“ beteiligt. Das war aber keineswegs eine programmatische Entscheidung. Erinnern wir uns: Die Vermischung einer raffinierten Plotstruktur mit exzessiver Gewalt war bereits im Script für „In China essen sie Hunde“ (1999) erkennbar – kultig, trashig und sicher nichts für das ARD-Vorabendprogramm. Als Regisseur und Autor mit Tarantino-Touch outete sich der Däne dann in „Flickering Lights“ (2000) und dem kannibalistischen „Dänische Delikatessen“ (2003), der einen Keil ins Kritikerlager trieb, obwohl oder vielleicht weil der Film nur begrenzt imstande war, die Sehnsucht nach transzendenten Gewissheiten zu befriedigen.

Ganz anders ticken da „Adams Äpfel“, die im Garten des Provinzpfarrers Ivan (hervorragend Jensens Lieblingsschauspieler Mads Mikkelsen) hängen und im späteren Verlauf noch ihre allegorische Qualität erhalten. Ivan ist so etwas wie der Leiter eines sozialen Rehabilitationsprojektes für Ex-Knackis und mehr oder weniger liebenswerte Psychopathen wie den Kleptomanen und Vergewaltiger Gunnar oder den notorischen Killer und Tankstellenräuber Khalid. In diese Gruppe passt der Neo-Nazi Adam (Ulrich Thomsen) wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Schweigend und innerlich sehr kontrolliert hält er Einzug in die Gemeinschaft der Freaks. Ein Ziel brauche er, mahnt Ivan den weitgehend empathiefreien Rechtsradikalen mit dem Hitlerbildchen über dem Nachttisch. Adam verständigt sich eher sarkastisch mit dem Pfarrer darauf, einen Apfelkuchen zu backen, muss sich aber von nun an um den großen Apfelbaum im Kirchgarten kümmern. Schnell findet Adam heraus, dass Ivan, sein missionarischer Duktus und seine christliche Ethik angreifbar sind und zum Teil voller bizarrer Widersprüche stecken. Das Ergebnis: Adam schlägt Ivan krankenhausreif. Erst danach erfährt er vom ärztlichen Freund der skurrilen Gemeinde, dass der Pfarrer in seiner Kindheit sexuell missbraucht wurde, hochneurotisch ist und aufgrund eines Hirntumors dem Tode geweiht ist. Adam beschließt den labilen Ivan, der von seiner Frau verlassen wurde und ein schwerstbehindertes Kind pflegt, mit gnadenloser Wahrheitsliebe in den Tod oder zumindest den Wahnsinn zu treiben.

Von der gefräßigen Raupe zur Theodizee
Ein klassischer Diskurs zwischen Gut und Böse möchte man meinen. Aber die Fronten sind keineswegs klar, denn Ivans christliche Ethik ist auch das Produkt einer massiven Verdrängungsarbeit, die ihn blind für die Realität macht, und Adams von Ekel über das Gutmenschentum getriebener Aufklärungseifer (der von Peter Uehling in der „Berliner Zeitung“ zu Recht als „alt-testamentarischer Wille zum Wissen“ bezeichnet wurde) hat zumindest im begrenzten Umfang therapeutische Qualitäten. Damit besteht Jensen auch einen sehr schwierigen Drahtseilakt, denn der Neo-Nazi Adam, der im ersten Drittel des Films als einzige Figur erscheint, die trotz ihres Hasses pragmatisch und rational handelt, mutiert weder zum Sympathieträger noch zur meta-pyhsischen Verkörperung des absolut Bösen. Alles fein ausbalanciert.

Jensen gelingt es mit zwei bemerkenswerten Tricks, das Denkorgan des Zuschauers zur Arbeit zu zwingen. Zum einen erhält der Apfelbaum nach kurzer Zeit eine allegorische Bedeutung: zunächst fallen Raben über ihn her, dann bemächtigen sich Raupen der Früchte. Eine Plage biblischen Ausmaßes scheint die Protagonisten auf die Probe zu stellen, zumal Gunnar wieder sexuelle Übergriffe plant und der schwer bewaffnete Khalid erneut einige mörderische Absichten in die Tat umzusetzen versucht.
Also nichts als Ärger mit Adams Äpfeln, aber der „Baum der Erkenntnis“ mit seinen maroden Früchten ist auf mehrfache Weise codiert, denn die Vertreibung von Adam (sic!) und Eva aus dem Paradies hat im Gegensatz zur christlichen Mythologie nicht unbedingt etwas mit Äpfeln zu tun. Hier liegt ein Übersetzungsfehler oder ein Wortspiel vor, denn das gemeinsame lateinische Wort für "Apfel" und "schlecht" lautet nämlich „malus“. Und so lässt sich der Filmtitel auch mit „Adams Schlechtigkeit“ übersetzen, jener agnostischen Erkenntnissucht, die sich am Ende sogar der Bibel bedient, um den Widersacher zu Strecke zu bringen, den Zuschauer aber ebenfalls mitten hinein in den Diskurs treibt.
Und das ist Jensens anderer Trick: Adam konfrontiert Ivan nach einer eher zufälligen Lektüre des „Buches Hiob“ mit der Erkenntnis, dass nicht der Teufel für Raben, Raupen und das Lebensdesaster des Pfarrers verantwortlich ist, sondern Gott. Mit intelligentem und kalkuliertem Zynismus verweist Adam auf das essentielle Problem der christlichen Ethik: die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Es geht um das alte Problem ganzer Theologen- und Philosophengenerationen, wie denn ein allwissender und allmächtiger Gott mit der Existenz des Bösen zu vereinbaren ist. Adam stellt also die klassische Theodizee-Frage und bedient sich dabei des brutalen Beispiels Hiobs, der von Gott mit grausamen Plagen überzogen wurde. Diese unbequeme Frage wird auch dem weniger bibelfesten Zuschauer um die Ohren gehauen, Ivan erträgt sie indes nicht: er kollabiert.

Ein intelligentes Vexierspiel
Ganz schön starker Tobak für einen Filmemacher, der mit „Adams Äpfel“ einfach nur „gutes Entertainment“ machen wollte und beim Schreiben „nicht nachdenkt“. Jensens relativ flache Interviews erinnern mich streckenweise an andere große Filmemacher, denen nur wenig über ihre eigentlichen Motive zu entlocken war. Allein das ist schon witzig, aber noch witziger ist die erzählerische Eloquenz, mit der Jensen seine Geschichte vorantreibt. Sein Film und die Volten des Plots, die beharrlich zwischen Komödie und Tragödie changieren, sind auf eine im Kino rar gewordene Weise so gut wie nie antizipierbar und umgehen damit intelligent jedes Klischee, das die Story dem Zuschauer scheinbar anbietet.
So gehört die Szene, in der Ivan (von Adam begleitet) einen alten und reuigen Nazi-Kollaborateur, der im KZ Tod und Elend verbreitet hat, an dessen Sterbebett förmlich in den Tod quatscht, zu den Höhepunkten des Films. Die Art und Weise, wie Ivan dem ungläubigen Neo-Nazi die historische Gewissheit über den Genozid in den KZs subversiv aufzwingt, ist fast genauso unmenschlich wie die Dauerprügel, mit der Adam schrittweise Ivans Gesicht in eine zertrümmerte Maske verwandelt. Klare Fronten lösen sich so auf und dem Zuschauer wird einiges abverlangt. Auch die finale Katharsis Adams, die sich ja von Anfang an förmlich als Plot-Ziel anbietet, findet auf eine Weise statt, die einen eher unruhig als fröhlich macht. So recht will man dem Braten nicht trauen.

Das alles funktioniert auch deswegen so gut, weil Jensen sehr souverän und mit feiner Ironie jene Stimmung evoziert, die auch Ingmar Bergmans Figuren und ihre Suche nach Gott und dem Sinn des Lebens beherrscht, das Ganze aber mit einem Schuss Tarantino abschmeckt. Die Frage nach dem Zweck des Leidens in unserer Welt wird mit Szenen cooler Gewalt kombiniert, die jeden Ansatz zur Ernsthaftigkeit sofort wieder auf die Probe stellen. Das wird nicht jedem schmecken, aber dieses brillante Cross-Over-Produkt provoziert eine staunende Nachdenklichkeit, die ernsthafte Regisseure mit gradliniger Message heutzutage offenbar nicht mehr auf den Weg bringen können.

Übrigens: Jensen hat gerade eine Komödie über die „Dogma“-Bewegung und Lars von Trier abgedreht. Wir freuen uns darauf.

Der Filmclub war unisono begeistert. Es hagelte Bestnoten: Klawer: 2,5, Melonie = 2, Mr. Mendez = 2, BigDoc = 1,5.