Freitag, 4. Oktober 2013

Gravity

Ganz seinem visuellen Konzept verpflichtet zeigt uns Alfonso Cuarón, dass Kino zuallererst physische Bewegung ist. Dabei ist bereits der Filmtitel eine schöne sprachliche Rätselfigur, denn „Gravity“ bedeutet sowohl Schwerkraft als auch Ernst. Von beidem erzählt der Film in beeindruckenden 3 D-Bildern: Lautlos im Weltall.
 

Zwei Menschen verloren im Weltall. Dabei ist die Erde so nah, dass sie die halbe Leinwand füllt. „Gravity“ beginnt mit der Zerstörung eines Space Shuttles, dessen Team während eines Routineflugs einige Reparaturen am Hubble-Teleskop erledigen soll. Die Ursache der Katastrophe ist eine zerstörerische Wolke aus Weltraumschrott, die das Shuttle zerfetzt und nur zwei Astronauten am Leben lässt: die Ingenieurin Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock) und den kurz vor der Pensionierung stehenden Piloten Matt Kowalski (George Clooney).
Ein Worst Case-Szenario ohne jegliche Hoffnung. Der Sauerstoff wird knapp, die Kommunikation mit Houston ist zusammengebrochen, Stone driftet in einer endlosen Drehbewegung hilflos ab und die einzige Hoffnung wäre die Internationale Raumstation ISS, wenn es nicht fast unmöglich wäre, dorthin zu gelangen. Denn im Orbit um die Erde wirkt die Schwerkraft zwar nach wie vor, aber sie ist anders auf der Erde nicht zu spüren. Und ohne einen zusätzlichen Impuls ist Bewegung nicht möglich. „Gravity“ ist also auch ein Lehrstück über die klassische Mechanik, die sich bei Cuarón als recht gnadenlos erweist.


„Gravity“ kann durchaus als Meilenstein des 3 D-Kinos bezeichnet werden. Räumlichkeit, wie sie im zweidimensionalen Kino im Kopf des Zuschauers zusammengesetzt wird, ist in dem Film in einer fühlbaren Unmittelbarkeit zu erfahren, die Schwindel erzeugt. Die Fallhöhe ist immer spürbar, auch im Kinositz, und im All zu treiben, bedeutet für die Protagonisten den ultimativen Kontrollverlust. Wenn die Kamera die hilflos davon treibende Sandra Bullock in einer Totale zeigt und anschließend ihren Point of View einnimmt, ist es die Erde, die immer wieder durch ihr Gesichtsfeld rast. Kein Wunder, dass der Orientierungsverlust bei der Astronautin Entsetzen auslöst und vor Stress die Schnappatmung einsetzt. Der Höllenritt wird erst beendet, als Kowalski sie mit seinem schubdüsengesteuerten Thruster Pack wieder einfängt, anseilt und hinter sich herzieht.

Naturalistisches Drama ohne Metaphern

So gelingt Alfonso Cuarón eine atemberaubende halbe Stunde Kino. Fast ohne Handlung, nur zusammengesetzt aus Bewegung und schwereloser Ästhetik. Aber bei aller Lust am rein visuellen Erzählen braucht ein Film natürlich eine Geschichte. Und die ist ein wenig dem Tradierten verpflichtet, bleibt in ihrem Minimalismus aber glaubwürdig. Stone, so erfährt man, ist durch den lange zurückliegenden Verlust ihrer kleinen Tochter von Sinnleere und Skepsis erfüllt, Kowalski ist hingegen nicht nur professionell, sondern ruht in unfassbarer Gelassenheit am Rande des Todes völlig in sich und verströmt dabei auf unsentimentale Weise so viel Empathie in die Weiten des Weltalls, dass man ihn beinahe für einen schwebende Buddha hält. 
Dass der Film mit Kowalskis unmenschlich rationaler Entscheidung, sich für seine Gefährtin im All zu opfern, eine harte Zäsur erfährt, ist schwer zu schlucken. Aus dem Zwei-Personen-Kammerspiel wird danach ein einsamer Überlebenskampf, der – und hier präsentiert Cuarón gewaltige Actionspektakel – aus Rückschlägen besteht: als Stone mit einer der verbliebenen Sojus-Kapseln die ISS verlassen will, stellt sie fest, dass sich der geöffnete Fallschirm der Rettungskapsel, mit unzähligen Schnüren verheddert, nicht von der Station lösen lässt. Die alles andere als weltraumerprobte Ingenieurin muss noch einmal ins All, während der Schrotthaufen bereits eine Erdumdrehung hinter sich hat und erneut auf die Heldin zurast. 

Cuarón erzählt dies erstaunlicherweise in ganz ruhigen Bildern. Die Montage steigert Tempo und Dramatik nicht unnötig. „Gravity“ wirkt nicht nur hier wie ein naturalistisches Drama, in dem das, was gezeigt wird, auch das ist, was es bedeutet und die Pulverisierung der ISS im Schrotthagel wird zu einem überwältigenden visuellen Spektakel, das beinahe schon dokumentarisch protokolliert wird, aber sensationelle Bilder abliefert.

Dass einige Kritiker in „Gravity“ einen Berg von Allegorien und eine „Metapher für das irdische Dasein“ entdeckten, gar die Essenz des Lebens wahrgenommen haben, nämlich das „absurde Weitermachen im Angesicht des Todes, das Treiben durch ein unbegreifliches Nichts“ kann man als Journalistenpoesie durchgehen lassen. Das
Nichts" im Orbit ist voller Satelliten und Trümmer, die Protagonisten sind Gesetzen ausgeliefert, die bereits der große Newton definierte und die wir aus dem Schulunterricht kennen und auch der konzentrierte Pragmatismus der beiden Helden in „Gravity“ spricht eine andere Sprache. Besonders dann, wenn Stone versucht, die Sojus-Kapsel mithilfe eines Benutzerhandbuches in Bewegung zu setzen, weil sie die Inhalte der letzen Schulung vergessen hat. Absurd ist dies nicht.
Erst als dies misslingt und Stone die Sauerstoffzufuhr abstellt, um freiwillig in den Tod zu gehen, wird Cuarón ein wenig mystisch: im CO2-Delirium erscheint der Astronautin noch einmal Kowalski, der sie humorvoll daran erinnert, dass Bremsen eigentlich beschleunigen bedeutet. Aha, man muss die Kapsel nur auf das Ziel ausrichten und danach können im Weltraum die Brems- zu Antriebsraketen werden und das neue Ziel, die chinesische Raumstation, wird zu einem erreichbaren Objekt. Und so reduziert sich die Essenz des Lebens darauf, dass man im All gut daran tut, die Gesetze der klassischen Mechanik nicht zu vergessen.
 

Am Ende wird dann doch noch pathetisch, der Score entgleist lärmend und zum ersten Mal im Film auf ärgerliche Weise, Stone erreicht mit einer chinesischen Rettungskapsel die Erde und die Schwerkraft hat sie wieder. In Untersicht aufgenommen, richtet sich die Vertreterin der Spezies Mensch auf. Widrigsten Umständen zum Trotz hat sie gesiegt, den Tod bezwungen, den Willen zum Leben im richtigen Moment wiedergefunden.
Das wirkt etwas überladen, ändert aber nichts daran, dass Alfonso Cuarón ein sehenswertes Sci-Fi-Werkstück abgeliefert hat, dass von Kubricks Höhenflug „2001“ Lichtjahre entfernt ist und eher an Filme wie „Signale – Ein Weltraumabenteuer“ (Gottfried Kolditz, DDR, Polen 1970), „Silent Running“ (Douglas Trumball, USA 1972) und „Apollo 13“ (Ron Howard 1995) erinnert. Und wer existenzial-philosophische Science-Fiction sehen will, der soll sich Andrei Tarkowskis "Solaris" aus dem Regal nehmen.


Ach ja, noch eins: sollten Sie, lieber Leser, mal im Weltall treiben, dann werfen Sie irgendetwas weit weg, das ein bis zwei Kilo wiegt. Vielleicht eine Taschenlampe oder so. Denn dann profitieren Sie von der sogenannten Impulserhaltung, die Sie in die entgegengesetzte Richtung beschleunigt. Man kommt dann zwar nur 10 cm pro Sekunde weit, aber das kann schon lebensrettend sein. George Clooney hat das dritte newtonsche Axiom da oben vergessen. Actio = Reactio. Gibt es auch im alltäglichen Leben, aber das ist ein anderer Film.


Gravity, USA 2013, Laufzeit 90 Minuten; Regie: Alfonso Cuarón, Buch Alfonso und Jonás Cuarón. Kamera: Emmanuel Lubezki. Schnitt: Alfonso Cuarón, Mark Sanger. Musik: Steven Price. D.: Sandra Bullock, George Clooney. 


Noten: BigDoc = 2

Filmkritik und -poesie

„... im Kino  ist alles möglich. Und damit natürlich ist, was nun geschieht, auch wieder einmal das Übliche aus Amerika und bekannte Philosophie à la Hollywood: Vorgeführt werden Helden, die nicht aufgeben, auch nicht in noch so aussichtsloser Lage, die durch die Verzweiflung hindurch gehen, und zwar gut-gelaunt, lachend, scherzend noch im Angesicht des Todes. Sie kann schon ganz schön nerven, diese Attitüde. Nüchtern betrachtet ist dies Philosophie für die niederen Stände, Denkfastfood auf Volkshochschulniveau, ein wenig wie jene Hölderlin- und Nietzsche-Ausgaben, die man vor 99 Jahren, im August '14 den deutschen Soldaten für die Grabenkämpfe mitgab. "Weihnachten sind wir in Paris", hieß es damals. "Morgen sind wir wieder auf der Erde", heißt es bei Cuaron ... Glücklicherweise ist da aber viel mehr, als dies. Vor allem eine schiere handwerkliche Meisterschaft, Bilder voller Überwältigungspotential, denen man sich nur schwer entziehen kann. "Gravity" ist visuell richtig großartig, und auch als 3-D-Film überraschend gut gelungen" (Rüdiger Suchsland, Telepolis).


Im Grunde ist „Gravity“ so kaum noch ein Film im üblichen Sinne, sondern geradezu eine physische Erfahrung, die wir mit der Hauptfigur teilen" (Carsten Baumgardt, Filmstarts).

"Gravity" ist Kino der Zukunft - von solch einem SF-Film hat womöglich auch Antonioni immer geträumt -, er erinnert an die Zirkulation als einer natürlichen Qualität des modernen Kinos und an seine Dialektik, die, so schrieb Deleuze, nicht mehr aus der Zeit das Maß der Bewegung macht, sondern aus der Bewegung eine Perspektive der Zeit (Fritz Göttler, Sueddeutsche Zeitung).