Donnerstag, 24. Oktober 2013

Side Effects - Tödliche Nebenwirkungen

Steven Soderbergh will keine Filme mehr machen. Die Blockbuster-Politik im amerikanischen Kino widert ihn an. Nun will er sich ganz der Musik und der Malerei widmen. Sein mutmaßlich letzter Film zeigt uns noch einmal den ganzen Soderbergh: Er verpackt ein brisantes Thema in eine informative und ziemlich provozierende erste halbe Stunde und entschädigt anschließend den Zuschauer für einige unangenehme Wahrheiten mit einem Thriller voller spektakulärer Plot-Twists.
 

Hätte Alfred Hitchcock diesen Film gemacht, würde er als Meisterwerk gefeiert. Das liegt nicht an der langen Fahrt über die Fassade eines Hauses, mit der Side Effects beginnt und dabei ein wenig an Psycho erinnert. Den Altmeister hätte allerdings nichts so sehr abgeschreckt, wie seinen Thrillern einen gesellschaftskritischen Unterton beizufügen. Steven Soderbergh kann beides: Arthouse und Entertainment. 

In den deutschen Feuilletons gilt jedoch informative Aufklärung und Unterhaltung als tödliche Mixtur: einige Kritiker schäumen vor Wut, aber längst nicht alle. Aber Manfred Klimek ärgert sich in der WELT über den vermeintlichen wirtschaftskritischen Tenor von Side Effects: „Was jetzt folgt ist eine Aneinanderreihung der üblichen Zutaten eines ab der Mitte des Films leicht vorhersehbaren Ablaufs: die hinterlistige Pharmaindustrie, die dutzende Mittel gegen Ängste und Weltschmerz in die Welt setzt, einzig in dem Bestreben, die Menschen (in „Side Effects“ ausschließlich Frauen) alltagstauglich und gefügig zu machen.“

Das ist ärgerlich und peinlich.

Ärgerlich: in Soderberghs Film ist absolut nichts vorhersehbar. Mit einigen Tausend Filmen auf dem Buckel glaubte ich, jeden Plot-Twist zu kennen. Doch Soderbergh überraschte mich bis zum Schluss. Side Effects ist ein Solitär der Spannung, von dem man nur wenig verraten sollte. Stichwort: Spoiler. 

Peinlich: in Side Effects geht es um die Pharmaindustrie, aber nicht nur. Und schon gar nicht geht es um einen Paranoia-Thriller à la Klimek. Es gibt eine Verschwörung, aber keine der Pharmariesen, und wer finstere Killer von Pfizer oder Bayer erwartet, ist garantiert im falschen Film. Manchmal ist es halt hilfreich, einen Film ganz zu sehen und nicht nach der ersten halben Stunde abzuschalten. 


Pillen ohne Wirkung?

Fluoxetin, Paroxetin, Setralin - wenn sich der Psychiater Jonathan Banks (Jude Law: Hugo Cabret, Anna Karenina) in Soderberghs Film angeregt mit einer Kollegin über die breite Palette von Antidepressiva (AD) so unterhält, als ginge es um beliebige Wellness-Präparate, dann muss man schon genau hinhören und –schauen. Denn die Herren und Frauen Doktoren stehen offenbar unter Druck. Sie müssen auf die Normen einer leistungsorientierten Gesellschaft reagieren, deren Bildungs- und Wirtschaftselite sich aufgeklärt und tolerant gibt, von Seinesgleichen dann aber doch erwartet, dass man funktioniert. Zum Psychiater zu gehen, kein Problem – das ist normal. Anschließend aber immer nicht in die Spur zu finden – das geht gar nicht. Mediziner passen sich solchen Erwartungen scheinbar an.
Jude Law spielt den angepassten Psychiater bestechend gut: der eloquente britische Mediziner Banks ist in die Staaten gegangen, weil die Amerikaner offenbar zupackender mit psychischen Problemen umgehen. „Wenn in meiner Heimat jemand zum Psychiater geht und Medikamente nimmt, dann geht man davon aus, dass er krank ist. Hier sieht man dies jedoch als Weg zur Besserung“, wird Banks später als Erklärung angeben. Es ist jener pragmatische und gedankenlose Optimismus, der ihm dabei hilft, seiner Frau vor einem Bewerbungsgespräch einen Beta-Blocker in die Hand zu drücken. Das machen alle so. Und natürlich hört Banks sich dann auch gerne den Tipp seiner Kollegin Victoria Siebert (Catherine Zeta-Jones) an, bei problematischen Patienten mal ‚was Neues’ zu versuchen. Das Neue sind andere Pillen.


Psychopharmaka als Wellness-Pillen? Psychiater kombinieren in der Regel die Gesprächstherapie ergänzend mit Medikamenten, auch Banks tut dies. Hausärzte verzichten dagegen oft auf das Gespräch und verschreiben gleich die vermeintlichen Glückspillen. Das war und ist nicht nur in den USA mit Prozac so. Auch hierzulande geht nur ein Drittel der Rezepte auf das Konto qualifizierter Nervenärzte. Und meistens sind es dann die Hausärzte, die am liebsten die sogenannten SSRI oder SSNRI (1) verschreiben, wenn die Patienten down sind. Und wenn das Ganze unverträglich ist, muss ein neues Präparat her. Das Pillen-Hopping beginnt.


Etwas Neues ist wohl auch bei Emily Banks (Rooney Mara: The Social Network, The Girl with the Dragon Tattoo) angeraten. Die Dame ist nicht gediegener Vorort-Mittelstand, sondern stinkreich. Jedenfalls so lange, wie die Insider-Geschäfte ihres Mannes Martin (Channing Tatum) nicht auffliegen. Als Martin nach vier Jahren Haft nach Hause zurückkehrt, driftet Emily endgültig ab: sie hält zwar mit ihrem Gehalt den Haushalt zusammen, während ihr Mann über neue Geschäfte schwadroniert, aber ihre Depressionen verschlimmern sich dramatisch.
Klinisch betrachtet ist sie der Modellfall einer Major Depression, gleichzeitig aber auch das typische Beispiel einer gescheiterten SSRI-Therapie: appetitlos und sexuell lustlos quälen die Ärmste zudem auch noch Schlafstörungen. 

Pillen ohne Wirkung, aber heftige Side Effects mit Folgen: Suizidal steuert Emily ihren Wagen vor eine Betonwand und kann gerade noch rechtzeitig vor einem Sprung vor die U-Bahn gerettet werden. Einer Klinik-Einweisung entgeht sie nur, weil sie Banks verspricht, weiterhin zur Therapie zu kommen. 
Banks nimmt Kontakt zur Emilys ehemaliger Therapeutin Victoria Siebert auf, die ihm ein neues Präparat für die Problempatientin empfiehlt. Die Entscheidung wird  leicht gemacht: ein Pharmakonzern bietet Banks an, an einer Studie des neuen AD namens Ablixa teilzunehmen: 50.000 $ sind garantiert. Emily willigt ein, aber sie reagiert plötzlich mit somnambulen Episoden auf die neue Pille. Hinterher weiß sie nicht, was sie getan hat. Wenig später ersticht sie ihren Mann in der Küche.


Die Plot-Twists führen an die Börse

Das Kino erzählt Geschichten und hält nicht Schautafeln mit Statistiken hoch. Und nur im Arthouse kann man es sich leisten, ellenlange Diskussionen abzufilmen, die in einem Jargon geführt werden, den keiner versteht. Steven Soderbergh hat es dagegen immer gut verstanden, brisante Themen aufzugreifen und den Zuschauer dabei gut zu unterhalten. Die Kritiker lieben ihn für seinen ersten Film Sex, Lies, and Video tape (1989), die Fans eher für Traffic (2000), Soderberghs meisterlichen Kommentar zum globalen Drogenproblem, oder für Erin Brockovich (2000), jenes Justiz-Drama, in dem Julia Roberts einem gigantischen Öko-Skandal auf die Schliche kommt. Contagion (2011) kann man mit Recht als Höhepunkt der cleveren Mischung à la Soderbergh bezeichnen: wissenschaftlich akkurat aufgearbeitete Fakten, kombiniert mit äußerst effektivem Spannungskino.
 

Auch in Soderberghs nicht ganz zu Unrecht als Psychopharmaka-Thriller angekündigtem Side Effects geht es in den ersten 35 Minuten um ein heikles Thema und einen Riesenmarkt. Vor fünf Jahren gerieten die beliebten AD  ins Kreuzfeuer der Wissenschaft und der Medien. Das Ergebnis war ernüchternd (2): besonders den SSRI wird seitdem nachgesagt, dass sie kaum wirken. Was allerdings wirkt, sind die Side Effects, die sogenannten Nebenwirkungen. Stimulierung des Antriebs ohne Stimmungsverbesserung, Schlafstörungen, Übelkeit – die Liste der ungewollten Störungen ist lang. Denn SSRI haben eine lange Anlaufzeit, sie wirken oft erst nach 8–10 Wochen anti-depressiv. Wenn überhaupt. Nur völlig Ahnungslose erwarten, dass man sich Fluoxetin einwirft und danach richtig gut drauf ist. Zu einem Umsatzeinbruch führten die neuen Erkenntnisse jedenfalls nicht.

Natürlich reißt Soderbergh dies nur an, aber wieder tut es er recht clever: Eine halbe Stunde lang reibt uns Soderbergh den Pharmamarkt unter die Nase, dann wechselt er das Genre und zelebriert einen feinen Thriller, in dem ein Plot-Twist den nächsten jagt: Nachdem Emily ihren Mann umgebracht hat, unternimmt Banks alles, um zu beweisen, dass die Tat eine Nebenwirkung des neuen Medikaments gewesen ist. Als behandelnder Arzt gerät er nun selbst in Kreuzfeuer der Kritik: die Ethik-Kommission taucht bei ihm auf, die Staatsanwaltschaft ermittelt, die Kollegen aus der Gemeinschaftspraxis trennen sich von ihm, seine Frau verlässt ihn und auch der Berater-Vertrag mit dem Pharmakonzern ist futsch.
Banks beginnt zu recherchieren. Über Ablixa. Ein wenig spät. Aber er findet heraus, dass er für eine randomisierte Doppelblind-Studie bezahlt wird, die sich eigentlich für bipolare Störungen interessiert. Oupps! Da muss man schon genau aufpassen, denn im Film ist das nur kurz zu sehen.
Banks bemerkt weitere Unstimmigkeiten.
Er führt einen manipulierten Test mit Emily durch und findet heraus, dass nicht nur er auf raffinierte Art betrogen worden ist.
Aus dem gesellschaftlich ruinierten Arzt wird ein grausamer Racheengel. Banks trickst die Verschwörer aus und so viel sei verraten: es ist nicht die böse Pharmaindustrie, die hinter allem steckt. Im letzten Drittel des Films nimmt Soderbergh den Zuschauer vielmehr auf eine Reise ins Herz der Finsternis mit: Des Rätsels Lösung wird man an der Börse finden und Optionshandel ist die mächtige Triebfeder. Und wie in Psycho wird am Ende eine ausführliche Erklärung nötig sein, um alle Scheußlichkeiten genau zu verstehen.


Hommage an Hitchcock? 
Ganz sicher, nur ist die verdächtigte Hauptfigur anders als bei Hitchcock nicht ganz unschuldig und die Frauen in „Side Effects“ würden eher in einen Film noir passen. Rooney Mara spielt ihre Rolle so somnambul, dass kein Schatten des Zweifels auf sie fällt. Catherine Zeta-Jones ist mit strenger Frisur und markanter Brille schon eher gewissen Zweifeln ausgesetzt. Und ganz am Ende wartet dann eine zweifellos sadistische Pointe auf den Zuschauer, der dem Altmeister sicher große Freude bereitet hätte. 
Die eigentliche Pointe findet man aber im Bonus-Material der DVD: Soderbergh präsentiert zwei fiktive Werbeclips für Psychopharmaka, die ziemlich gemein sind. Wer den Film nicht verstanden hat, wird danach etwas klüger sein.


Postscriptum

(1) auf Deutsch: „Serotonin-Wiederaufnahmehemmer“ oder „Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer“.
(2) Anti-Depressiva gehören in Deutschland zu den zehn am häufigsten verschriebenen Medikamenten, sie rangieren in der Umsatz-Hitliste allerdings in den Top-Five. In den USA nehmen 7 von 10 Bürgern verschreibungspflichtige Medikamente, 13% davon greifen zu AD. Mehr als 250 Milliarden US-Dollar werden umgesetzt – Tendenz steigend. Darunter ADs wie Prozac, das sich fast über Nacht zum Wundermittel entwickelte. Wie auch andere SSRI soll das Medikament den Botenstoff Serotonin länger im neuronalen Umlauf halten und Depressionen heilen.

Der Paukenschlag folgte 2008, als das New England Journal of Medicine eine auf 12.000 Patienten basierende Studie veröffentlichte, die kurz danach von einem britischen Wissenschaftler von der Universität in Hull bestätigt wurde: SSRI sind in leichten Fällen von Depression nicht wirksamer als Placebo, in schweren Fällen ist ein positiver Effekt selten oder schwach.
45 Millionen Menschen hatten Prozac oder andere ähnliche konstruierte Medikamente mit dem Wirkstoff Fluoxetin geschluckt und nun sollte alles ein Fake sein? Es kam noch schlimmer: Kinder und Jugendliche dürfen die Pillen wegen erhöhter Selbstmordrate nicht nehmen (hier gibt es Meta-Studien, die zu einem anderen Ergebnis kommen) und die Hersteller können in Europa mittlerweile auch nicht mehr behaupten, dass die SSRI kein Abhängigkeitspotential besitzen.
Beim obligatorischen Pharma-Bashing sollte man allerdings vorsichtig sein, denn es gibt auch seriöse Studien, die eine Wirksamkeit von SSRI und verwandten Präparaten bei schweren Depressionen nachweisen.


Links

Pressespiegel

Christian Buß schreibt in SPON: Side Effects" wurde in der Kritik vielfach wegen seiner unwahrscheinlichen Wendungen als Mumpitz abgetan, dennoch stößt Steven Soderbergh mit seinem fröhliche Kapriolen schlagenden Depri-Thriller in gesellschaftliche Gefilde vor, die bislang im Kino wenig ausgeleuchtet wurden: Wie ist es eigentlich um die Zurechnungsfähigkeit einer Nation bestellt, deren Bevölkerung zu nicht unerheblichen Teilen auf Psychopharmaka unterwegs ist? Welche Konsequenzen hat es für die Rechtsprechung, wenn die pharmazeutische Industrie für ein Heer potentiell schuldunfähiger Bürger sorgt? Und schließlich: Lässt sich diese potentielle Schuldunfähigkeit gar strategisch für ein Verbrechen einsetzen?“

Rüdiger Suchsland schreibt auf artechock.de: Die „angekündigte Abschiedsvorstellung ist ein Thriller geworden, der auch darin ans klassische Studiokino erinnert, dass er klar und effektiv inszeniert ist, alles Überflüssige und Ornamentale abgestreift hat. Nachdem der Film wie eine Slasher-Version von Desperate Housewives begann, bietet der Mittelteil das sarkastische Portrait einer medikamentensüchtigen amerikanischen Mittelstandsgesellschaft, in der in erster Linie frustrierte Ehefrauen, depressive Geliebte und Burn-out-geplagte Karriereweiber (...) mit ganzen Paletten von Pillen inklusive der jeweiligen Wirkungsverstärker, Verträglichkeitshelfer und Antidota jonglieren, und Ärzte ein Vielfaches ihrer Honorare als Interessenvertreter bestimmter Pharmafirmen verdienen.“

Side Effects, USA 2013. Laufzeit: 106 min. FSK: ab 12. Regie: Steven Soderbergh
Drehbuch: Scott Z. Burns. Darsteller: Jude Law, Rooney Mara, Catherine Zeta-Jones, Channing Tatum.