Sonntag, 28. Januar 2018

Spacewalker – Die Zeit der Ersten

Neues aus Russland: nach dem bereits von mir rezensierten Sci-Fi-Film „Attraction“ möchte ich eine weitere aktuelle russische Produktion vorstellen: „Die Zeit der Ersten“ (The Age of Pioneers), der in Deutschland unter dem Titel „Spacewalker“ vermarktet wird. Dmitriy Kiselev erzählt die Geschichte der Kosmonauten Alexey Leonov und Pavel Belyayev, die 1965 mit der Woschod 2 ins All flogen. Leonov verließ die Raumkapsel für einige Minuten und war der erste Mensch, der sich frei im Weltall bewegte.

Der österreichische „Standard“ verpasste dem Film das Label „Kriegsfilm“. Entweder aus Unkenntnis oder in der weisen Erkenntnis, dass „Die Zeit der Ersten“ eigentlich kein Science-Fiction-Film ist, sondern ein Drama, das ein Kapitel des Kalten Kriegs beleuchtet: den Wettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion um die Vorherrschaft im Weltall.
Aber diese thematische Kurzfassung ist allein schon ziemlicher Blödsinn, denn von Vorherrschaft konnte weder damals noch heute gesprochen werden. Im Gegenteil: das unter einem enormen Zeitdruck durchgeführte Projekt war dermaßen riskant, dass die Geschichte der Woschod 2 weniger ein Space Adventure, sondern vielmehr ein Selbstmordkommando war. Gelegenheiten zum Sterben gab es genug.



Einfach gutes Kino

Alexey Leonov wäre bei seinem berühmten Ausflug fast im All gestorben. Die Rückkehr in die Kapsel gelang nach einem unerwarteten Defekt des Raumanzugs nur unter wahnwitzigen Anstrengungen. Später gab es Probleme mit der Sauerstoffversorgung, die die beiden Kosmonauten in Lebensgefahr brachten. Und nach einer manuell vorgenommenen Landung fanden sich Leonov und Belyayev mitten in den eisigen Wäldern des Ural wieder – und natürlich wusste die Leitstelle zunächst nicht, wo die zwei Kosmonauten zu finden waren.
„Spacewalker“ kommt angesichts dieser historischen Fakten also kaum darum herum, eine Heldengeschichte zu erzählen. In Deutschland wurde der Film kaum zur Notiz genommen. Nicht wenige Kritiker, die über ihn schrieben, fanden ihn zu patriotisch, zu theatralisch, zu aufgesetzt. Jene, die zum zweiten Mal sahen, revidierten ihr Urteil und entdeckten etwas, was sie beim ersten Mal nicht bemerkt hatten.
Möglicherweise hat dies einen Grund: der 146 Minuten lange Film ist einfach gut gemacht, wirkt aber auch wie aus der Zeit gefallen. Denn „Spacewalker“ ist altmodisches Kino und erzählt seine Geschichte daher mit sorgfältig aufgebauten Figuren, exzellenten Hauptdarstellern und interessanten Nebenfiguren. Ein Film mit Charme und einer Geschichte, die nicht nur außergewöhnlich spannend ist, sondern auch das zeigt, was tatsächlich passiert ist. Nur bei den Ereignissen nach der Landung wurde ein wenig geschummelt, aber das ist halt Kino. Anders formuliert: Dmitriy Kiselevs Film ist ein Kinokind der 1980er Jahre. Aufwändig produziert (ich empfehle nachdrücklich das Bonusmaterial) und gleichzeitig angenehm entschleunigt. Mit langen und ausführlichen Szenen und einer wohltuend konventionellen Montage. Hätte man diesen Film vor 40 Jahren in den USA auf die Leinwand gebracht, wäre er einer der ersten Blockbuster der Kinogeschichte geworden. Heute muss man vermutlich diesen Old School-Film zweimal sehen, um ihn zu mögen.


Spaziergang im Weltall

Sowjetunion 1965: Die russische Raumfahrbehörde hat 1961 mit Juri Gagarin den ersten Menschen in All geschossen, die NASA hinkt hinterher und hat gewaltige Probleme mit den Triebwerken ihrer Raketen, die viel zu oft nach dem Start explodieren. Als die UdSSR Wind davon bekommt, dass die Amerikaner mit ihrer nächsten Mission den ersten Menschen „im“ All planen, wird das Tempo trotz eines katastrophalen Unfalls mit einer Testkapsel verschärft. Und die politische Führung um Leonid Breschnew lässt erkennen, dass sie den Wettlauf unbedingt gewinnen will, das Überleben der Kosmonauten aber nicht oberste Priorität besitzt.

„Spacewalker“ erzählt auch davon, beginnt mit seiner Geschichte aber viel früher. Fast eine Stunde nimmt sich Regisseur Dmitriy Kiselev Zeit, um von einer ungewöhnlichen Männerfreundschaft zu erzählen, die zwei völlig unterschiedliche Temperamente zusammenführt. Pavel Belyayev (Konstantin Khabensky, u.a. „Tinker Tailor Soldier Spy“ und „World War Z“) ist ein ruhiger fokussierter Mann, sein Teamkamerad Alexey Leonov (Yevgeny Mironov) ist das genaue Gegenteil: ein Hasardeur, der oft genug Mut und Leichtsinn verwechselt. Während eines gemeinsamen Flugtrainings springt er trotz eines heftigen Sturms mit dem Fallschirm ab, Belyayev springt ihm widerwillig hinterher – und bricht sich bei der missglückten Landung den Fuß. Das gemeinsame Projekt hat sich für ihn beinahe erledigt, aber Leonov setzt alles Mögliche in Bewegung, um seinen Freund bei Laune zu halten und ins Team zurückzuholen. Belyayev trainiert eisern und verbissen und tatsächlich gelingt das Wunder: am 18. März 1965 hebt die Woschud 2 mit beiden in Baikonur ab.

Als Buddy Movie funktioniert „Spacewalker“ also ziemlich gut. Das liegt in erster Linie an den darstellerischen Leistungen von Konstantin Khabensky, der international etwas bekannter ist als Yevgeny Mironov, der zu den erfolgreichsten russischen Theater- und Kinoschauspielern gehört. Die Mischung aus disziplinierter Selbstkontrolle (Belyayev) und kompromisslosem Mut (Leonov) gelingt beiden Darstellern überzeugend, was auch das Teamwork glaubwürdig erscheinen lässt, das ihren Figuren das Leben retten, als es brenzlig wird. 

Dies geschieht zum ersten Mal, als sich Leonovs Raumanzug nach dem Ausstieg aufbläht und eine Rückkehr in Kapsel unmöglich zu sein scheint. Während in ganz Russland die TV-Live-Übertragung abgebrochen wird, denkt man in der Leitstelle in Baikonur darüber nach, Leonov zu opfern, damit wenigstens einer der beiden Kosmonauten gerettet werden kann, schaffen es die beiden Raumfahrer, das Problem mit einem gewagten Manöver zu lösen: Leonov lässt Sauerstoff aus seinem Anzug ab, kehrt mit dem Kopf zuerst in die 1,20 m breite Luftschleuse zurück, muss sich aber der Länge nach vollständig umdrehen, um die Schleuse manuell schließen zu können. Was die Konstrukteure der Woschud für unmöglich hielten, gelingt. Auch die Fotos und Filme, die bei dem

„Spaziergang im All“ gemacht wurden, sind gerettet. Nun müssen die beiden Kosmonauten nur noch lebend die Erde erreichen. Wenn man den Film sieht, ohne die historischen Ereignisse zu kennen, wird man vermutlich nicht glauben können, was man da sieht. Aber genauso ist es passiert.

400 Millionen Rubel hat „Spacewalker“ gekostet. Umgerechnet knapp 6 Mio. Euro sind aber kaum ein Budget, mit dem man Blockbuster realisieren kann. Kiselev und sein Produktionsteam haben dennoch das Kunststück fertiggebracht, den Space Walk Leonovs realistisch aussehen zu lassen. Das gilt auch für alle anderen Szenen, für die Computerprogramme die tatsächlichen Lichtverhältnisse, die Bewegungen in der Schwerelosigkeit und die Probleme beim Wiedereintritt in die Atmosphäre genau berechnen mussten, um die Studioaufnahmen und Effekte so authentisch wie möglich zu gestalten. Auch wenn die Zuschauer das wohl nicht bemerken werden, so demonstriert diese Detailverliebtheit eine kreative Begeisterung, die für den gesamten Film charakteristisch ist. Dass der mittlerweile 83-jährige Alexey Leonov mit am Set war, sei nur am Rande erwähnt.


Gebremster Patriotismus

Thomas Badtke hat für ntv eine euphorische Kritik über „Spacewalker“ geschrieben. „Wäre "Spacewalker" eine Hollywoodproduktion, hätte es wohl eine Serie gegeben, vielleicht sogar mit mehreren Staffeln. Das ist das einzige Manko an diesem großartigen Werk.“
Drei Filme in einem hat der Kritiker gesehen und keine aalglatten Sowjet-Helden. Das bringt es auf den Punkt.
„Spacewalker“ ist allerdings kein Fun Movie, das die politischen Hintergründe des Weltraum-Dramas unkommentiert lässt. Und das scheint im russischen Gegenwartskino kaum anders zu funktionieren als etwa in „Hidden Figures“ (Unerkannte Heldinnen, USA 2016), in dem Theodore Melfi von drei farbigen Mathematikerinnen erzählt, die entscheidend am Mercury- und Apollo-Programm der NASA beteiligt waren. Die Geschichte basiert auf tatsächlichen Ereignissen und spiegelt die Zeit vor der Einführung des Civil Rights Acts von 1964 wider, in der es nicht alltäglich war, dass farbige Wissenschaftlerinnen überhaupt für die NASA arbeiten durften.

„Hidden Figures“ ist allerdings keine tragische Geschichte über den alltäglichen Rassismus in den USA, sondern wie „Spacewalker“ eine kinotypische Erfolgsstory, die eher an einen heroischen US-Sportfilm erinnert. Das passt durchaus, denn die Medien hatten schon längst den Jargon der Sportberichterstattung eingeführt.
Space Race“ und später „Moon Race“ lauteten die gängigen Begriffe und dies verwandelte tatsächlich alles in einen Wettlauf im Weltall.
Theodore Melfi verzichtet in „Hidden Figures“ auf eine scharfe Ideologiekritik, zeigt stattdessen die Absurditäten der Rassentrennung und setzt dabei auf Humor und starke Frauen. Der Held ist allerdings weiß und heißt Kevin Costner. Wer gut ist, schafft es am Ende, so lautet die Botschaft, und das könnte aus einem Sportfilm stammen, ein Genre, in dem Costner gerne unterwegs ist. Irgendwie hat man das Gefühl, das auch in Melfis ziemlich guten Film jener Patriotismus nicht abhandengekommen ist, der es vorzieht, von einigen Dinge nicht ganz so ausführlich zu erzählen.

Auch „Spacewalker“ sucht sich einen Platz zwischen den historischen Stühlen. Die beiden Kosmonauten in ihrer engen Kapsel sind natürlich auch ein Spielball der Politik. Das wissen sie, sie reden aber nicht darüber, dass ihre Mission nicht mit einer erfolgreichen Rückkehr abgeschlossen ist, sondern im Fall der Fälle schon viel früher. Die Rücksichtslosigkeit der Politik ist immer spürbar. Kiselev zeigt auch Leonid Breschnew (Valery Grishko) in seinem Film, entschärft aber die Figur bis an die Grenze zur freundlichen Väterlichkeit. Ob dies historisch korrekt ist, darf bezweifelt werden. Falsch ist es aber nicht, denn
Breschnew unterschied sich von seinem Vorgänger Nikita Chruschtschow durch ein wesentlich moderateres Tempo. Interessant ist daher die heimliche Hauptfigur des Films, der Chefkonstrukteur Sergei Koroljow (Vladimir Ilyin), der während der Zeit der Großen Terrors sechs Jahre lang in einem Gulag gefoltert und gedemütigt wurde. Auch nach seinem Aufstieg zum Leiter des sowjetischen Raumfahrtprogramms war Koroljow in der UdSSR weitgehend unbekannt – und blieb es auch nach seinem Tod. Also ähnlich wie bei den realen Vorbildern von „Hidden Figures“.
Dmitriy Kiselev lässt Koroljows Lagerzeit in seinem Film nicht unerwähnt, auch nicht Leonovs traurige Jugend während des Großen Terrors. In
„Spacewalker“ spielt Vladimir Ilyin die Figur des Sergei Koroljow als traurigen, erschöpften Mann, der allerdings wie ein Löwe mit den Autoritäten kämpft, um ‚seine‘ Kosmonauten wieder sicher auf die Erde zu bringen. Auch Kiselev zieht es vor, von einigen Dingen nicht ganz so ausführlich zu erzählen. Aber es gibt eine schöne Szene, in der Alexey Leonov zu Koroljow sagt: „Wir sind bereit in Fesseln zu fliegen oder in einer Ritterrüstung.“ Der erwidert nach kurzem Nachdenken: „Unser ganzes Volk fliegt in Fesseln, und zwar von Geburt an. Aber stellen Sie sich vor, es wäre nicht so. Was würde passieren? Wir würden das Gleichgewicht verlieren und würden zu den Teufeln hinabstürzen. Ja, so ist unser Volk.“
Nein, zu patriotisch und zu theatralisch ist „Spacewalker“ nicht. Vielleicht gelegentlich etwas rätselhaft und vielleicht auch etwas unentschlossen, aber das ist kein Privileg des russischen Kinos. Zur Geschichte gehört auch, dass
Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy sich persönlich nicht im Geringsten für die Abenteuer im Weltall interessierten. Sie erkannten aber ihren propagandistischen und militärischen Wert. „Spacewalker“ erzählt dagegen von den Träumen und Mythen. So gesehen ist er dann doch ein Science-Fiction-Film.
 
Noten: BigDoc = 1,5, Klawer = 2,5, Melonie = 3

Spacewalker - Die Zeit der Ersten – Russland 2017 – Regie: Dmitriy Kiselev – Laufzeit: 146 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – D.: Konstantin Khabensky, Yevgeny Mironov, Vladimir Ilyin, Valery Grishko