Freitag, 7. Dezember 2018

Reise in die Kälte III: „Wolfsnächte“

Jeremy Saulniers Film „Wolfsnächte“ (Hold The Dark) gehört zu den exklusiven Angeboten von Netflix Im Sektor Spielfilm. Verfilmt wurde William Giraldis gleichnamiger Erfolgsroman, der zumindest atmosphärisch ein Sequel von Tony Sheridans „Wind River“ sein könnte. Leider fehlt Saulnier die erzählerische Tiefenschärfe, um Sheridans Winterepos auf Augenhöhe begegnen zu können.
Mit der AMC-Serie „The Terror“ und dem Film „Wind River“ und wurden im Sommer dieses Jahres von mir zwei tiefschwarze Geschichten besprochen, die als „Reise in die Kälte“ empfunden wurden. In „The Terror“ spiegelte die beinahe vollständige Auslösung von zwei Schiffsbesetzungen in der Kälte der Arktis die geringe moralische Fallhöhe von Menschen im Angesicht des sicheren Todes wider. Den Terror übte nicht eine feindliche Umgebung aus, sondern von Menschen, deren arrogantes Ignorieren der Naturkräfte ihren Untergang einleitet. 



Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen

Das Genre des Historienfilms wurde in „The Terror“ durch ein Monster gesprengt, das die Seeleute dezimiert und als allegorischer Katalysator verstanden werden konnte. Während „The Terror“ in der Mitte des 19. Jh. spielt und (bis auf das Monster) auf wahren Ereignissen beruht, führte Tony Sheridans „Wind River“ in eine fiktive Welt der Gegenwart, in der die eisige Winterlandschaft Wyomings nichts Gutes bereithält. Aber auch hier ist nicht die Natur der Feind, sondern der Mensch, der die Rolle des Monsters einnimmt. Es geht um die Ermordung einer jungen Frau, den gnadenlosen Rachefeldzug eines Mannes, der alttestamentarische Vergeltung den Sanktionen des Staates vorzieht, und um eine Männerfreundschaft ohne große Worte. In „Wind River“ überleben diejenigen, die sich der lebensfeindlichen Natur anpassen können.

„Lupus est homo homini, non homo“ (Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch) schrieb der römische Dichter Plautus. Eine Einsicht, die in der Folge nicht nur von Thomas Hobbes aufgegriffen wurde, sondern als moralphilosophisches Konstrukt durch dystopische Erzählungen in Filmen und Serien geistert (u.a. „The Walking Dead“). Hobbes wurde aber teilweise missverstanden, denn er meinte nicht nur das Böse, das von Menschen ausgeht, sondern auch dessen Spiegelbild – die Gegenwehr, die von den Tugendhaften ausgeht, um das Böse abzuwehren. In „The Terror“ gehen die Tugendhaften unter, weil sie keine sind, in „Wind River“ vollziehen sie ihre Rache mit eisiger Kälte.


Deutlich an „Wind River“ angelehnt ist „Hold The Dark“ (Wolfsnächte), eine Verfilmung des gleichnamigen Romans (2015) von William Giraldi, den offenbar das dichotomische Verhältnis von Natur, Zivilisation und Männlichkeit interessierte. „I’m uneasy with the simplistic formulations: men are violent, women are maternal. I think I’m attracted to the themes of violence and nature and masculinity because I’m eager to comprehend them, their destructiveness“, beschrieb Giraldi in einem Interview mit der Huffington Post einen Aspekt seines Romans.

Dass in Giraldis Roman ausgerechnet das Unheil von einer Frau ausgeht, die aus unerfindlichen Gründen ihr Kind tötet, war für den Autor eine Schlüsselkonstellation der Erzählung: „Medora is perhaps more the wolf than most are: she’s out there at lip of the known world, in a relentless scape of death, of insistent and destructive weather, and she’s trying to hold onto her humanness, not cross that line into the beastly, but it’s hard when you don’t have the strictures of civilization tamping the animal in you.“


Ein geheimnisvolles und tödliches Mysterium

William Giraldi erfolgreicher Roman wurde 2017 von Jeremy Saulnier verfilmt (Buch: Macon Blair) und 2018 exklusiv von Netflix distribuiert. Das Beste an dem Film ist die dichte Atmosphäre, die Saulnier im ersten Drittel des Films erzeugt. Medora Sloane (Rily Keough: „It Comes at Night“, „Mad May: Fury Road“) lebt mit ihrem sechs Jahre alten Sohn Bailey in einem einsamen Nest in Alaska. Ihr Mann Vernon (Alexander Skarsgård: „The Legend of Tarzan“) befindet sich im Irak-Einsatz. Als Bailey plötzlich verschwindet, macht Medora die Wölfe dafür verantwortlich – sie hätten bereits drei andere Kinder überfallen und getötet. Um ihre These zu untermauern, bitte sie den Verhaltensforscher und Wolfsexperten Russel Core (Jeffrey Wright: „Westworld“, Season 1 & 2) um Hilfe. Der taucht auch in dem verschlafenen Keelut auf und gleichzeitig auch ein in eine lebensfeindliche Umgebung, in der alles jenseits der vier eigenen Wände zu einem geheimnisvollen und tödlichen Mysterium wird.
Zumindest in den ersten Szenen erzeugt Jeremy Saulnier eine intensive Spannung der Dunkelheit, die von Medora ausgeht. Core, der im Haus der Sloanes übernachtet, wird nächstens von seiner Gastgeberin in einer Wolfsmaske aufgesucht. Medora legt sich nackt neben Core, der von der Situation spürbar überfordert wird. Am nächsten Tag begibt sich Core auf die Suche, allerdings ergebnislos. Als er zurückkehrt, ist Medora verschwunden und Core findet im Keller des Hauses die Leiche des erwürgten Kindes. Die Polizei hält die Mutter für die Mörderin und nimmt die Suche auf, während Core von einer alten Indianerin erfährt, dass Medora von einem Wolfsdämon beherrscht wird.

Dies hört sich spannend an, versinkt nach einem grandiosen Auftakt aber in einem hanebüchenen gewaltgetränkten Mystizismus, der dem Film eine völlig andere Tonalität verleiht. Medoras Mann Vernon, den Alexander Skarsgård in einer eingeschobenen Irak-Episode als unnahbaren Killer mit eigenem Moralkodex spielt, ist nach Keelut zurückgekehrt und begibt sich nun selbst auf die Suche nach seiner Frau. Die Suche verwandelt sich aber fast unmittelbar in einen Blutrausch, denn Vernon tötet aus für den Zuschauer unerfindlichen Gründen zwei Polizisten und danach während seiner Odyssee durch das winterkalte Alaska auch weitere Personen.


Ohne Psychologie bleibt alles nebulös

„Wolfsnächte“ bietet als Genrefilm (mit Country Noir wurde bereits das passende Label eingeführt) einige bemerkenswerte darstellerische Leistungen. Jeffrey Wright spielt einen zerbrochenen Mann mit dem gleichen zerknirschten Gesicht wie den Androiden Bernard in „Westworld“, aber was den Wolfsforscher Core – abgesehen von einigen familiären Problemen – eigentlich umtreibt, wird ebenso wenig klar wie die Gründe der anderen Protagonisten des Films. Alexander Skarsgård tötet in Serie mit eingefrorenem Gesicht, während Rily Keough erst am Ende des Films wiederauftaucht.

Ähnlich wie in „Wind River“ wird in „Wolfsnächte“ die desolate Situation der indigenen Bevölkerung skizziert, aber während Tony Sheridan und sein Hauptdarsteller Jeremy Renner ein differenziertes interkulturelles Beziehungsgeflecht zeichnen, überspringen Jeremy Saulnier und Scriptwriter Macon Blair in ihrer Adaption die Exkurse Giraldis, extrahieren lediglich die Gewaltexzesse aus der Romanvorlage und reihen sie aneinander, ohne dem Zuschauer auch nur den geringsten Anhaltspunkt für eine Erklärung zu bieten.
Großen Raum nimmt in „Wolfsnächte“ ein endloses Massaker ein, das Vernons Freund Cheeon mit einem M 60-Maschinengewehr unter der örtlichen Polizei anrichtet.
Dies zerreißt den Film förmlich, denn das Plakative dieser Gewaltorgie ist erst nicht imstande, die Leerstellen des Films zu füllen. 
Sollte „Hold the Dark“ tatsächlich von der Finsternis erzählen wollen, hätte man durchaus von Joseph Conrads Werken und dessen besonderem Zugang zur Psychologie seiner Figuren inspirieren lassen können. Conrads ‚heroischer Fatalismus‘ wird zwar in der Figur des Verhaltensforschers Core spürbar, aber „das Böse“, das Jeremy Saulniers Figuren vermeintlich beherrscht, bleibt ohne Psychologie arg nebulös. Ist es die unbarmherzige Natur, die die Menschen in den Wahnsinn oder ins Tierische treibt? Oder liegt ein mythischer Fluch auf ihnen? 


Nun ist zum einen Unbarmherzigkeit eine menschliche Eigenschaft, zum anderen ist das Tierische kaum mehr als die Projektion anthropogener Eigenschaften auf etwas, das völlig anderen Naturgesetzen folgt. Dass Menschen Wölfe ausrotten, so William Giraldi, weil sie in ihnen ihr eigenes Wesen entdecken, ist daher ein netter spielerischer Gedanke, der zwar an Plautus und Hobbes erinnert, aber einen ähnlich geringen Erkenntniswert besitzt wie die Verfilmung seines Buchs, an deren Ende man so gut wie nichts von den Figuren verstanden hat. Giraldi hatte zumindest einige Überlegungen und Reflexionen anzubieten. Saulnier und sein Autor Macon Blair (der 2013 in Saulniers „Blue Ruin“ die Hauptrolle spielte) stellen zwar kunstvoll und atmosphärisch gefilmt ihre Affinität für archaische und gewalttätige Topoi erneut unter Beweis, kommen erzählerisch aber nicht über eine verschwurbelte Naturmystik hinaus.


Note: BigDoc = 4

Wolfsnächte (USA 2018) – Originaltitel: Hold the Dark – Regie: Jeremy Saulnier – Laufzeit: 125 Minuten – FSK: ab 16 Jahren – Verleih: Netflix – D.: Jeffrey Wright, Alexander Skarsgård, James Badge Dale, Riley Keough, Macon Blair.

In Reise in die Kälte IV wird demnächst an dieser Stelle Scott Coopers „Feinde“ (Hostiles) näher unter die Lupe genommen.