Sonntag, 6. September 2020

Away - Netflix-Serie zwischen Soap und Science-Fiction

Vertrauen, Loyalität und Freundschaft sind der Kleister, der nicht nur in einem Raumschiff auf dem Weg zum Mars vonnöten ist, sondern auch auf dem Blauen Planeten, wo die Familien der Raumfahrer ihre ziemlich irdischen Probleme bewältigen müssen. „Away“ erzählt davon, aber auch davon, dass man ein Raumschiff nicht einfach wenden kann, um wieder nach Hause zu düsen. 
 
Die Netflix-Serie bemüht sich nicht einmal darum, auf Stereotypien zu verzichten, bringt alles aber so nett rüber, dass ein richtig nettes Stück Familienunterhaltung entstanden ist. Das liegt an einem fabelhaften Cast, angeführt von der Oscar- und Golden Globe-Gewinnerin Hilary Swank in Bestform.


„Away“ hat ein erfreulich realistisches Potential

„Ich bin dann mal weg“, sagte Hape Kerkeling und brach zu einer Pilgerfahrt auf. Die Astronautin Emma Green (Hilary Swank mit Golden Globes-reifem Auftritt) ist nicht so flapsig, als sie mit ihrer Crew zur ersten bemannten Mars-Mission aufbricht. Im Gegenteil: Emma bekommt ihre Familie nicht aus dem Kopf, auch wenn sich die extrem ehrgeizige Kommandantin der Atlas 1 nichts sehnlicher wünscht, als einen Fuß auf den staubtrockenen roten Planeten zu setzen.
In der neuen zehnteiligen Netflix-Originalserie „Away“ geht es daher mehr um eine melodramatische Familienserie als um kernige Science- Fiction. Dabei stellte sich Ideengeber Andrew Hinderaker, der auch für drei Episoden das Drehbuch verfasste, eine durchaus begründete Frage: Wie kommt man damit klar, auf eine dreijährige Mission zu gehen und gleichzeitig die familiären Bande nicht zu beschädigen? Ganz klar: das geht nicht. Eigentlich.

Hinderakers Sujet ist keineswegs fiktional. 2014 erschien im „Esquire“ eine Reportage des Journalisten Chris Jones über den US-Astronauten Scott Kelly, der 340 Tage auf der Internationalen Raumstation ISS verbrachte. Es war nicht nur ein Rekord, sondern auch eine Tragödie, denn während dieser Zeit wurde Kellys Schwägerin Gabby Giffords, einer Politikerin, bei einer Wahlkampfveranstaltung in den Kopf geschossen. Bei dem Attentat eines 22-jährigen Fanatikers kamen sechs Menschen ums Leben, darunter ein Bundesrichter und ein neunjähriges Mädchen.


In „Away geht es nicht ganz so grausam zu, aber auch Emma Green wird vom Schicksal kräftig gebeutelt. Eigentlich sollte ihr Mann Matt (Josh Charles) zum Mars fliegen, aber eine zu allem Unglück auch noch vererbbare Gefäßkrankheit katapultierte ihn aus dem Medizincheck. Kurz bevor die Atlas 1 vom Mond abhebt, bricht Matt mit einem Schlaganfall zusammen. Er überlebt, aber Krankenhaus und Reha schaffen es nicht, den ehrgeizigen Astronauten und brillanten Ingenieur vor dem Rollstuhl zu bewahren. Zudem wird er als leitender Mitarbeiter der Mission Control suspendiert, um ihm die emotionale Belastung zu ersparen. Matt muss nicht nur akzeptieren, dass er fortan seiner Frau nur eingeschränkt helfen kann, er muss auch mit den Krisen und emotionalen Nöten seiner Tochter Alexis (Talitha Bateman) klarkommen. Der fehlt die Mutter mehr als die Eltern es erwartet hatten. "Nach Hause telefonieren": E.T. gelang dies nur einmal, für Emma wird es ein Dauerzustand im Katastrophen-Management. Dies wirkt sehr realistisch – neu ist es nicht. Auch „Interstellar“ erzählt Ähnliches, nur halt nicht so geerdet.

Auch an Bord der Atlas 1 lassen die Krisen nicht lange auf sich warten. Emma hat als neue Kommandantin einen schweren Stand in der international zusammengesetzten Crew. Der russische Weltraum-Veteran Misha (Mark Ivanir) hält sich für den kompetenteren Anführer und die chinesische Chemikerin Lu (Vivian Wu) schlägt sich misstrauisch auf die Seite des bereits in die Jahre gekommenen Russen. Als der Ausfall eines Solar-Panels einen Spacewalk erforderlich macht, müssen Emma und Misha als Team zusammenarbeiten. Emma gelingt es mit einer lebensgefährlichen, aber erfolgreichen Aktion, sich etwas mehr Respekt zu erkämpfen.
Normalerweise verzichten ähnliche Serie nicht auf einen Schurken oder Intriganten. Die Crew der Atlas 1 ist zwar bunt zusammengewürfelt, aber im Kern gutherzig. Das verblüfft. Mit an Bord sind der britisch-ghanaische Botaniker Kwesi (Ato Essandoh: „Person of Interest“, „Altered Carbon“, „X-Men: Dark Phoenix“), der nach dem Tod seiner Eltern als Adoptivkind jüdisch erzogen wurde, und der indische Bordarzt Ram (Ray Panthaki), der von Beginn an Emma unterstützt und später romantische Gefühle für die Kommandantin entwickelt. Beide stehen ostentativ für eine optimistische Grundhaltung, obwohl ihre Grundhaltung ein ums andere Mal auf den Prüfstand gerät.



Sehr konventionelle Erzählung

Trotz dieser unüblichen Ausrichtung ist „Away“ alles andere als eine originelle Erzählung. Die Serie folgt konventionellen Erzählmustern, die Grundkonstellation sorgt nur selten für Überraschungen. Beinahe jede Episode hält ziemlich vorhersehbar eine bedrohliche Katastrophe für die Crew bereit. So erkrankt Ram am Pfeifferschen Drüsenfieber und zwingt die gesunden Astronauten zu strenger Quarantäne. Als er sich bei einem Sturz verletzt, begibt sich Emma in seine Kabine des Erkrankten, alle anderen folgen ihr und ungeachtet der möglichen Ansteckung retten sie ihrem Bordarzt das Leben.

Auch als der Wasser-Generator ausfällt, ist dies nicht nur ein technischer Fehler, sondern auch ein menschlicher wird sichtbar. Die Anlage kann von dem technisch kompetenten Misha nicht mehr repariert werden, weil der Russe seine durch die Dauerschwerelosigkeit ausgelöste und rasch fortschreitende Erblindung zunächst vertuschen konnte, nun aber kaum noch etwas sieht. Das Team fühlt sich betrogen, der Einbau eines Backup-Systems gelingt zwar, aber die dramatisch geschrumpften Wasserrationen bringen alle an den Rand der Dehydrierung. Emma und der genesene Ram müssen daher bei einem Spacewalk Wasser aus den Bordsystemen ablassen und das rasch in Eis verwandelte Wasser in Säcken einsammeln. Ein spektakuläre Szene und Mark Watney lässt grüßen.

Aber immer schwingen dabei die Themen Loyalität und Vertrauen mit, und wie die Probleme gelöst werden, wirkt nur auf den ersten Blick heroisch. Tatsächlich geht die Crew der Atlas 1 bald auf dem Zahnfleisch. Ähnlich wie Emma schleppen sie den Ballast ihres irdischen Lebens mit allen Wirrungen mit zum Mars. Dass in den Episoden über jedes Crewmitglied prompt eine Backstory erzählt wird, gehört zwar zu den vorhersehbaren Topoi der Serie, sorgt aber für sehr viel Charaktertiefe.

So ist die disziplinierte Lu bei näherem Hinsehen eine emotional tief verletzte Frau. Ihrer Ehe fehlen Liebe und Leidenschaft und die fast keusche Liebesbeziehung zu einer Kollegin wird nach dem Start der Atlas aufgedeckt. Sie führt dazu, dass ihre Geliebte Mei Chen strafversetzt wird. Lu, die Heldin der chinesischen Nation soll schließlich ein Mythos werden. Auch in einem internationalen Gemeinschaftsprojekt können ideologische und politische Gräben nicht so einfach beseitigt werden.
Emotionale Dissonanzen aber schon. So hat der farbige Kwesi hat eine tragische Kindheit erlebt, ist aber von einem tiefen Glauben erfüllt und sorgt auf seiner ersten Mission im All für die seelsorgerischen Bedürfnisse der Crew – auf der Atlas lernt man auch zu beten, auch wenn mitten in einer Krise kein Ausweg zu erkennen ist. Dabei segelt die Serie mitunter haarscharf am Kitsch vorbei.
Auch Misha hat ein Geheimnis. Er ist alles andere als ein souveräner Macho. Vielmehr plagen ihn familiäre Probleme. Vor Jahren versprach er seiner Tochter, nicht mehr ins All zu fliegen. Er tat es doch. Dagegen quälen Ram die Erinnerungen an seinen Bruder, der an Typhus starb – eine Tragödie, für die sich der junge Ram verantwortlich hält.

So haben alle einen Rucksack voller Probleme. Alternierend folgen die Ereignisse auf der Erde ebenfalls den vertrauten Mustern einer von Soap nicht weit entfernten Story, etwa wenn Alexis immer heftiger versucht, die Abwesenheit ihrer Mutter zu kompensieren. Als sie den sympathischen Biker Isaac (Adam Irigoyen) kennen- und lieben lernt, nimmt die Entfremdung zu ihrem Vater zu. Der kämpft sich energisch ins Control Team und in das Leben seiner Tochter zurück und taucht als Trostspender auch in den Tagträumen Emmas auf. Ja, manchmal ist es zu viel des Guten, was uns „Away“ auftischt.



Toller Cast spielt alle Schwächen hinweg

Dass man von „Away“ nicht lassen kann und sich jede Episode mit großer Neugier anschaut, war für mich dann doch eine Überraschung. Gut, die beiden Spacewalks und auch andere Zutaten aus der Effekteschmiede können es locker mit „Gravity“ aufnehmen. Auch die Technikkrisen an Bord der Atlas 1 werden außergewöhnlich spannend erzählt, dafür sind viele Dialoge im wahrsten Sinne herzerweichend schlicht und der zuckersüße Score trägt das Erforderliche dazu bei. Besonders lästig waren Dialoge und Musik in der letzten Episode „Home“, als die Crew der Atlas noch während des nervenaufreibenden Landemanövers auf dem Mars die Zeit findet, sich über ihre Gefühle zu unterhalten. Da blieb eigentlich nur fassungsloses Kopfschütteln.

Warum die neue Netflix-Serie dann doch nicht crasht, liegt an zwei fetten Pluspunkten: die Darsteller sind durchgehend glaubwürdig, und Hilary Swank, die zweifache Oscar- und Golden Globe-Preisträgerin („Boys Don’t Cry“, „Million Dollar Baby“), spielt ihre Kollegen keineswegs an die Wand. Denn nicht nur Josh Charles („Masters of Sex“, „The Loudest Voice“) als Ehemann und Vater, sondern auch Talitha Bateman als emotional gestresster Teenager bleiben voll und ganz auf Augenhöhe. Zudem setzt der Film- und Serienroutinier Mark Ivanir einige Duftmarken, die beim Zuschauen enorm viel Spaß bereiten. Dies zeigt, dass ein gut aufgelegtes Darstellerensemble den einen oder anderer klischeehaften Drehbuchtext locker überspielen kann.


Der andere Pluspunkt: „Away“ ist kein Melodram, das deprimiert und existentiell an die Grenzen geht, sondern ein Melodram, in dem trotz aller Tragödien von einer Handvoll Gutmenschen erzählt wird, die es trotz aller Missverständnisse und gelegentlichen Zerwürfnisse immer gut miteinander meinen. So strahlt „Away“ einen naiven Optimismus aus, aber man kauft es den Figuren ab und fühlt sich dabei überwiegend gut unterhalten. Packt man „Away“ in die Kategorie Soap, so kann man guten Gewissens von Premium-Soap sprechen, jenem liebenswerten Genre, das im Bedarfsfall ausgesprochen wohltuend ist, weil man die ganze Zeit sicher sein kann, dass alles am Ende gut ausgeht. „Away“ gehört zu den guilty pleasures, die man sich ab und an gönnen darf. Ob es eine weitere Staffel gibt, steht noch nicht fest. Was in einer Fortsetzung erzählt werden wird, kann man sich aber schon jetzt ausmalen.


Away - Netflix 2020 - 10 Episoden - Created by Andrew Hinderaker - D.: Hilary Swank, Josh Charles, Talitha Bateman, Vivian Wu, Mark Ivanir, Ato Essandoh, Ray Panthaki.

Noten: BigDoc = 2,5