Montag, 5. Juli 2021

Mare of Easttown – HBO’s grandiose One-Woman-Show mit Kate Winslet

In der HBO-Miniserie spielt Kate Winslet den Detective Mare Sheehan in einem kleinen Kaff. Easttown liegt in Pennsylvania, es ist ein verschlafenes Nest im Nirgendwo mit vielleicht knapp 10.000 Einwohnern, die alle irgendwie versippt, verschwägert oder sonst wie verwandt sind. Als eine junge Single-Mutter ermordet wird, läuft eine Schockwelle durch die Gemeinde. Kurz zuvor verschwand ein junges Mädchen, Mare konnte den Fall nie lösen. Treibt ein Serientäter sein Unwesen? Aber unter Druck steht die Polizistin auch ohne diesen Fall.
Showrunner Brad Ingelsby hat für die 7-teilige Miniserie alle Drehbücher geschrieben. Die Handlung ist verzwickt, der Cast ist groß und der Zuschauer muss schon etwas aufpassen, damit er nicht den Überblick verliert. Zusammengehalten wird die vielschichtige Geschichte von einer (wieder einmal) großartig aufspielenden Kate Winslet, die aus einem konventionellen Crime Plot ein sehenswertes Familiendrama macht, das am Ende wieder im Crime Plot landet. Und das sehr zerstörerisch.

Reise in eine beschädigte Provinz

HBO arbeitet sich wieder nach vorne. Legendäre Shows wie „Game Of Thrones“ und „True Detective” sind längst Geschichte. „Westworld” stürzte dagegen aus genialen Höhen ab. Innovatives wie „Watchmen“ oder „Lovecraft Country“ wirkten etwas angestrengt. „Chernobyl“ zeigte dagegen als zeitlose Mahnung, warum HBO jahrzehntelang ein Synonym für Quality TV war. Nun versucht sich der Pionier des amerikanischen Kabelfernsehens an Remakes, etwa einer Fortsetzung von „The Treatment“, und an kleineren Formaten. Zu diesen gehört auch „Mare of Easttown”. 

Neu ist Geschichte nicht. Brad Ingelsby, der bislang als Produzent und Autor gearbeitet hat, hat ein wenig bei der BBC-Serie „Happy Valley“ (2014) abgekupfert. Dort erzählt Sally Wainwright die Geschichte der Polizistin Catherine Cawood, die versucht, den Selbstmord ihrer Tochter Becky zu verarbeiten, die vergewaltigt und vom Täter geschwängert wurde. Catherine (Sarah Lancashire) lebt mit ihrer heroinabhängigen Schwester zusammen, beide Frauen kümmern sich um Beckys kleinen Sohn. Dann wird der Vergewaltiger aus dem Gefängnis entlassen.

Die Parallelen sind kaum zu übersehen. In „Mare of Easttown” lebt Mare mit ihrer biestigen Mutter Helen (Jean Smart) und ihrer lesbischen Tochter Siobhan (Angourie Rice) zusammen. Mares Sohn Kevin, der unter psychischen Probleme litt, nahm sich vor zwei Jahren das Leben. Nun kümmern sich Mare und Helen um Kevins vierjährigen Sohn Drew, während Kevins drogenabhängige, aber mittlerweile cleane Freundin Carrie (Sosie Bacon) einen Sorgerechtsstreit um das Kind begonnen hat. Siobhan beschäftigt dagegen mit einer Video-Dokumentation über ihren toten Bruder. Das ist digitale Trauerarbeit, Mare ist dagegen ganz normal depressiv. Dann wird Erin McMenanim (Cailee Spaeney) tot aufgefunden.

Man sieht: originelles Storytelling wird immer schwerer. Zuschauern, die die BBC-Serie nicht kennen, wird das dezente Plagiieren des Plots nicht bekümmern. Zudem hat „Mare of Easttown” trotz einiger Soap-Elemente und dem unübersehbaren Drang, seine Protagonisten immer tiefer in ein Netz von dunklen Familiengeheimnissen, Gewalt und Verzweiflung zu ziehen, eine psychologisch glaubwürdige Ausrichtung und eine realistische Grundierung.
„It feels real. It feels as if we know these people“, schrieb der Filmkritiker Richard Roeper.
Das liegt auch daran, dass Brad Ingelsby in dieser beschädigten Region aufgewachsen ist und genau weiß, dass sie wie viele andere von einem Abstieg der Mittelklasse geprägt wird. Aber auch von Drogen, die sich auch in der Provinz ausbreiten. Nicht nur zufällig gehen einige junge Mädchen auf den Strich, potentielle Opfer für einen Psychopathen, der – wie man später sehen wird – seine Opfer in einem Keller wegsperrt.
Trotz der genauen Milieuskizze, die Ingelsby zeichnet, ist „Mare of Easttown” aber keines der Sozialdramen mit politische Agenda, wie sie der ambitionierte David Simon („The Wire“) mit „Show Me A Hero“ oder „The Deuce“ immer wieder abgedreht hat und die natürlich auch bei HBO liefen. Manchmal entwickelt etwas mehr Nachdruck, wenn man es By the Way erzählt.

Kate Winslet ist grandios

Aus 13 Figuren besteht der Main Cast, die dreifache Anzahl an Supporting Actors muss ebenfalls vom Zuschauer verarbeitet werden. Dass dieser Mix nicht zum Labyrinth wird, liegt am guten Scriptwriting und noch mehr an Kate Winslets überwältigend guter Performance. Überragende Darsteller machen aus einem mittelmäßigen Plot einen guten, aus einem guten allerdings ein Meisterwerk. So, wie Winslet in „Mare of Easttown” spielt, schreit eigentlich alles nach einer weiteren Staffel, weil man wissen will, was dieser Figur noch alles passieren wird.


Für die Darstellung der fragilen Polizistin entsorgte die Oscar-Preisträgerin alles Feminine aus ihrer Figur. Rustikal gekleidet bewegt sie sich wie ein Mann, mit schwerem Schuhwerk stampft sie durch die Stadt, saugt hastig an ihrer E-Zigarette und verbeißt sich wie ein Terrier in ihre Ermittlungen. Voller Härte und Selbstzweifel.
Dass man gefesselt ist, liegt nicht daran, dass Winslet einen traumatisierten Cop spielt – das ist nicht neu. Aber wie sie ihre Familiengeschichte und ihre Selbstzweifel hinter einer zunächst ganz und gar unsympathischen Ruppigkeit versteckt, ist grandios. Denn in Easttown kennt jeder eigentlich jeden und die Geschichte mäandert durch die kleinen und großen Netzwerke, in denen alle irgendwie miteinander verbandelt sind. In diesem Biotop Grenzen für sich abzustecken, ist schwer.
Mare gelingt es auf ihre eigene, gelegentlich sehr frostige Weise. Ihre Verletzlichkeit und ihre Ängste nicht zeigen zu müssen, erreicht zu oft aber nur das Gegenteil. 
Ängste hat sie viele. Der Selbstmord ihres Sohnes hat die Selbstzweifel verstärkt: an ihrer Fähigkeit als Mutter, an ihrer Tauglichkeit als Polizistin. Nun kommt die Sorge hinzu, dass Drew die labile Psyche seines an einem Tourette-Syndrom leidenden Vaters geerbt hat. Und ganz zuletzt verliert auch ihr vermeintlich einziger Lebenshöhepunkt seine Bedeutung.

Nicht umsonst heißt die erste Folge „Miss Lady Hawk Herself" und sie beginnt mit einer großen Feier, dem 25. Jahrestag des Gewinns der Basketball-Landesmeisterschaft. Noch einmal wird das Frauenteam gefeiert, noch einmal wird im Lokalblatt die entscheidende Aktion von „Lady Hawk“ Mare Sheenan ins Gedächtnis zurückgeholt, noch einmal betreten alle Mitglieder des Frauenteams unter tosendem Jubel die randvolle Sporthalle, darunter auch Mares beste Freundin Lori Ross (Julianne Nicholson), aber Dawn Bailey (Enid Graham), deren Tochter Katie (Caitlin Houlahan) vor einem Jahr spurlos verschwand und die nun den lokalen Behörden öffentlich ihr Versagen anlastet. Längst hat das provinzielle Leben die meisten Frauen eingeholt, und einige wie Mare und Dawn stehen vor einem Scherbenhaufen.

Auch Mares Affäre mit dem smarten und gerade nach Easttown gezogenen Buchautor und College-Professor Richard Ryan (Guy Pearce) könnte ein neuer Scherbenhaufen werden. Die Affäre besitzt zwar eine große sexuelle Intensität, aber in der Auseinandersetzung von Distanz und Nähe sorgt Mare konsequent dafür, dass die Distanz eher als Gewinner infrage kommt. Und das, obwohl Richard etwas Entscheidendes mit Mare teilt: Richard hatte nur die Kraft für ein großes Buch, Mare hatte ihren biografischen Höhepunkt beim Spiel der Hawks. Nun lieben sich ein urban kultivierter Intellektueller und eine nicht weniger schlaue Frau aus einem Provinzkaff auf Distanz – und man kann froh sein, dass Brad Ingelsby die Männerrolle nuanciert entwickelt hat und Pearce gut genug spielt, um ein eigenes Standing zu entwickeln (Winslet und Pearce standen bereits für
Mildred Pierce gemeinsam vor der Kamera).

Gelegentlich wirkt alles überkonstruiert, ist es aber nicht

Der Crime Plot wirkt in der HBO-Serie wie ein Katalysator, der die verkrusteten und fragilen Beziehungen der Protagonisten aufbricht und sich in tiefere Schichten vorarbeitet. Als die junge Single-Mutter Erin McMenanim erschossen aufgefunden wird, vergräbt sich Mare in die Ermittlungen. Abgründe tun sich auf, denn immer mehr Personen kommen als Täter in Frage. Da ist Erins Ex-Freund Dylan Hinchley (Jack Mulhern), der Vater ihres Kindes, der sich weigert, das Geld für eine komplizierte Operation seines Sohnes aufzutreiben. Dylan sah tatenlos zu, als seine Freundin Brianna (Mackenzie Lansing) ausgerechnet in der Mordnacht während einer Party im Wald Erin brutal zusammenschlug und nun auch auf der Liste der potentiellen Täter steht. Wenig später gerät auch Mares Ex-Mann Frank Sheehan in den Fokus, als Mare herausfindet, dass Frank offenbar eine Beziehung mit Erin gehabt hatte. Und last but least ist da noch der katholische Dekan Mark Burton (James McArdle), der nach Easttown versetzt wurde, nachdem er beschuldigt wurde, in seiner alten Gemeinde eine Minderjährige sexuell missbraucht zu haben. Er traf Erin noch in der Mordnacht und beseitigte später deren Fahrrad, um dieses Treffen zu vertuschen.

Als Mare keinen Schritt vorankommt, wird der County Detective Colin Zabel (Evan Peters) zur Unterstützung abgestellt. Mare ignoriert den jungen Polizistin, der kurz zuvor einen anderen Fall spektakulär aufgeklärt hatte, mit gewohnter Ruppigkeit. Erst später kommen sich die beiden näher, auch weil Colin gesteht, dass er seinen Ruhm nur den Ermittlungen eines verstorbenen Privatdetektivs verdankt. Die Quelle verschwieg er. Colin ist eine weitere Figur in der HBO-Serie, die früh auf dem Berggipfel angekommen ist und nun verbissen beweisen will, dass sie es auch verdient hat.
Aber gerade als beide langsam ein Team werden, verändern zwei Ereignisse die Situation: Mare, die den aussichtslosen Sorgerechtsstreit um jeden Preis gewinnen will, schiebt der Freundin ihres toten Sohnes Drogen unter, die sie zuvor so plump aus der Asservatenkammer entwendet hat, dass Police Chief Carter (John Douglas Thompson) sie suspendieren muss. Und dann verschwindet mit Missy Sager (Sasha Frolova) eine weitere junge Frau, die in einen Keller gesperrt wird und dort die seit einem Jahr verschwundene Katie Bailey vorfindet.

Die letzten drei Episoden von „Mare of Easttown” wirken dann ein wenig so, als hätten Brad Ingelsby und sein Regisseur Craig Zobel („The Leftovers“, „Westworld“) sich an den eskalierenden Verwicklungen von Neo-Noir-Sujets orientiert. Obwohl sich am Ende die Plot Twists überschlagen, folgt die zunächst etwas überkonstruiert wirkenden Storyline aber konsequent ihrer eigenen Logik. Mare ermittelt trotz ihrer Suspendierung weiter und findet heraus, dass einiges darauf hindeutet, dass das Verschwinden der jungen Mädchen nichts mit der Ermordung Erins zu tun hat. Für sie und Colin Zabel hat dies blutige und tödliche Konsequenzen. 

Aber die HBO-Serie bleibt sich treu und verortet den Mord an Erin in der sozialen Melange in Mares Heimatstadt, in der am Ende Mörder 1 keiner ist, sondern ein Lügner, der Mörder 2 nur decken will. Aber auch der ist nicht der Täter, vielmehr will er die Tat auf seine Kappe nehmen, um die Tat des wahren Mörders zu vertuschen. Und dies führt Mare, die mittlerweile wieder in den Polizeidient aufgenommen wurde, mitten in die familiären Netzwerke von Easttown - und zu der Erkenntnis, dass sie für die Auflösung des Falls das Leben der Personen zerstören muss, die ihr immer solidarisch zur Seite standen. Die finale Wendung am Ende ist schließlich mehr ein Produkt des Zufalls als professionelle Ermittlungsarbeit, aber sie dürfte auch den hartgesottensten Krimiexperten restlos verblüffen. Und die Erkenntnis, dass alle in die Ermordung von Erin McMenamin verwickelten Personen nur ihre Familie retten wollten, passt in die Sozialstruktur einer provinziellen Kleinstadt, in der alle um jeden Preis die Normalität festhalten wollen, die ihnen bereits entglitten ist.


Noch verblüffender als die Who Done It-Frage und ihre Auflösung ist dann die letzte Folge der Serie, die „Sacrament“ heißt. Sie wird die Gemüter spalten: Kitsch oder Geniestreich? Wenn der christliche Ritus des Sakraments eine unsichtbare Wirklichkeit für den Einzelnen konkret und sinnlich sichtbar machen will, dann ist damit im christlichen Kontext die Gnade Gottes gemeint. „Mare of Easttown” bietet am Ende ebenfalls einen Gnadenakt an - ein spirituell-religiöses Angebot, das die Glaubwürdigkeit der Geschichte aufs Spiel setzt, aber ungemein tröstend ist, weil sie auch für die Hauptfigur Erlösung bringt. Danach steigt Mare dann in der letzten Einstellung nach langen Jahren zum ersten Mal wieder auf den Dachboden, auf dem sich ihr Sohn erhängt hat.


Noten: BigDoc = 1


Mare of Easttown – HBO 2021 (Streaminganbieter: SKY) – Showrunner: Brad Ingelsby – Regisseur: Craig Zobel – Miniserie, 7 Episoden – D.: Kate Winslet, Guy Pearce, Evan Peters, Julianne Nicholson, Jean Smart, Angourie Rice, David Denman, John Douglas Thompson, Sosie Bacon, James McArdle u.a.