Mittwoch, 9. Februar 2022

Reacher – Staffel 1

Die Gemüter werden sich nicht streiten. Es sieht ganz danach auch, als würden Kritiker und Fans sich einig sein: Alan Ritchson ist der bessere Jack Reacher. Auf jeden Fall ist er anders als Tom Cruise, der den Ex-Militärpolizisten mit deutlich geringerem Gewaltanteil spielte.
Die achtteilige Serie von Amazon Prime Video nach dem ersten Roman von Erfolgsautor Lee Child ist alles andere als jugendfrei - der hünenhafte Held tötet im Auftrag der Gerechtigkeit. In der Regel sehr brutal. Und wären die Nebenfiguren der Serie uninteressant, wäre
Reacher“ lediglich eine formelhafte Gewaltorgie. Sind sie aber nicht und somit hat der neue Jack Reacher einen ausreichenden Unterhaltungswert.

Ein Riese mit pragmatischer Moral

Die Figur des Ex-Soldaten Jack Reacher, der als Hobo ohne Gepäck und lediglich mit einer Reisezahnbürste ausgestattet zu Fuß die Vereinigten Staaten durchwandert, hat offenbar eine große Fangemeinde. 26 Jack Reacher-Romane hat James Dover Grant aka Lee Child über diese brachiale Figur geschrieben, die Tom Cruise zweimal auf der Kinoleinwand verkörperte. Nun also die Serie, von der sich die Fans mehr Authentizität erhofften. Das scheint gelungen zu sein, denn in den USA erhielt die bei Amazon Prime Video an den Start gegangene Serie eine positive Zuschauerquote von 95%. Die Kritiker lagen nur knapp darunter.

Auch in Deutschland reagierten viele Rezensenten enthusiastisch. Auch weil der von Alan Ritchson gespielte Ex-Militärpolizist endlich so aussieht, wie ihn Child in seinen Romanen beschrieb: als über 1,90 großen Hünen, perfekt durchtrainiert und beinahe unbesiegbar. Eine Kampfmaschine, die für Gerechtigkeit sorgt und dabei eine pragmatische Moral praktiziert, die für seine Gegner meist tödlich endet.
Showrunner Nick Santora („The Sopranos“, „Prison Break”) ist im Seriengeschäft ein alter Hase, der genau weiß, wie man dem Affen Zucker gibt. Die erste Staffel basiert auf Childs 1997 erschienenen ersten Roman „Killing Floor (dts. Größenwahn) und führt die Hauptfigur mitten in die fiesen Machenschaften des organisierten Verbrechens. Reacher landet in Georgia im verschlafenen Provinznest Margrave, wo man ihn sofort in Haft nimmt. Ein Mann wurde umgebracht, Reacher wurde auf einer nahegelegenen Straße gesehen – das reicht. Ausgerechnet in dem Moment schnappen die Handschellen zu, als Reacher in einem Diner den angeblich besten Pfirsichkuchen der Welt probieren will. Den Kuchen wird er in den acht Episoden mehrfach verpassen – es ist ein Running Gag.

Ein paar werden gerettet, die anderen werden getötet

Persönlich wird die Angelegenheit, als weitere Morde geschehen und sich herausstellt, dass der zweite Tote ausgerechnet Reachers Bruder Joe ist. Joe hatte im Auftrag des Secret Service investigativ in Margrave geschnüffelt und zu viel herausgefunden. Nun ist Reacher endgültig wütend. Er will den oder die Täter finden, aber nicht der Strafverfolgung zuführen. Er wird sie und alle, die damit zu tun haben, töten, kündigt er an, ohne die Miene zu verziehen.

Für Alan Ritchson war es sicher eine Herausforderung, in die Fußstapfen von Tom Cruise zu treten. Der interpretierte die Rolle agiler und war auch sonst nicht auf den Mund gefallen. Ritchsons „Reacher“ ist dagegen ein wortkarger, beinahe phlegmatischer Mann, der mit kurzen Schritten geht, so als würde seine Hose zu eng sein. Wenn Reacher den Mund aufmacht, dann zeigt sich, dass er permanent seine Umgebung analysiert hat und verblüffende Kausalketten à la Sherlock Holmes aus dem Zylinder ziehen kann. Und wenn man genau hinschaut – man muss schon der Lupe danach suchen – erkennt man ein äußerst dezentes Lächeln, das freundlich aussieht. Das bedeutet nichts, denn Reacher lächelt auch die an, die er im nächsten Moment umbringen wird. Mit unauffälligen, aber wirkungsvollen Nuancen schafft Alan Ritchson so einen Gegenentwurf zu Tom Cruise. Und das ziemlich gut.

Was macht man mit einer Hauptfigur, die ihre Gefühle nicht zeigt und erst recht nicht über sie spricht? Reacher ist so cool wie ein Vulkanier und nicht weniger rational als Mr. Spock. In so einem Fall zeigt man in Flashbacks, wie die beiden Brüder Jack (Nachwuchstalent Maxwell Jenkins, „Lost in Space“) und Joe sich als Jugendliche entwickelten. Joe ist der derjenige, der die Welt retten will, und Jack ist der physisch Starke, der schon einmal eine Bande von Rowdies verprügelt, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Auf dem Sterbebett wiederholt ihre Mutter noch einmal, was die beiden zu tun haben: es reicht, wenn Joe einige retten kann, und Jack solle seine ungeheure Stärke nutzen, um das Richtige zu tun.

Ohne gute Nebendarsteller würde die Serie nicht funktionieren

Das Ganze könnte schnell langweilig werden, wenn man die Hauptfigur nicht empathisch wahrnehmen könnte und dazu noch der Plot langweilig wäre. Ersteres ist nicht einfach, Letzteres ist beinahe der Fall. „Reacher“ funktioniert wie ein routinierter Neo-Western mit einem Schuss Film Noir. In Margrave sind fast alle korrupt und stehen unter der Fuchtel des Industriellen Kliner (Currie Graham), der sich gerne mit seiner sozialen Verantwortung brüstet. Tatsächlich ist der bigotte Herrscher über Margrave der Boss einer gigantischen Falschgeldproduktion, die ein venezolanisches Kartell mit perfekt aussehenden 100-Dollar-Noten versorgt.
Trauen kann man daher in Margrave keinem, erst recht nicht, als der Polizeichef an die Wand genagelt wird, nach er seine Hoden aufgegessen hatte. Prompt ernennt sich Grover Teale, der Bürgermeister von Margrave (Bruce McGill, „The Insider“, 1999), zum Polizeichef, weil er auf diese Weise die letzten Cops ausschalten kann, die nicht verkommen und verdorben sind. Und schließlich tauchen auch noch Killer des Kartells auf, die alle, die zu viel wissen, grausam foltern und dann beseitigen.

Es ist wie in einem Western aus den 1950er Jahren. Ein böser Viehbaron beherrscht und terrorisiert eine Stadt. Recht und Ordnung sind machtlos, bis ein Lonesome Cowboy in die Stadt reitet und meistens von James Stewart gespielt wird. Aber in solchen Western gab Nebenfiguren, die die Story auflockerten. In „Reacher“ sind Oscar Finlay (Malcolm Goodwin, „iZombie“ 2015-2019) und Roscoe Conklin (Willa Fitzgerald, bekannt aus der MTV-Slasher-Serie „Scream“ sowie der Hauptrolle in „Little Women“) dafür zuständig.
Der farbige Finlay wurde vom Margrave Police Department als Chief Detective angeheuert, um die lokale Polizei zu unterstützen. Der Harvard-Absolvent wirkt in den Südstaaten wie ein Fremdkörper und kämpft buchstäblich in jeder Minute um seine Autorität. Reacher und Finlay geraten natürlich aneinander und sind sich herzlich abgeneigt, bis der scharfsinnige Finlay merkt, dass Reacher schneller im Kopf ist. Und so zanken sich beide durch die Staffel, vielleicht auch, weil sie wissen, dass sie beste Freunde sind.
Roscoe Conklin ist dagegen die extrem waffentaugliche Frau, die als Officer des MPD ihren Gerechtigkeitssinn nicht verloren hat, und Reacher und Finlay zur Seite steht, selbst als die Killer des Kartells auf das loyale Trio angesetzt werden.

Sado Noir – der Kern der Serie

Ein Superheld, etwas Comic Relief und toughe Frauen – Nick Santoras „Reacher“ spult als Genremix spult routiniert ab, was gerade en Vogue ist, und auch das, was der Markenkern der neuen Serie ist. Und das ist die Gewalt. Und die geht nicht nur von den venezolanischen Killerkommandos aus, sondern auch sehr explizit von Jack Reacher.
Der muss sich in jeder Episode prügeln oder anderweitig seine Brutalität unter Beweis stellen, etwa wenn er einem Gegner ein Auge ausdrückt oder den gerade von ihm umgebrachten Killern die Beine bricht, um die Leichen besser im Kofferraum verstauen zu können. Alles funktioniert gemäß den Schwarz-Weiß-Konstellationen einer Geschichte, in der die Guten sehr gut, aber notwendigerweise grausam, und die Bösen sehr böse sind und daher nichts Besseres verdienen als den Tod. Und dazu gehören ganz sicher auch KJ
(Chris Webster), der psychopathische Sohn Kliners und Kliners gewalttätiger und niederträchtige Neffe.
Auf expliziten Sado Noir verzichtet die Serie also nicht, und auch nicht, als Reachers omnipotente Ex-Kollegin Frances Neagley (Maria Stan) auftaucht und beim finalen Massaker kräftig austeilt. So muss
man sich schon fragen, welche Zielgruppe Showrunner Nick Santora eigentlich adressiert. Ein gutes Gefühl hat man bei der Suche nach einer Antwort nicht.

Das eigentliche Kunststück der Serie ist es, die Geschichte eines übermächtigen Helden zu erzählen, der es nur einmal mit einem fast ebenbürtigen Gegner zu tun bekommt und ansonsten mühelos alles umbringt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Abseits der Gewaltorgien sind es nur die schlagfertigen Dialoge zwischen Reacher, Finlay und Roscoe
(mit der Reacher sogar eine Affäre hat), die einen ordentlichen Unterhaltungswert besitzen. Der Rest ist für all jene geeignet, die ihre gewaltaffinen Allmachtsfantasien ungestört ausleben wollen. Für eine zweite Staffel reicht dies nicht. Da aber die Kundschaft kalkulierbar ist, wird die Geschichte weitererzählt werden. Genug Romane von Lee Child gibt es ja.

Note: BigDoc = 3


Reacher – Network: Amazon Prime Video (4K UHD) – Showrunner: Nick Santora – 8 Episoden – D.: Alan Ritchson, Malcolm Goodwin, Willa Fitzgerald, Chris Webster