Dienstag, 10. Mai 2022

Picard – Staffel 2 ist witzig und postmodern

Ist Seven of Nine doch lesbisch? Warum werden Picard und Q beste Freunde? Ist Wesley Crusher das zweitmächtigste Wesen im ganzen Universum? Und warum verwandeln sich die Borg in eine empathische Spezies, die sogar in die Föderation aufgenommen wird?
Wer diese Fragen an sich bereits für völlig absurd hält, muss sich in der zweiten Staffel von „Picard“ auf einiges gefasst machen. Nicht allen gefällt dies und in den deutschen Foren machte sich Entsetzen breit. Viele „Star Trek“-Fans wollen „Picard“ ohnehin nicht sehen. Der Verfasser dieser Rezension, der auf die erste Staffel mit einem milden Verriss reagierte, fühlte sich dagegen erst überrumpelt, dann amüsiert, schließlich gefesselt und am Ende schlichtweg brillant unterhalten. Einziger Einwand: die Zeitreisen mit ihren unauflösbaren Paradoxien sind Quark. Wieder einmal.

Picard ist ein Android – aber das spielt keine Rolle mehr

Ist die zweite Staffel von „Picard“ besser als die erste? Auf jeden Fall anders und garantiert wilder, wüster und chaotischer. Das Interesse der Showrunner, sich an die Geschehnisse der ersten Staffel zu halten, war dagegen erkennbar gering. Dort starb Jean-Luc Picard und wurde mitsamt seines Gedächtnisspeichers in einen Androiden verpflanzt. Picard wurde quasi zum neuen Data, allerdings behielt er seine Emotionen. Damit war auch endgültig das Problem aus All Good Things“ gelöst, der finalen Doppelfolge von TNG. Dort leidet Picard am iromodischen Syndrom, das unheilbar ist.
Und was blieb ansonsten von der 1. Stafel übrig? Nichts. Dabei hatten die Produzenten Michael Chabon (als Romanschriftsteller mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet) und Akiva Goldsman die erste Staffel als Lernprozess bezeichnet und angekündigt: "Was auch immer die Auswirkungen auf Picard sein werden, der diesen neuen Körper und im Wesentlichen auch eine neue Gehirnstruktur hat - obwohl sein Geist und sein Bewusstsein gleich sind - all dies wird Teil des Weges des Charakters für seine Zukunft sein."
Genau dies aber geschah nicht. Nur in einem Nebensatz wurde Picards neue Existenzform erwähnt, ansonsten wird die Geschichte in Season 2 so erzählt, als wäre seine Umwandlung nie geschehen. Und auch in der Föderation ist alles wieder gut, nachdem die erste Staffel sie mitsamt Starfleet keineswegs von ihrer besten Seite zeigte – eigentlich war es eine ziemlich hässliche.

Im Prinzip wurde von den Showrunnern Akiva Goldsman und Terry Matalas, der in der dritten Staffel alleiniger Showrunner sein wird, also ein kompletter Reset vorgenommen. Zur Stammcrew der zweiten Staffel gehören nach wie vor Cristobal Rios (Santiago Cabrera), der nun Sternenflotten-Captain auf der Stargazer ist. Auch dabei ist die Expertin für synthetische Lebensformen Dr. Agnes Jurati (Alison Pill). Picards enge Freundin Raffi Musiker (Michelle Hurd) dient als Commander und Seven of Nine (Jeri Ryan) schippert mit Rios‘ altem Schiff durchs All. Der romulanische Kampfexperte Elnor (Evan Evagora) wurde dagegen aus unerfindlichen Gründen nach wenigen Folgen aus dem Skript geschrieben und taucht erst in der finalen Episode wieder auf.

Gleich in der ersten Episode kracht es im Cold Open, als auf der Stargazer ein Eindringling bekämpft wird. Die Phaser blitzen auf, aber es sieht nicht danach aus, als würde die Crew die geheimnisvolle Bedrohung in Schach halten können.
Harter Schnitt, Main Title und ein Flashback: Wie befinden uns auf dem Weingut des alten Captains - Picard und seine Angestellte Laris (Orla Brandy) feiern die erfolgreiche Weinlese. Doch die entspannte Stimmung schlägt um, als Laris die unbequeme Frage stellt, warum Picard zeitlebens allein geblieben ist. Danach macht sie dem Mitneunziger unmissverständlich einen Antrag.
„Wenn es um mein Begehren geht, musste es immer hintenanstehen. Nennen sie es Pflicht“, erwidert Picard. Man kommt sich nicht näher, das Verhältnis scheint danach zerrüttet zu sein und auch ein Besuch bei Guinan (Whoopi Goldberg) bietet keine Lösung. Aber Picards alte Freundin weist unverblümt darauf hin, dass Picard in früheren Jahren nur dann Beziehungen einging, wenn die Umstände es garantierten, dass alles zeitlich befristet bleibt. Leider ist den Autoren nicht eingefallen, dass Jean-Luc Picard in einer der vielen Zeitebenen in „All Good Things“ mit Beverly Crusher verheiratet war – es sei denn, dass diese Zeitlinie nicht real und lediglich eine von Q’s Simulationen war.

Ist der alte beziehungsunfähige Mann plötzlich ein Fall für die Couch des Psychoanalytikers geworden? Genau das ist das Thema der neuen Staffel, die tief in die Psyche ihrer Hauptfigur eindringt und sehr viel mit dem zu tun hat, was in TNG immer nur an den Handlungsrändern dezent auftauchte: Was hat Picard zu dem Mann gemacht, der er ist?
Und so sieht man in der ersten Episode noch ein paar ziemlich hektische Flashbacks, die eine sehr dunkle und gewaltreiche Kindheitsgeschichte andeuten, in der Picards Mutter eine Schlüsselrolle gespielt hat.
Diese Backstory wird in den folgenden Episoden Stück für Stück entschlüsselt. Enthüllt wird am Ende eine traumatische Erfahrung, die bei dem jungen Picard zu einem Schuldkomplex geführt hat: er fühlt sich verantwortlich für den Selbstmord seiner noch sehr jungen Mutter, und dies wiederum bestimmte seine spätere emotionale Zurückhaltung und auch seine Beziehungsunfähigkeit. Pech für die Autoren ist, dass Jean-Luc Picard seiner Mutter als sehr alten Frau in der ersten Episode von „The Next Generation“ begegnet – und dort ist sie quicklebendig.

Die Reise in die Vergangenheit

Der psychologische Teil dieses Narrativs ist trotz dieser Macken raffiniert gestrickt und der Plot (erst recht, wenn man sich alle Episoden zum zweiten Mal anschaut) setzte das Thema dann auch überwiegend konsequent um. Ein Charakterdrama, bei dem Patrick alle Register seines schauspielerischen Könnens zeigen konnte. Es geht um eine „Reise in die Vergangenheit“ - und zwar auf zweifache Weise. Zum einen steht das Kindheitstrauma wie ein Menetekel an der Wand, zum anderen gibt es wieder einmal eine jener Zeitreisen, wie sie (leider) viel zu oft in Star Trek mitsamt der unvermeidlichen Logikbrüche erzählt werden. Diesmal hat das Time Travel-Motiv tatsächlich mehr mit dem Kanon zu tun, als man auf den ersten Blick glauben mag. Es schließt nämlich einen Themenzyklus ab, der bereits in der ersten Folge von TNG etabliert wurde.

Dazu muss man von Anfang an aber genau hinschauen. Was passiert? Picard wird von Starfleet aufgefordert, bei der Untersuchung einer gefährlichen Anomalie persönlich vor Ort zu sein (Ep 1 „The Stargazer“). Dort wird die Besatzung der Stargazer plötzlich mit den Borg und ihrer Königin konfrontiert. Das Borg-Schiff hatte zuvor den Hilferuf „Picard, help us“ abgesetzt und will nun sogar in die Föderation eintreten. Als die Borg-Queen sich auf die Stargazer beamt und versucht, die Kontrolle über das Schiff und die anderen Schiffe der Starfleet-Flotte zu erlangen, siegt aber die alte Feindschaft über den Verstand. Picard befiehlt die Selbstzerstörung der Stargazer, doch im Moment der Explosion wird er in die Vergangenheit katapultiert, allerdings in eine alternative Zeitlinie.
Verantwortlich ist wieder einmal Q (John de Lancie spielt seine alte Rolle mit sichtlichem Vergnügen). In dem von Q geschaffenen alternativen Universum gibt es keine Föderation, sondern eine faschistische und xenophobe „Confederation of Earth“, die fast alle Spezies in der Galaxis unterworfen, ausgelöscht oder versklavt hat. Und ausgerechnet Picard ist in dieser dystopischen Gesellschaft der grausamste Vollstrecker.
Offenbar will Q endgültig den Prozess beenden, der in „Encounter at Farpoint” Part I und II (1.1 und 1.2. „Der Mächtige“, „Mission Farpoint“) begann und nach einigen Intermezzi in „All Good Things“ (7.25 und 7.26 „Gestern, Heute, Morgen“) auf den Punkt gebracht wurde. Nun ist Q wieder das und er fordert von Picard erneut Buße. Dem alten Mann wird klar, dass er die fatale Fehlentwicklung der menschlichen Spezies um jeden Preis korrigieren muss, um den Eingriff in die Zeitlinie zu neutralisieren. Dass er erneut von Q für den Untergang der menschlichen Spezies verantwortlich gemacht wird, sollte ihn nach den Ereignissen in „All Good Things“ allerdings nicht überraschen.

Harte, schnelle Action, halluzinatorische Erinnerungen, Flashbacks und eine non-lineare Erzählung: Der Zuschauer wird in der ersten Episode extrem temporeich überrollt. Klassische TNG-Folgen begannen früher beinahe bräsig mit einer Totale der „Enterprise“, während im Off das neue Abenteuer angekündigt wird. So kann heute natürlich nicht mehr erzählen, wenn man im Geschäft bleiben will. Aber wenn man aufmerksam hinsieht, ist die Struktur des Plots keineswegs sinnfrei, denn Q hatte Picard bereits in „Tapestry” (6.15 „Willkommen im Leben nach dem Tode“) in eine alternative Zeitlinie versetzt. Die Lektion: es waren gerade Picards Unzulänglichkeiten und Fehlentscheidungen als junger Offizier, ohne die er nicht das geworden wäre, was er ist. In „Tapestry” erhielt Picard die Chance, seine Fehler zu korrigieren. Das Ergebnis war ein banales und perspektivloses Leben.

Mehr Kanon geht nicht, denn erneut muss Picard Entscheidungen treffen, die weniger mit der Rettung der Menschheit, sondern mehr mit seiner seelischen Verfasstheit zu tun haben. Das hatte sich nach
„Tapestry” auch in „All Good Things“ angedeutet, wo Q den in Farpoint begonnenen Prozess fortsetzte und Picard vorwarf, dass die Menschen zwar das All erforschen, sich aber nicht weiterentwickelt hätten. Mit anderen Worten: Q hat wieder einmal einen verzwickten Plan und er wird am Ende sein Ziel erreichen, obwohl er Picard bei der Rettung der Menschheit immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft.

Picard und später auch seine Crewmitglieder finden sich nun ziemlich unvermittelt in den Körpern ihrer grausamen Alter Egos wieder. Seven of Nine ist die Präsidentin der Confederation und Rios kämpft gegen den vulkanischen Widerstand. Während einer großen Feier soll die öffentliche Hinrichtung der letzten Borg-Königin stattfinden (Ep 2 „Penance“) und Picard soll die passende Festrede halten. In Ep 3 „Assimilation“ gelingt es Picard aber, sich in der fremden Welt irgendwie durchzumogeln, seine Crew zusammenzuführen und die Borg-Queen (Annie Wersching) zu befreien. Denn die wird plötzlich gebraucht: sie scheint zu wissen, dass die offenbar völlig aus dem Ruder gelaufene Zeitlinie nur durch einen weiteren Zeitsprung in das Los Angeles des Jahres 2024 zu korrigieren ist. Es gelingt ihr, ein Wurmloch zu erzeugen, durch das Picard und sein Team nach einigen gewalttätigen Scharmützeln entkommen können.

Fast schon durchgeknallt: die heitere Ekstase im Writer's Room

So interessant das Schlüsselthema der neuen Staffel auch ist, der Rest der Geschichte wirkt so, als hätten die Schreiber im Writer’s Room bei jedem Meeting eine Handvoll verbotener Pillen eingeworfen, um sich in einen Zustand heiterer Ekstase zu versetzen.
So wirkt der Rest der Staffel, als hätten die Autoren permanent nach einer Antwort auf Frage „Was können wir noch reinschreiben?“ gesucht.
 Guinan? Klar, wir zeigen, wie die junge Guinan (Ito Aghayere) im Jahr 2024 in ihrer Bar in Los Angeles, wo sie ziemlich depressiv ist und Picard kein Wort über frühere und spätere Begegnungen glaubt, dann aber à la Harry Potter mit einem alten Flaschenzauber
Q heraufbeschwören will. Geht aber in die Hose. 

Und Brent Spiner? O.K., den lassen wir den Mad Scientist Adam Soong spielen, also einen Vorfahren des Schöpfers von Data. Soong hat seine schwerkranke Tochter (Isa Briones spielt sowohl Kore Soong als auch Soji Asha aus Staffel 1) im Laufe vieler Jahre durch eine Serie von Androiden ersetzt, die aber bis auf das letzte Exemplar ein Fehlschlag waren und die – nun ja – beseitigt werden mussten, um für das Nachfolgemodell Platz zu machen. Nun soll Soong im Auftrag von Q Picard umbringen, um die Korrektur der Zeitlinie zu verhindern. Dafür erhält er von Q ein Wundermittel, das Kore am Leben erhalten soll.
Und schließlich dreht sich alles um Picards Vorfahrin Renée Picard (Penelope Mitchell), die als Astronautin der „Mission Europa“ zum Jupitermond fliegen soll, aber ebenfalls so depressiv ist, dass sie an ihren Fähigkeiten zweifelt. Dort soll sie, so erfährt man, etwas entdecken, was den ökologischen Kollaps der Erde verhindern kann. Auch diese Mission will Q verhindern, aber warum, bleibt ein Rätsel.

Was ist mir Easter Eggs? Okay, dachte man vermutlich im Writer‘s Room, wir zeigen noch einmal die Szene mit dem Punk und seinem Gettoblaster aus „Star Trek: The Voyage Home.“ Das wird den Altfans gefallen. 

Was ist mit Wesley Crusher? Klar, der sollte auch dabei sein. Gesagt, getan. Tatsächlich taucht Will Wheaton wie aus dem Nichts in der finalen Episode auf und ist als Nachfolger des Travelers (s. a Season 1, Episode 6: „Where no One Has Gone Before“) womöglich das zweitmächtigste Wesen des Universums und soll eigentlich auf den korrekten Verlauf der Zeit aufpassen. Passt ansatzweise in den Kanon, aber als schräger Gag nicht wirklich nicht in Geschichte.
Dass Q, der große Manipulator, offenbar krank ist, zeitweilig seine Superkräfte verliert und sterben wird (was immer das im Q-Kontinuum bedeuten mag), wird nicht großartig erklärt, aber derartige Schwächephasen des omnipotenten Wesens gab es ja schon früher (TNG 3.13 „Déjà Q“, dts. „Noch einmal Q“).
Am witzigsten ist die Symbiose zwischen der Borg-Queen und Agnes Jurati. Die wird von der Queen assimiliert wird, verliert dabei ihre Persönlichkeit aber nicht. Aber fortan muss sie ihren Körper mit der Queen teilen und liegt permanent mit ihrer Mitbewohnerin im Clinch– und die gibt sich erstaunlich hedonistisch, wenn es um Spaß auf Partys geht oder um ein modisches Outfit. So hat man die Borg-Queen noch nie erlebt. Aber egal: Das Ringen um die Kontrolle von Juratis Geist und Körper ist die wohl bizarrste Persönlichkeitsspaltung, die man bislang im Star Trek-Serienuniversum zu sehen bekam. Auch die mit dem größten Spaßfaktor.

Und wenn am Ende die Zeitschleife endet und alle wieder auf der Stargazer kurz vor ihrer Selbstzerstörung landen, wird die Agnes Jurati mit ihrer neuen Version konfrontiert. Natürlich ohne dass es erkennen kann, denn der Jurati-Borg-Queen-Symbiont trägt wieder eine Borg-Uniform, aber mit metallener Maske. Natürlich darf man in dieser Szene auf keinen Fall den Gedanken weiterverfolgen, dass sich
in der ersten Episode vor den Sprüngen durch die Zeit die Wirkung vor der Ursache ereignete. Zeitreisen-Paradoxon? Geschenkt. Durchschaut hat diese lediglich Cristobal Rios: Wenn ich Zeitreisen höre, wird mir nur schlechter. In jeder Hinsicht!"
Im Finale wird die Selbstzerstörung abgeblasen wird und die Kausalität ist scheinbar wieder intakt. Und so werden die Borg ein neues Mitglied der Föderation und retten in den letzten zehn Minuten des Staffelfinales en passant die Galaxis vor ihrer Zerstörung durch eine Raumanomalie. Ach ja, die gab es ja bereits in „All Good Things“, aber diesmal wirkt die technische Umsetzung der Rettungsaktion lächerlich. Eine Anomalie, die in kürzester Zeit einen Quadranten mit einem Durchmesser von 25.000 Lichtjahren verschluckt (wir erinnern uns gerne daran, wie lange die Voyager trotz Warp brauchte, um aus einem weit entfernten Quadranten heimzukehren), mit den Schutzschilden einiger Starfleet-Schiffe aufhalten zu wollen, ist in etwa so effektiv, wie wenn man Schutz vor einer Atombombe durch das Aufspannen eines Regenschirms sucht.

Und last but not least werden der sterbenskranke Q und Picard beste Freunde. Picard hat sein Trauma bewältigt, weiß nun, dass Q immer nur wollte, dass Picard zu lieben lernt und nicht einsam zu den Sternen reisen sollte. Dafür bekommt der greise Captain sogar ein romantisches Tête-à-tête mit Laris spendiert (Himmel, der Mann ist Mitte 90 – allerdings mit der Physis eines Androiden, das lässt einiges erhoffen) und Seven of Nine und Raffi dürfen sich küssen. Dass Christobal Rios bei seiner neuen Liebe bleiben will und sich nicht zusammen mit seinen Freunden per Fingerschnips zurück in die Zukunft befördern lässt, mindert angesichts des in zwei Jahren ausbrechenden Dritten Weltkriegs allerdings seine Überlebenschancen. Wäre da nicht Guinan, die in der Zukunft davon berichtet, dass Rios nicht zu den Opfern gehörte.

Zugegeben: das hört sich alles ziemlich durchgeknallt an.
Ist es auch. Als Zuschauer verliert beim ersten Durchlauf nicht nur einmal den Faden und irgendwann hört man auch damit auf, in dem Ganzen eine inhärente Logik zu entdecken - abgesehen vom Entstehen einer wunderbaren Männerfreundschaft. Aber dafür wird die gelegentlich aus dem Ruder laufende neue Staffel von „Picard“ schlagfertig erzählt, einige Plotideen sind witzig und auf feine Weise ironisch und bei einigen Dialogen oder Onelinern kommt man aus dem Lachen nicht mehr heraus. Zudem spielt das Ensemble um Patrick Stewart groß auf, ohne aus einer im Kern dramatischen Geschichte eine Farce zu machen.
 
Eine Komödie ist die neue Staffel trotz einer gelegentlich arg verkrampften Heiterkeit aber nicht geworden. Im Gegenteil, der tragische Teil des Charakterdramas um die Titelfigur ist ziemlich brutal und beängstigend, aber im Kern wird zumindest teilweise eine ordentliche und letztlich auch stilistisch zeitgemäße TNG-Geschichte erzählt. Die kommt allerdings mit postmoderner Nonchalance daher.
Wer genau hinschaut, erkennt dies auch Spiel mit den Identitäten. Picard steckt im Körper eines Androiden, Q wechselt in der ersten Episode sein Aussehen wie ein Gestaltwandler, Agnes Jurati verschmilzt mit der Borg-Queen, Rios wird durch zahlreiche Hologramme gespiegelt, Elron kehrt ebenfalls als Hologramm zurück, Seven of Nine war Teil des Kollektivs und nur Raffi Musiker ist ein Mensch.

Ist das noch „Star Trek“? Irgendwie schon, wenn man sich einige Logiklöcher nicht zu Herzen nimmt und Spaß daran hat, dass Picard seinen Frieden mit sich macht und ansonsten die schlagfertigen Dialoge goutiert. Irgendwie ist das aber kein
„Star Trek“, weil man fast nie das Gefühl hat, dass die Macher respektvoll mit dem Sujet umgehen. Man hat schon den Eindruck, dass die von mir vermutete bekiffte Stimmung im Writer’s Room dafür gesorgt hat, dass einige der erwähnten Schlampigkeiten nur mithilfe eines habilitierten Star Trek-Historikers hätten vermieden werden können. Und auf den hat man leider verzichtet.
Logiklöcher gab es schon in den klassischen Serien, nur existierten damals keine sozialen Medien, in denen man sich aufregen konnte. In der nächsten Staffel, die back-to-back (also gleichzeitig) gedreht wurde, soll ja die alte TNG-Crew wieder an Bord sein und mit ihrem Captain unbekannte Welten erkunden. Man darf gespannt sein, wie Data wieder in die Serie hineingeschrieben wird. Irgendwie wird das schon klappen. Zur Not mit einer Zeitreise…Und vielleicht wird der nächste Franchies-Ableger „Star Trek: Strange New Worlds“ die Gemüter etwas beruhigen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Wer hält sich eigentlich noch an den Kanon?

Die Frage wird mittlerweile am häufigsten von den selbsternannten Gralshütern in den einschlägigen Foren gestellt, um sofort beantwortet zu werden: nicht für die Fans, sondern auch für die meisten Rezensenten im deutschsprachigen Raum ist die zweite Staffel von „Picard“ ist eine Katastrophe, Charaktere werden demoliert, mit dem Kanon habe dies alles nichts zu tun.
Es reicht mir. Was hier mit Star Trek veranstaltet wird, ist unwürdig. Insbesondere deshalb, weil die Schauspieler gut sind und man echt was draus hätte machen können. Was hier mit Star Trek veranstaltet wird, ist unwürdig. Insbesondere deshalb, weil die Schauspieler gut sind und man echt was draus hätte machen können", schrieb Jonas Walkenbach in seiner Rezension.
Und da im Hintergrund der bei eingefleischten Fans nicht sonderlich beliebte Alex Kurtzman die Star Trek-Strippen bei ViacomCBS und damit auch bei Paramount Global zieht, hält sich auch bei anderen Fans die Begeisterung in Grenzen. Kurtzman ist für viele ein Synonym für grelles Storytelling. Unlängst wurde sein Vertrag um fünf Jahre verlängert...

Ich bezweifele zwar nicht, dass die wütenden Kritiker sich mit der komplizierten Entwicklung des „Canons“ beschäftigt haben. Aber die Sache ist nicht ganz einfach. Paramount hat sich von Anfang an um eine klare Definition der Inhalte bemüht und damit vor allen Dingen die Lizenznehmer für die Computerspiele, Romane und sonstigen Medienprodukte adressiert. Crossmedia ist aber ein steiniger Weg.
Der letzte Versuch, eine verbindliche Regelung zu treffen, war das 1989 erschienene „Star Trek: The Next Generation First Year Sourcebook“, das auf den Inhalten der 1. Staffel von TNG basierte. Danach lag es danach in den Händen der Macher, ob man sich an Regeln orientieren wollte. 

J.J. Abrams Erfindung der alternativen Kelvin-Zeitlinie suggerierte, dass man in dem komplexen Erzähluniversum nur neue Geschichten erzählen kann, wenn man alternative Universen schafft, sich in Spiegel-Universen begibt oder gleich einige Jahrhunderte in die Zukunft springt (Star Trek: Discovery), um den Kanon zu entgehen.
Die zweite Staffel von „Picard“ geht den anderen Weg: sie katapultiert die Crew um den greisen Admiral Picard in die Vergangenheit, aber das konnte die Staffel nicht retten, wenn man sie kanonisch interpretiert. In der TNG hätte Jean-Lic Picard über die Folgen seiner Strategie nachgedacht. Immerhin wird die Geschichte nun restauriert, inklusive des Dritten Weltkriegs, der nun stattfinden wird. In der neuen Staffel wird dieses ethische Dilemma nicht einmal ansatzweise reflektiert. Aber selbst die Wiederherstellung der Zeitlinie ist ein Fake, da die Borg-Queen mit einem Raumschiff fliehen konnte und nun 400 Jahre Zeit hat, ein neues Imperium aufzubauen. So etwas kommt dabei raus, wenn man auf die Logik pfeift. So what, werden einige sagen.
Deshalb haben die Kritiker Recht, wenn sie darauf hinweisen, dass Gene Roddenberry und die kreativen Macher gründlich darüber nachdachten, was "Canon" ist was nicht. Dies wurde nicht völlig aufgegeben, aber aktuell zu oft als postmodernes Patchwork zusammengemixt. Etwas
wissen die Entscheider heute auf jeden Fall, nämlich dass das Franchise nur dann weiterhin Rendite abwerfen wird, wenn es mit modernem Design und kinoreifen Effekten die Kunden bindet, ohne die puristischen Trekkies völlig zu verprellen. Letzteres ist längst kein Muss mehr und aufgrund der Komplexität der Star Trek-Universums auch kaum möglich, bestenfalls schwierig.

Wer vor diesem Hintergrund eine Handlung erwartet, die old-fashioned ist, der sollte auf die zweite Season von „Picard“ verzichten. Er kann sie aber just for fun anschauen, ohne Erwartungen und Vorurteile. Dann wird sich  ein gewisses Star Trek-Feeling einstellen. Allen anderen ist zu raten, sich die alten Serien anzuschauen. Dies tut auch der Verfasser dieser Rezension immer wieder.

Postskriptum

Star Trek-Feeling: Welche Probleme dies erzeugt, zeigte „Star Trek: Discovery“ in der dritten Staffel mit einem gelungenen Mix aus vertikal und horizontal erzählter Handlung. Dadurch wurde die Geschichte moderat an die erfolgreichen Erzählformeln der klassischen Serien angepasst.
Allerdings ging das nur in der ersten Staffelhälfte gut. Die zweite Hälfte verlor etwas von diesem erzählerischen Schwung, weil die Protagonisten, die es in die Zukunft verschlagen hat, sich immer wieder in seicht-sentimentalen Dialogen versicherten, wie moralisch integer sie sind und dass der ethische Codex der alten United Federation of Planets das Handeln auch in einer neuen Zukunft prägen soll und muss. Man hatte dabei ständig das Gefühl, als wollten die für diesen Franchise-Ableger verantwortlichen Showrunner Alex Kurtzman und Michelle Paradise es allen beweisen, nämlich dass der Spirit von Gene Roddenberry und der Kanon in Ehren gehalten wird und die Trekkies wieder das erhalten, was sie bislang vermissten. Leider wurde dabei zu dick aufgetragen.

Vergessen sollte aber kein Trekkie, der jünger ist als 60 Jahre, dass weder in der Original Series (TOS) noch in TNG die Sternenflotten-Philosophie ein ständiges Gesprächsthema war. Philosophie und Moral – davon erzählten die Plots, aber nicht die Figuren. Gerade Patrick Stewart als rationaler und emotional beherrschter Captain tat dies selten, und wenn, dann geschah es, um einem Crewmitglied den Kopf zu waschen oder unsinnige Befehle eines überforderten Admirals zu kommentieren. Leider übertrieben es die Macher von „Star Trek: Discovery“ mit den frommen Bekenntnissen. Die Dialoge wurden in der zweiten Staffelhälfte nicht nur programmatisch, sondern auch langweilig. Folglich gibt es Abzüge in der B-Note. Aber näher am Kanon oder an Gene Roddenberrys Ideen war man in den ersten drei Staffeln von
„Star Trek: Discovery“ nicht dran. Das lässt hoffen.
Es scheint daher so, als würden die Macher mit „Star Trek: Discovery“ eher die konservativen Trekkies triggern, während „Picard“ zu einer postmodernen und lässig hingerotzten Serie für jene Zuschauer wird, denen der Kanon herzlich egal ist.
Das war mal anders. Wenn man sich das Bonusmaterial der TNG-Blurays anschaut, bekommt einen Einblick in die Herausforderungen, die der Staff bei der Staffelplanung zu bewältigen hatte. Deshalb mein Tipp: vielleicht wäre eine vertikal erzählte Star Trek-Serie eine echte Alternative. Begründet wurde der Mythos der Mythos von
„Star Trek“ durch exzellente Einzelepisoden, weniger durch die 08/15-Geschichten. Probieren kann man es ja mal...

Fan-Posts

Um zu zeigen, wie die Stimmung in den Foren aussieht, habe ich einige Zitate ausgewählt, die repräsentativ sind.

  • Als ich dann den ersten Picard Trailer sah, überkam mich ein Gefühl von Nostalgie in Gedenken an die alten TNG-Zeiten und ich war wieder dabei. Allerdings habe ich bald festgestellt, dass es sich anscheinend irgendein Spinner namens Alex Kurtzman zur leidenschaftlichen Aufgabe gemacht hat, Star Trek mit all seinen Werten, die es einst hatte nach Strich und Faden zu demontieren. Sei es das Dahinschlachten alter Bekannter, grottenschlechte und zusammenhangslose sowie unlogische Plots, überzogene und wahnwitzige Effekte, verballerte Charaktere, die mehr mit ihren Psychosen beschäftigt sind als mit dem was um sie herum passiert, vom Bedienen einer woken Medienkultur, bis hin zur Schleichwerbung für Tesla... Ich weiß nicht ob Patrick Stewart es im Laufe der Produktion in seinem tiefsten Inneren nicht doch irgendwo ein bisschen bereut hat, sich für sowas hergegeben zu haben oder ob er tatsächlich voll und ganz dahinter steht. Aber Fakt ist, dass diese Serie weder seiner, noch Star Trek - was es einmal war, würdig ist.
  • Der Restverstand wendet sich mit Grausen ab. Ich bin angewidert und habe echte Bedenken, dass ich das Kopfschütteln als Zwangsstörung für den Rest meines Lebens nicht mehr loswerde. Mitleid mit den Schauspielern wechselt sich mit Fremdscham und Abscheu für die Produzenten ab.
  • "Never meet your Idols" ist ein treffender Spruch. Bevor ich einen meiner Kindheitshelden namens Picard gegen ein Psychogramm von Patrick Stewart tausche und weiter die Gedankenexkremente eines Plastikproduzenten ertragen muss, beenden wir das Ganze lieber hier.
  • Ich gebe zu, der ersten Staffel, fehlte es teilweise an Dynamik. Die zweite Staffel ist aber viel besser. Ist insgesamt viel interessanter und dynamischer inszeniert. Dazu kommt noch Patrick Stewart, der hier wirklich ein gutes Schauspielensemble überragt. Auch Effekte sind wirklich großartig. Schade das die Serie nach der dritten Staffel zu Ende geht.

Dazu passt ganz gut der Kommentar von Reinhard Prahl (Quotenmeter), der im August 2020 daran erinnerte, dass sich eigentlich nicht viel geändert hat - alles Neue in Star Trek stieß schon immer auf Ablehnung: Nicht wenige Autoren beschworen nach dem Finale der ersten Staffel von «Picard» gar das Ende von «Star Trek» herauf und erklärten in Facebook- und Forumsbeiträgen, oder in Kolumnen das Franchise für tot – nicht zum ersten Mal übrigens. Ähnliche Formulierungen lassen sich bis in die 80er Jahre zurückverfolgen. Ein glatzköpfiger Franzose mit englischem Akzent wird Captain der neuen Enterprise? Eine Todsünde. Ein schwarzer Captain auf einer abgehalfterten Raumstation, die um einen bislang unbekannten Planeten kreist? Langweilig. Eine Frau als Captain eines Schiffs, das im Delta-Quadranten gestrandet ist? Verflucht sei die Political Correctness. Und zu guter Letzt: Ein Prequel zur Originalserie? Und das im Jahr 2001? Unmöglich realisierbar. Die Zeit strafte diese Endzeitstimmung bislang noch jedes Mal Lügen und wenn wir ehrlich sind, haben alle «Star Trek»-Serien ihre Stärken und Schwächen.

Note: BigDoc = 3


Picard (Season 2) – Executive Producer: u.a. Alex Kurtzman – Showrunner: Akiva Goldsman, Terry Matalas – Autoren: Akiva Goldsman, Terry Matalas, Michael Chabon, Juliana James, Jane Maggs, Travis Fickett, Cindy Appel, Kirsten Beyer, Matt Okumura, Chris Derrick, Christopher Monfette – Regie: Doug Aarniokoski (auch in Star Trek: Discovery), Lea Thompson, Jonathan Frakes, Joe Menendez, Michael Weaver - 20 Episoden – D.: Patrick Stewart, John de Lancie, Brent Spiner, Michelle Hurd, Alison Pill, Santiaho Cabrera, Jeri Ryan, Evan Evagora, Orla Brady, Isa Briones.