Donnerstag, 28. Dezember 2023

Killers of the Flower Moon

In Rente ist Martin Scorsese nicht: Mit „Killers of the Flower Moon“ hat die 81-jährige Regie-Ikone hoffentlich nicht seinen letzten Film gemacht, denn als Kommentator der amerikanischen Geschichte ist Scorsese mit seinen besten Filmen zum moralischen Gewissen der Vereinigten Staaten geworden.

Auch sein aktueller Film ist wohl ein Kandidat für den Oscar. „Killers of the Flower Moon“ erzählt von einem besonders düsteren Kapitel in der Geschichte der American Natives: der Ermordung unzähliger Indianer des Osage-Stammes Anfang des 20. Jahrhunderts. Mit Robert De Niro und Leonardo DiCaprio in den Schurkenrollen.

Episches Drama über die Gier

Bei den Academy Awards, also den Oscar-Verleihungen, stehen Christopher Nolans „Oppenheimer“ und Martins Scorseses „Killers of the Flower Moon“ im Ranking der Experten ganz oben auf der Kandidaten-Liste. Beide Filme sind sehr lang, erinnern aber weniger an die pathetischen Historiendramen der 1950er-Jahre, mit denen sich die großen Studios mit Filmen wie „Ben Hur“ die Konkurrenz durch das Fernsehen vom Leibe halten wollten, sondern eher an die epischen Filme, deren Geschichten im 19. und 20. Jh. angesiedelt sind. Zu ihnen gehört auch Martin Scorseses „Gangs of New York“ als Erinnerung an die düsteren Gangkriege in den New Yorker Slums von Five Point. Scorseses Film wurde neun Mal für einen Oscar nominiert, erhielt aber keine einzige Auszeichnung.
„Killers of the Flower Moon“ ist der ehrgeizige Versuch des Regisseurs, ein weiteres übles Kapitel der amerikanischen Geschichte aufzuarbeiten: die Morde an den Osage-Indianern in der 1920er-Jahren. Der Film basiert auf dem Sachbuch „Killers of the Flower Moon: The Osage Murders and the Birth of the FBI“ (2017) von David Grann.

Scorsese und ein Co-Autor Eric Roth erzählen eine brutale Geschichte von Gier und Mordlust. Sie beginnt damit, dass einige Mitglieder des Osage-Stammes im Jahre 1870 in ihrem Reservat Öl finden. Über Nacht gehört der Stamm zu den reichsten Menschen des Landes. Inflationsbereinigt ging es um Einnahmen von mehreren hundert Mio. US-Dollar. Scorsese zeigt aber gleich zu Beginn, dass die Medaille zwei Seiten hat: die eine zeigt den Luxus, den sich die Osage plötzlich leisten konnten, und der viele Hasadeure ins Osage County lockte. Alle auf der Suche nach Möglichkeiten, die Osage abzuzocken. Die andere Seite lernt man kennen, als die Osage-Frau Mollie Kyle (Lily Gladstone) in Büro eines fetten alten weißen Mannes sitzt und um Geld bittet, das eigentlich ihr gehört. Sie wird väterlich abgewiesen wie ein Kind. Dann beginnen die Morde. Tote Osage-Indianer werden gefunden. Die Behörden ermitteln nicht.

Die Felder auf dem Territorium des Stammes sehen im Sommer idyllisch aus. Bedeckt werden sie von Blumen, „Flower Moon“ heißen sie bei den Osage. Bei Scorsese sind die Blumen eine sarkastische Metapher für die Unschuld der Opfer, die von einer geld- und machtgeilen Elite betrogen und schließlich auch ermordet wurden, um sich aufgrund der herrschenden Gesetze zur Erbfolge die Öllizenzen der Osage anzueignen. Die Methode ist einfach: man heiratet eine Osage-Frau und wenn diese auf mysteriöse Weise verstirbt, gehören die Einnahmen aus der Ölförderung dem (natürlich) weißen Ehemann.
„Killers of the Flower Moon“ ist ein Film, in dem Rassismus eine Rolle spielt, aber Scorsese zeigt noch mehr die Mechanismen eines entfesselten Kapitalismus, der nur funktionieren kann, weil die Opfer der weißen Eliten aus Viehzüchtern, Anwälten, Politikern und der lokalen Polizei in einem vergleichsweise rechtsfreien Raum agieren konnten. Oklahoma wurde erst 1907 Bundesstaat der USA.

Genozid als Charakterdrama

„Kapitalfluss“ nennt William „King“ Hale (Robert De Niro) das Erschleichen der Erbfolge. Hale besitzt die größte Ranch im County und glaubt man David Grann, dann war der reale „King“ Hale einer der wichtigsten Köpfe des organisierten Verbrechens im County. Sein Geld verdiente Hale mit Vieh, Auftragsmorden und Versicherungsbetrug. In „Killers of the Flower Moon“ wird aus dem von Grann als rüde und ungebildet beschriebenen Magnaten eine faszinierende Person – eine Rolle, die Robert De Niro quasi auf den Leib geschrieben wurde und die er exzellent verkörpert. De Niro spielt einen Mann, der intelligent und verschlagen ist, sich öffentlich als Freund der Osage ausgibt und Schulen und Krankenhäuser finanzierte, dann aber peu à peu seine Bigotterie und Skrupellosigkeit offenbart. Die Fratze des Bösen wird dann um so brutaler sichtbar.

Martin Scorsese organisiert sein Narrativ als Beziehungsdrama. Da ist die Beziehung von Hale und seinem Neffen Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio), den er geschickt manipuliert und zu einer Ehe mit Mollie animiert. Um an das Vermögen der Osage-Frau heranzukommen, müssen allerdings einige Ihrer Verwandten beseitigt werden.
Ernest, der als Weltkriegsteilnehmer 1919 in die USA zurückgekehrt ist und bei seinem Onkel einzieht, ist die komplizierteste Figur in Scorseses Film und seine Beziehung zu Mollie ist noch komplizierter. Scorsese zeichnet die Figur als grenzdebilen Schwachkopf. Ernest scheint die an Diabetes erkrankte Mollie tatsächlich zu lieben - wenn er bei ihr ist. Gleichzeitig erledigt er den Auftrag seines Onkels zuverlässig, nämlich Mollie mit vergiftetem Penicillin langsam und grausam zu töten. Intellektuell ist er er völlig damit überfordert, wenn er versucht, die Pläne seines Onkels zu verstehen. Kein Problem hat er allerdings damit, die Morde zu planen, die Hale in Auftrag gibt - und sich an ihnen zu beteiligen. Auch wenn es darum geht, Mollies Verwandte zu liquidieren. DiCaprio spielt dies erschreckend gut - mit mahlendem Unterkiefer und eindimensionaler Mimik, als sei seine Figur das Opfer einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Ein Mann, dem man jederzeit ansieht, wie schwer ihm das Danken fällt.

Scorsese ließ an den Motiven seiner ambivalenten Hauptfigur keinen Zweifel, nachdem er mit Margie Burkhart, einer Enkelin der realen Mollie gesprochen hatte: "She said we have to remember that Ernest loved Mollie, and Mollie loved Ernest," so Scorsese auf einer Pressekonferenz. "It's a love story. So what happened was the script shifted that way and it became gritty."

Eine Liebesgeschichte zwischen Tragödie und Farce in den Mittelpunkt eines barbarischen Crime Plots zu stellen, ist kritikwürdig. Christopher Cote, ein Osage, der als Sprachberater beteiligt war, hatte noch gehofft, dass die Geschichte aus der Perspektive der Opfer erzählt würde. Dies geschah nicht.
“Martin Scorsese not being Osage I think he did a great job representing our people. But this history is being told almost from the perspective of Ernest Burkhart”, erklärte Cote. “But when somebody conspires to murder your entire family, that's not love. That's beyond abuse."

Die eigentliche Hauptfigur des grausamen Dramas ist daher Mollie. Lily Gladstone, die indigene Wurzeln hat und zuletzt auch in zwei Folgen von „Reservation Dogs“ zu sehen war, spielt mit enormer Power eine hochintelligente, leicht ironische Frau, die sich in ein Wrack verwandelt und am Ende nur knapp der Vergiftung durch einen Mann entgeht, in den sie sich ausgerechnet wegen seiner schönen blauen Augen verliebt hat. Und sie ist die einzige Osage-Figur in dem Film, die den Genozid des „Reign of Terror“ im Osage County emotional erlebbar macht. Denn die anderen Opfer sind in Scorseses Film nur Randfiguren.

Der Film ist streckenweise fahrig und elliptisch

In Sachen Charakterentwicklung zieht Martin Scorsese bei seinen Hauptfiguren dagegen alle Register seines Könnens, besonders dann, wenn es darum geht, von ambivalenten Männerbeziehungen zu erzählen.
In der Rekonstruktion eines der grausamsten Kapitel der Kolonisierung und Unterwerfung der Native Americans verzetteln sich der Regisseur und sein Co-Autor Eric Roth in dem fast dreieinhalbstündigen und viel zu langen Film allerdings. Zeit wäre genug vorhanden gewesen, um zu skizzieren, warum 50 Jahre nach dem Ölfund die ökonomische Entmachtung der Osage gelingen konnte. Das muss der Zuschauer selbst recherchieren.
So wurden die Pachtverträge und auch die Lizenzgebühren, die die Osage erhielten, zunächst vom Bureau of Indian Affairs verwaltet, ehe der Kongress 1921 auf Druck der habgierigen Eliten beschloss, dass die Tantiemen jedes einzelnen Mitglieds des Stammes von einem Vormund verwaltet werden. Im Rahmen des sogenannten „Guardian Systems“ wurden die Osage danach rechtskonform ausgeplündert. Zwar wurden 1924 zwei Dutzend Vormunde wegen Veruntreuung angeklagt, aber einige Jahre später hatten die Guardians immer noch 27 Mio. US-Dollar auf die Seite gebracht, während ihre Mündel um dreistellige Beträge betteln mussten, die ihnen wegen „Unmündigkeit“ selten bewilligt wurden.
Scorsese zeigt beides in der ersten Stunde des Films: Indianer in schicken Autos und teurer Kleidung und Mollie bei ihrem Vormund, der ihre Medikamente nicht bezahlen will und sie nach Hause schickt.

Überhaupt wirkt „Killers of the Flower Moon“ streckenweise fahrig und elliptisch, eine Erzählweise, die ihre Spannung aus den Auslassungen bezieht, die häufig genug die Handlung zu einer Abfolge ungeklärter Episoden macht. Einige Dialogszenen bremsen das Pacing aus und die Timeline, die sich über mehrere Jahre erstreckt, ist nicht immer nachvollziehbar.
Wenig überzeugend ist auch, dass Ernests Bruder Byron (Scott Shephard) wenig Screen Time erhält, obwohl angedeutet wird, dass Hale und sein Neffe Byron die eigentlichen Strippenzieher der Mordserie waren. An Ernest waren sie nur so lange interessiert, wie er sich bequem manipulieren ließ. Dass Hales Neffe am Ende sogar auf der Kill-Liste seines Onkels steht, ist daher keine Überraschung.

„Killers of the Flower Moon“ ist wegen einiger Unstimmigkeiten nicht Scorseses großes Alterswerk geworden. Rodrigo Prieto ("The Wolf of Wall Street", "The Irishman"; "Barbie") sorgte zwar für exzellente Bilder, die von der unverwüstlichen, mittlerweile 83-jährigen Filmeditorin Thelma Schoonmaker wieder einmal elegant montiert wurden. Aber wirklich stark ist Scorseses Film nur dann, wenn sich ziemlich gnadenlos weigert, dem Publikum eine Heldenfigur anzubieten, die heroisch und wie in einem klassischen Western die Schurken erbarmungslos zur Strecke bringt. Eine Figur mit dem Potential für eine Katharsis gibt es nicht.

Dies ist auch nicht Tom White (Jesse Plemons), ein ehemaliger Texas Ranger und Agent des Bureau of Investigation (BOI), einem Vorläufer des FBI. Nachdem Hale alle Rechtsberater, die von den Osage um Hilfe gebeten wurden, und auch einen Privatermittler und etliche Mitwisser ermorden ließ, schaffte es White dank intensiver zweijähriger Ermittlungsarbeit, die Hale-Gang vor Gericht zu stellen.
Leicht war dies offenbar nicht. Scorsese zeigt, wie Ernest mehrfach die Seiten wechselt, sich von Hales Anwalt (Brendan Fraser) zunächst manipulieren lässt, dann aber endgültig ins BOI-Lager wechselt. Und damit ein Deal verzockt, den ihm White angeboten hatte.
DiCaprio hat eine glänzende Szene, als er mit seinem Onkel bricht, aber in einer Abschiedsszene mit Mollie beteuert er danach immer noch seine Liebe. Mollie weiß mittlerweile, was Ernest ihr gespritzt hat. Sie weiß aber nicht, dass ihr möderischer Gatte selbst das Gift einnahm, offenbar, um begreifen, was er getan hatte – die schreckliche Verdrängungsarbeit eines Mannes, der immer noch nicht ganz verstanden hat, was sein Onkel als Waffe eingesetzt hatte: Autorität.
Hannah Arendt
definierte dies in ihrem Aufsatz „Was ist Autorität?“ so: Die Autorität, der es gelingt, andere zu unterwerfen, besteht nicht aus Macht und Gewalt. Im Gegenteil. Sie beruft sich auf Werte, die unveränderlich sind und keiner Erklärung bedürfen. Hales Kunst der Manipulation bestand darin, seinem naiven Neffen einzutrichtern, dass der „Kapitalfluss“ legitim sei, weil er der „Familie“ dient. Nackte Gier wird zur Glaubenssache, die Toten sind Kollateralschäden. Ein optimistisches Menschenbild hatte Martin Scorsese noch nie.

Postskriptum: der reale Hale wurde 1929 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und 1947 entlassen. Vor seiner Verurteilung sagte er: "If that damn Ernest had kept his mouth shut we'd be rich today."
Ernest Burkhart wurde 1926 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und 1937 entlassen. Byron Burkhart kam straflos davon. Ebenso die beiden Ärzte, die Ernest das Gift (vermutlich Heroin) verschafft hatten.
Nach den Verurteilungen wurden weiterhin Mitglieder des Osage-Stammes ermordet.

2021 beschloss der republikanisch dominierte Senat von Oklahoma die „Oklahoma House Bill 1775“, ein Gesetz, das ermöglichen soll, dass in Schulen und Universitäten Unterrichtspläne und Lehrstoffe so reguliert werden können, dass historische Fakten über den Rassismus nicht mehr verbreitet werden. Bekämpft werden soll die Critical Race Theory, die den amerikanischen Rassismus als strukturelles Phänomen definiert: der strukturelle Rassismus sei zum Beispiel fest im amerikanischen Rechtssystem verankert. Prompt cancelte ein Lehrer David Granns Buch „Killers of the Flower Moon”. Auch über das Tulsa-Massaker sollen Schüler und Studenten in Zukunft nichts erfahren. Scorsese zeigt
dagegen dokumentarisches Filmmaterial über das Massaker, bei dem in Tulsa (Oklahoma) 1921 ein Lynchmob über 300 Farbige umbrachte.

Der Film endet mit einer Radio-Show, der „The Lucky Strike Hour“. Die machte in den 1930er-Jahren nicht nur Werbung für die Zigarettenmarke, sondern spielte Big Band-Jazz und und fütterte das
sensationshungrigen Live-Publikum auch mit True Crime Stories. Scorsese zeigt eine Show, in der die FBI-Agents als wahre Helden der Osage-Story gefeiert werden. Der Regisseur hat sogar einen Cameo-Auftritt als Show-Moderator und erzählt dem Publikum, was aus den Schurken der Hale-Gang geworden ist. Genozid wird Entertainment.
Ein sarkastischer und deshalb auch ehrlicher Schlussakkord: „One of the things we were discussing was the fact that for God’s sake, after everything, it becomes entertainment,” erklärte Scorsese. “And you can say, well, this film becomes entertainment too, in which case then we have to take the responsibility. We hope that it’s entertainment with some depth and enrichment that maybe can approach some kind of truth.”

Note: BigDoc = 2

Killers of the Flower Moon – USA 2023 – nach dem gleichnamigen Buch von David Grann - Regie: Martin Scorsese – Buch: Martin Scorsese, Eric Roth – Laufzeit: 206 Minuten – Kamera: Rodrigo Prieto – Schnitt: Thelma Schoonmaker – D.: Leonardo DiCaprio, Robert De Niro, Lily Gladstone, Scott Shephard, Jesse Plemons, John Lithgow u.a.