Donnerstag, 21. Dezember 2023

Mrs. Davis - schräg, irre - und irgendwie brillant

Damon Lindelof ist der Organisator des Chaos. Mit dem Ende der Serie „Lost“ brüskierte er Millionen wütender Fans. Die Serie „Watchmen“ (2019) und der Film „The Hunt“ (2020) spalteten erneut die Gemüter, auch weil Lindelof die konventionellen Auffassungen von Realität innerhalb einer Fiktion aufbrach: es gab fiktiv-reale und fiktiv-irreale Szenen zu bestaunen. Dass Lindelof seine Geschichten zudem seine Geschichten sehr häufig non-linear erzählte, zeigte, dass Lindelof das Verstehen und Interpretieren einer Handlung durch das Publikum nicht unbedingt für erstrebenswert hielt.

In „Mrs. Davis“ wechselt der Drehbuchautor (u.a. „Prometheus“, 2012; „World War Z“, 2013) und Showrunner (u.a. „The Leftovers“, 2014-2017) zusammen mit der Sitcom-Spezialistin Tara Hernandez („The Big Bang Theory“) ins Comedy-Fach. „Mrs. Davis“ ist komisch, auf Lindelof’sche Weise brillant, was bei näherem Hinsehen dazu führt, dass man nicht länger nach einem Sinn des Ganzen fragt, sondern sich einfach zurücklehnt und darüber staunt, was so alles im Kopf eines Hochbegabten vorgeht.

Ausnahmslos bizarre Handlung

Der Kernplot der selbstverständlich non-linear erzählten Story ist schnell zusammengefasst: Betty Gilpin (bereits in „The Hunt“ dabei) spielt die Nonne Simone, die fest entschlossen ist, die KI „Mrs. Davis“ umzubringen. Offenbar, weil diese ihren Vater umgebracht haben soll. Mrs. Davis ist allerdings eine überaus humorvolle und empathische Künstliche Intelligenz – jedenfalls hat es den Anschein. Mrs. Davis hat der menschlichen Zivilisation den Frieden zurückgebracht. Es gibt keine Kriege mehr, alle haben einen Job, die medizinische Versorgung ist exzellent und die Menschen genießen eine perfekte Rundumversorgung. Psychotherapie inklusive. Man muss halt nur einen Knopf im Ohr haben und kann so permanent mit der KI kommunizieren. Mrs. Davis wiederum benutzt Menschen als Transponder, um mit Simone kommunizieren zu können. Die hat keinen Knopf im Ohr und verweigert sich dem neuen Paradies auf Erden sehr hartnäckig.
Bis ihr „Mrs. Davis“ einen Deal vorschlägt: sie soll den mythischen „Heiligen Gral“ finden – und zerstören. Dann würde sich die KI freiwillig herunterfahren. Simone willigt ein und erhält Hilfe von ihrem Ex Preston Wiley (Jake McDorman) und dessen Anti-KI-Terrorzelle, aber auch von ihrer großen Liebe Jay (Andy McQueen), der in Wirklichkeit Jesus von Nazareth ist und seit zwei Jahrtausenden aufgrund einer Panne als Dienstkraft in einem Diner arbeitet. Dort residiert in einem Zimmer, das niemand betreten darf, „The Boss“ – und der/die ist keine Geringere als Maria, die Mutter Gottes, die ebenfalls auf die Zerstörung des Grals drängt.

Doch der Plot ist zunächst völlig unwichtig. Der Trick in Lindelofs Serie besteht darin, dass er die Nebenhandlungen und die Nebenfiguren
zunächst wichtiger erscheinen lässt als den Hauptplot. Dazu gehören auch die visuellen und in der Regel absurden Gags und die bizarren Dialoge in der ersten Staffelhälfte. So heißt die zweite Episode „"Zwei Sie Piel mit Seitung Sie Wirtschaftung". Wer hier ernsthaft nach einer Bedeutung sucht, wird zum Narren gehalten, denn Lindelof und Hernandez haben die Episodentitel von einer KI verfassen lassen. Das kann man auch als Warnung verstehen.

Selbst die unwichtigsten Details werden mit Gags aufgeladen. Wenn Simone im Nonnengewand auf ihrem Motorrad vor einer verfallenen Manufaktur auf jemanden wartet, dann sieht ein Firmenlogo - aha, in der Fabrik wurde in besseren Zeiten das Fleisch von Flusspferden in Konserven abgefüllt. Beinahe jede Szene serviert ähnliche strange Ideen, die – soweit muss man sich ehrlich machen – so durchgeknallt sind, dass man aus dem Lachen nicht herauskommt. Etwa wenn ein größenwahnsinniger Priester (Tom Wlaschiha, „Game of Thrones“) den Papst in einem Verließ des Vatikans wegsperrt und durch ein Double ersetzt. Aber der Priester ist kein Priester, sondern der Undercover-Agent eines Geheimordens, der seit Jahrtausendern den Gral schützt. Erzählt wird alles nach Art der Indiana Jones-Filme, das aber im Monty Python-Stil. Die Vor- und Nachspeisen in „Mrs. Davis“ sind dabei wichtiger als das Hauptgericht. Wie gesagt: zunächst.

Die Dinge sind nicht das, was sie zu sein scheinen

Also gut: wir sind in einem Paralleluniversum, in dem Smartphones nach jedem Gespräch zerbrochen werden. Und Sneakers, mit denen man über Wasser laufen kann, tauchen bereits im 14. Jh. auf. Wenn 1307 in Paris die letzten Tempelritter als Häretiker verbrannt werden, war jemand mit einer Videokamera dabei, denn dieser Prolog der ersten Episode wird später Bild für Bild in einem Werbespot zu sehen sein. Aber die Hinrichtung hat es so nie gegeben, denn sie tatsächlich ein Werbespot. Wer möchte, kann dies medienkritisch rezipieren. Oder als Profanisierung religiöser Fehltritte.

Alles wird immer wieder durch Flashbacks unterbrochen. Einige Hintergründe werden verständlicher, gleichzeitig tauchen neue Rätsel auf: narrative Entropie sozusagen.  Immerhin erfährt man, dass Simone als junges Mädchen Michelle hieß und das Kind eines streitbaren Paares war, das als Magier in Bühnenshows auftrat. Michelle war als Fake-Zuschauerin aktiver Teil der Show, was mitnichten dazu führte, dass sie emotionale Zuwendung von ihrer Mutter Celeste (Elisabeth Marvel) erfuhr. Stattdessen wird das kleine Mädchen das Opfer einer von Celeste gebauten Selbstschussanlage, die dem Kind einen Pfeil in den Bauch jagt. Danach wird eine Lebertransplantation fällig. Die neue Leber wird später die Welt vor der KI retten, was gründlich in die Hose geht, weil die KI mittlerweile die Welt gerettet hat.

Natürlich hat die Serie abseits der ausgestreuten Rätsel auch ein Thema. Dabei geht es um Simones und Wileys  Suche nach dem Heiligen Gral, der nach etlichen Missverständnissen und Plot Twists im Bauch eines Wals landet.
Dass Simone in ein Kloster eintritt, wo sie dank des Ordensgelübde sakral den Bund der Ehe mit Jesus eingeht, hat einen handfesten Grund. Das Gelübde soll (endlich) den Sex mit dem Messias ermöglichen. Dass Simone sich nach Belieben in Jays/Jesus' Diner teleportieren kann, überrascht kaum noch nach all dem, ws man zuvor gesehen hatte. Und so besteht die Serie aus einer bizarren Handlung, die jede Form der Erwartbarkeit zertrümmert. Man weiß nie, was gleich passieren wird – und das darf ruhig wörtlich genommen werden.

Der Mainstream muss zertrümmert werden

Wer sich damit arrangieren kann, dass man mit einer Sinnsuche im herkömmlichen Sinn nicht weit kommt, dafür aber in vielen tollen und fantasievollen Sackgassen landet, kann sich amüsiert zurücklehnen und Lindelofs Strange New World als Nonsens pur genießen. Wer sich verkrampft und eine Botschaft erwartet, der kappt alle Verbindungen zu einer brillanten und phantastischen Reise durch das Unmögliche, die nicht einmal immer den Naturgesetzen gehorcht.
Warum das so und nicht anders erzählt wird? Nun, vermutlich aus zwei Gründen. Zum einen werden die Mindfuck-Nerds von Lindelof und Hernandez perfekt bedient und dürften spätestens nach der dritten Wiederholung die Strings entdecken, die in der Physik reine Hypothese sind, aber in der Serie als unsichtbare Fäden den Plot zusammenhalten. Oder auch nicht. Zum anderen zeigt Lindelof, dass im Streaming-Zeitalter alle denkbaren Geschichten erzählt worden sind und man Wiederholungen (der allerletzte Indiana Jones-Film ist ja auch nur eine bekannte Geschichte in neuen Schläuchen) nur dann aus dem Weg gehen kann, wenn man den Mainstream des Erzählens zertrümmert und jede einzelne Szene so überkandidelt mit bizarren Einfällen abschmeckt, dass einem Hören und Sehen nicht nur vergeht, sondern irgendwann auch abhanden kommt.

„Mrs. Davis“ ist daher eine Kampfansage an so ziemlich alle Formen des realistisch-psychologischen Erzählens. Die Serie gaukelt dem Zuschauer erfolgreich vor, dass die Metaphern und Symbole, die Gags und die subversiven Anspielungen tatsächlich etwas bedeuten, aber in der Erzählung häufig das Gegenteil von dem meinen, was man auf den ersten Blick zu erkennen glaubt.
Die Figuren entwickeln in dem Kuddelmuddel erhebliche Bindungskräfte. Betty Gilpin („Glow“, 2017-2019) als rachesüchtiger Nonne gelingt dies am besten, auch Andy McQueen, ein kanadischer Schauspieler mit indo-guyanesischen Wurzeln, macht als Messias eine gute Figur. Auch weil man ihm glaubt, dass er buchstäblich alle Menschen liebt, obwohl dies nicht gerade förderlich für seine Ehe mit Simone ist. Die meisten Figuren sind dagegen Comedy: schräg, schrill und etwas irre. Immerhin bringen sie einen zum Lachen, obwohl man die meiste Zeit verstört ist.

Und plötzlich macht alles Sinn!

Was dann wirklich verblüfft, ist die Kunstfertigkeit, mit der Lindelof und Hernandez ab der fünften Episode eine erzählerische Struktur in die Handlung bringen. Fast alles, was man zuvor für puren Wahnsinn hielt, fügt sich auf wundersame Weise zusammen. Plötzlich werden auch zwischen banalen Details überraschende Zusammenhänge erkennbar, für den Hauptplot gilt dies erst recht. Wer sich das Meiste gemerkt hat, wird erschrocken feststellen, dass das Chaos in Wirklichkeit eine Abfolge logischer Handlungsschritte war. Bis ins letzte Detail.

Das ist – zugegeben – brillant, erst recht, wenn man erfährt, dass der Gral eigentlich ein Teil des Schädels von Jesus war, ein Artefakt, das die Mutter Gottes (Shoreh Aghdashloo, „The Expanse“) erfolgreich dafür benutzt hat, um ihren toten Sohn in ein Schattenreich zwischen Leben und Tod zurückzuholen. Das bereut sie 2000 Jahre später. Nun muss also der Gral als letztes Überbleibsel des Messias weg, damit Jesus befreit wird und nach zwei Jahrtausenden endlich wieder eine Mahlzeit zu sich nehmen kann, anstatt im Diner irgendwelchen Leuten Falafel zu servieren. Der Gral muss also weg!

Am Ende ist es Simone, die disen Job erledigen muss. Sie muss aus der Schale trinken, ohne dass ihr Kopf explodiert (ja, auch das ist zwischendurch einer Unglücklichen wiederfahren!). Als ihr das gelingt, zerfällt der Gral zu Staub. Jesus ist frei (was er definitiv nicht sein möchte - das nur am Rande). Auch Mrs. Davis ist zufrieden, nur weiß man längst nicht mehr, was sie am Gral gestört hat und wenn man es dann endlich erfährt, dann passt dies zu einer Serie, die uns immerhin damit erfreute, dass eine KI ausnahmsweise mal nicht wahnsinnig ist.

Egal: alles ist möglich in der Serie. „Mrs. Davis“ hat dies zum Programm gemacht und am Ende servieren uns die Showrunner eine Botschaft, die angesichts der Mysterien, die man zuvor verdauen musste, durch ihre Trivialität schon wieder liebenswert erscheint. Tatsächlich geht es nur um eins: Familien müssen ihre Konflikte lösen und zueinanderfinden, Mütter müssen ihre Töchter lieben – Väter übrigens auch. Männer spielen taffe Männer, sind aber traumatisiert und müssen geheilt werden. Liebe ist tragisch und doch so schön, wenn es ein Happy End gibt. Gibt es.

„Mrs. Davis“ erzählt auch etwas über Selbst- und Fremdbestimmung und über die ungern zugegebene Sehnsucht nach einer digitalen Intelligenz, die nicht künstlich, sondern wirklich real ist. Und am Ende ist „Mrs. Davis“  auch eine Geschichte über das verlorene Paradies. Nur eins scheint dabei nicht zu überzeugen: die Heldin hat sich nämlich geirrt (was an Lindelofs „The Hunt“ erinnert) und sie zerstört am Ende ausgerechnet das, was unsere disparate Welt gerettet hätte. Nämlich dank einer KI, die als Kunden-App einer Frittenbude ganz klein angefangen hat, danach die Welt zu einem besseren Platz machen will und die nur aus einem Grund den Gral vernichten will: sie hatte einen Werbespruch der Frittenbude falsch interpretiert. Das hat sie nur nie gemerkt.

Auch Simone versteht das nicht so ganz. Sie plädiert für Selbstbestimmung und freien Willen, auch oder weil dazu der Schmerz und die Verzweiflung gehören. Eigentlich schade, dieses Missverständnis. Denn nach dem Ende der KI geht die Welt im Chaos unter, einem Chaos, das eigentlich schon immer existierte und dessen Unvermeidbarkeit Damon Lindelof, der Meister des Chaos, und Tara Hernandez auf eine hinterfotzig gemeine Weise und sehr stylisch auf die Schippe genommen haben. Wir können uns vor uns selber nicht retten. Zugegeben: eine KI kann uns auch nicht retten. ChatGPT erst recht nicht. Aber mal sehen, was mit Quantencomputern so alles geht. Ein Trost bleibt: am Ende reitet Simone mit ihrem treuen Freund Wiley in die untergehende Sonne.

Eigentlich wollte der Rezensent einen moderaten Verriss schreiben, aber die letzten vier Episoden haben dies verhindert. Ja, „Mrs. Davis“ ist ein Unikat, ziemlich irre, aber nicht sinnbefreit - womöglich eine der besten Serien des letzten Jahres. Man sich halt nur locker machen.

Wem das zu viel wird, kann sich die zweite Staffel von „Reacher“ anschauen. Dort ist alles „normal“, man versteht die Handlung und vergisst gerne und tief Luft holend, dass man wieder einmal eine Geschichte konsumiert, die man irgendwie schon mal gesehen hat. Und das ist weiß Gott nicht das Schlechteste, was einem widerfahren kann. Aber auch nicht das Beste.

Postscriptum: Diese Rezension enthielt nur ein Achtel der Handlung und erwähnte 6-7 Hauptpersonen überhaupt nicht. Ich wünsche allen Lesern trotzdem Frohe Weihnachten!

Note: BigDoc = 1,5

Mrs. Davis – USA 2023 – Streaming: Amazon Prime – Showrunner Tara Hernandez, Damon Lindelof – Regie: Owen Harris u.a. – 8 Episoden (abgeschlossen) – D.: Betty Gilpin, Jake McDorman, Andy McQueen u.a.