Mittwoch, 31. Januar 2024

Marvel ist tatsächlich am Ende

Als ich im März des vergangenen Jahres raunte, dass Marvel am Ende ist, hatte ich nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde. Nach dem Kassenflop „The Marvels“ scheint es unmöglich geworden zu sein, die Krise des Franchise zu leugnen. Zum ersten Mal erreichte Disney die magische Marge von 200% nicht.

250 Mio. US-Dollar hat der neue MCU-Film gekostet (Stand: 29.1.2024), mindestens 500 Mio. hätte er verdienen müssen - eingespielt wurden 206 Mio. Alarmierend ist auch, dass der Marvel-Film in den USA nur 84,5 Mio. US-Dollar in dies Kassen spülte. Zweistellig! Auf dem heimischen Markt? Das gab es noch nie! Und die Reaktion? Disney beendete kleinlaut die Kinoauswertung und wird „The Marvels“ bereits Anfang Februar in seinem Streamingportal zeigen.

Disney im Schockzustand

Zurück ins Jahr 2023: Richtig überzeugen konnte in Phase 5 des Marvel Cinematic Universe (MCU) nur „Guardians of the Galaxy Vol. 3“ mit 845 Mio. 2022 sorgten „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“, „Thor: Love and Thunder“ und „Black Panther 2: Wakanda Forever“ für akzeptable Einspielergebnisse, aber die Milliarden-Dollar-Latte wurde von keinem Film gerissen. Zuletzt schaffte dies nur „Spider-Man: No Way Home“ mit knapp 2 Mrd. US-Dollar (2021).

In meiner Rezension „Marvel ist am Ende“ hatte ich für das sich anbahnende Desaster gleich mehrere Faktoren ausgemacht: das schlechte Storytelling, das Ausscheiden tragender Figuren aus dem MCU, die Hybris der Macher und die Übersättigung des Publikums.
Das Storytelling hatte bereits zum Auftakt von Phase 5 in „Ant-Man and the Wasp“ (2023) gelitten: man „sieht einen lauen Aufguss, einen Film, in dem die Figuren kaum mehr sind als beinahe überflüssige Gimmicks zwischen atemlosen Actionszenen ohne Bedeutung. Man sieht einen Film, der mit eiskaltem Kalkül Kinder adressiert oder Erwachsene mit Low Level-Ambitionen“, schrieb ich.

Das dürftige Erzählniveau hatte auch eine Menge damit zu tun, dass Regisseure wie Regisseure wie Joss Whedon, Anthony und Joe Russo nicht mehr Bord waren – zuvor Garanten für Marvel-Erfolgshits. Filme, die auch das erwachsene Publikum bedienten und nicht nur Kinder und Jugendliche. Das sinkende Niveau hatte noch einen Grund: mit Chris Evans als Captain America, Robert Downey Jr. als Iron Man und Mark Ruffalo als Bruce Banner aka Hulk verschwanden die wichtigsten Superhelden aus dem MCU. Sie sind mittlerweile nicht einmal mehr im Online-Banner auf Disney+ zu sehen.

Ein weiterer Fehler: Nach Phase 3 wurden die MCU-Filme immer irrwitziger. Es reichte nicht mehr, dass die Superhelden die Welt retten. Im großen Abschieds-Zweiteiler der Avengers war es bereits das gesamte Universum. Danach mussten in der Multiverse-Saga im Dutzendpack Paralleluniversen gerettet werden. Bigger than big ist als Erzählprinzip meistens ein Zeichen von Hybris und inhaltlicher Leere, die irgendwann fast zwangsläufig zu einem Übersättigungseffekt führen muss. So kam es auch. Und Disney ist im Schockzustand.

Disney-CEO Bob Iger hat die Ursache gefunden: Disney ist zu woke

Nun stehen Disney und die Marvel Studios vor einem Scherbenhaufen. Doch wer ist schuld? Der alte und neue Disney-Chef Bob Iger erklärte es im November des letzten Jahres, als sich die Bauchlandung von „The Marvels“ abzeichnete. Natürlich machte Iger die Corona-Pandemie zum Sündenbock. Tatsächlich gab es 2020 keinen Marvel-Film, aber eigentlich meinte Iger etwas anderes: es fehlte schmerzhaft die Supervision am Set. Und zwar durch die Executive Producer. Also mehr Aufpasser für die Kreativen? Der Disney-Boss sollte aber wissen, dass das kreative Potential bei Mastermind Kevin Feige beginnt und im Writers‘s Room fortgesetzt wird. An der Produktion kann es nicht gelegen haben. Immerhin waren renommierte Regisseure wie Chloé Zhao, Jon Watts, Sam Raimi und Taika Waititi am Set unterwegs.

Noch skurriler ist Igers Kritik am Streaming. Ausgerechnet die hauseigene Plattform Disney+ würde mit ihrem preiswerten Monatstickets den Filmen das Wasser abgraben. Ein Schuss ins Leere, denn Disney+-Abonnenten haben bereits mehrfach die Erfahrung machen müssen, dass einige Disney-Produktionen zunächst kostenpflichtig von anderen Anbietern wie Amazon vermarktet werden, bevor sie im Disney Channel zu sehen sind.

Interessanter wird es an anderer Stelle. Ausgerechnet die vermeintlich woken Inhalte der aktuellen Disney-Produktionen machte der CEO für die Kassenflops verantwortlich und kündigte die neue Erfolgsformel an: „Unterhaltung geht vor Botschaft.“ Verblüffend, denn jahrzehntelang war Disney eine moralisierende Institution, die der Filmkritiker Georg Seeßlen erst unlängst als „missionarische Traumfabrik“ bezeichnete. Neben konservativen Familien- und Gesellschaftswerten wurden dabei allerdings auch immer wieder Geschichten von Figuren erzählt, die „anders“ sind - also divers!  - und dennoch erfolgreich gegen Vorurteile kämpfen. Es ist also anzunehmen, dass Iger gegen die falschen Botschaften antritt.

Doch welche Zuschauergruppen werden eigentlich durch was auch immer abgenervt? Sind es jene, die in „The Marvels“ die drei weiblichen Hauptrollen nicht ertragen können?
Diversität im Kino ist grundsätzlich eine gute Sache. Im Star Trek-Franchise sind einige Figuren nicht „hetero-normativ“. Geschadet hat dies dem Franchise nicht, auch nicht die überzeugend besetzten Frauenrollen. Man darf sich also fragen, was Iger meint. Etwa die Besetzung einer Meerjungfrau mit einer farbigen Schauspielerin? Fiktive Figuren mit einer sexuellen Orientierung, die einer erzkonservativen Klientel nicht behagt? Etwa die Flut von Frauenrollen in Marvel-Produktionen? Will Iger die Rückkehr des weißen Mannes?

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache

Da muss der CEO des Disney-Konzerns nicht lange suchen. Denn die Mär von den woken Inhalten und Figuren ist ein Mythos. Eigentlich sogar ein fauler Apfel, wie der der Hollywood Diversity Report 2023 der University of California, Los Angeles (UCLA) zeigt.

Methodisch vergleicht der Report den prozentualen Anteil von Minderheiten in den USA mit dem Anteil dieser Gruppen in Medienprodukten. Zwar gab es eine Abnahme von mit weißen Männern besetzten Hauptrollen, aber 2019 kippte der Trend. Der Anteil weißer Schauspieler und Schauspielerinnen in Hauptrollen stieg bis 2022 um 78,4%, wobei Männer einen Anteil von mehr als 60% erreichten. Fazit: die nicht-weiße US-Bevölkerung (43%) ist in Filmen unterrepräsentiert.
Das gilt übrigens auch für Rollen mit/über eine Behinderung. Und wer über zu viele Frauen klagt, sollte auch wissen, dass über 85% der Regisseure männlich sind. Und nimmt man die Regisseurinnen hinzu, so erstaunt es nicht mehr sonderlich, dass über 83% der Regisseure und Regisseurinnen weiß sind. Drehbücher stammen zu knapp 88% von Weißen und zu 73% von Männern. Noch ein Fazit also: nicht-weiße Akteure sind im Business ebenso unterrepräsentiert wie Frauen.

Wo der 73-jährige und aus der Rente zurückgeholte Bob Iger in der Filmindustrie und speziell bei Disney Wokeness gefunden hat, bleibt daher sein Geheimnis. Das Problem der Studiobosse ist meiner Meinung nach ein anderes. Ein Teil betrachtet Diversität grundsätzlich als Problem, zumindest aber als Risiko an der Kasse. Andere haben aus purem Opportunismus auf Diversität gesetzt, um dem Zeitgeist zu folgen. Und Botschaften ohne Überzeugung werden dann leider zur Floskel. Zuschauer erkennen den falschen Ton.
Den Opportunisten ist kaum zu helfen. Und der andere, der skeptische Teil sollte den Diversity Report genauer studieren. Filme mit 30-40% Diversität im Cast spielten das meiste Geld ein, Filme mit 20% und weniger floppten dagegen.

Bob Iger sollte daher zur Kenntnis nehmen, welche Produkte die Streaminghits des letzten Jahres waren. Da ist „Encanto“, ein Disney-Animationsfilm über eine kolumbianische Familie mit magischen Kräften. Und da ist der PIXAR-Animationsfilm „Turning Red“ über eine chinesisch-kanadische Familie, in der Frauen über magische Kräfte verfügen. Hört sich ziemlich divers an - ist es auch.
Produziert wurde der Film von PIXAR und Walt Disney Pictures. Zu sehen ist das Ganze auf Disney+.