Dienstag, 9. Mai 2017

Girl on the Train

Es ist ein Gefühl von Tristesse, das sich bleischwer über den Zuschauer legt. An manchen Tagen kann man es aushalten, wenn ein Film uns Zuschauern ausgebrannte Figuren auf die Leinwand oder die Mattscheibe spült, die kaum zu ertragen sind. An anderen nicht. „Girl on the Train“ erzählt hyper-angestrengt von der seelischen Demontage seiner Hauptfigur. Allerdings artifiziell und ohne Anteilnahme. Schwer zu ertragen.

Rachel Watson (Emily Blunt) sitzt Tag für Tag im Zug und fährt nach Manhattan. Immer die gleiche Strecke. Mit traurigen Augen blickt sie aus dem Zug. Die Urban Suburbs gleiten an ihr vorbei wie ein Glücksversprechen. Denn sie hat dort, in den Häusern der wohlhabenden Mittelschicht, selbst einmal gewohnt und war glücklich. Das ist vorbei. Trotzdem lässt sie nicht ab vom Schauen, weil sie besessen ist von der Idee, dass die Pärchen in den Gärten und auf den Terrassen allesamt glücklicher sind als sie.


Rachel schaut auf das Haus, in dem mit ihrem Mann Tom (Justin Theroux) gewohnt hat und phantasiert sich auch einiges zusammen, wenn sie Megan (Haley Bennett) und Scott Hipwell (Luke Evans) für einige Sekunden betrachten kann. Ein glückliches Paar, es muss einfach so sein! 

Tom indessen lebt jetzt mit Anna (Rebecca Ferguson) zusammen und später erfährt man, dass Megan für die beiden als Nanny arbeitet. Dann sieht Rachel das Kindermädchen auf der Veranda, zärtlich umarmt von einem fremden Mann. Kurz danach verschwindet Megan. Und Rachel wird von der Polizei damit konfrontiert, dass sie sich ausgerechnet an diesem Tag in der Nähe des Hauses aufhielt. Nur kann sie sich an nichts erinnern. Sie war einfach zu sturzbetrunken und wachte am nächsten Tag dreckig und mit blauen Flecken auf. Erinnern kann sie sich an nichts.


Eine alkoholumnebelte Talfahrt

Ein wenig erinnert dies an Hitchcocks „Fenster zum Hof“ (Rear Window, 1954), nur hatte James Stewart dort mehr Zeit beim Zuschauen. Für einen ähnlichen Voyeurismus hat Rachel keine Zeit, denn alles gleitet in wenigen Sekunden an ihr vorbei, wenn der Pendlerzug an den Siedlungen vorbeirauscht.
Diese fragmentierte Wahrnehmung entspricht durchaus der Gemütsverfassung der Hauptfigur. Rachel ist nämlich Alkoholikerin, wohnt bei einer Freundin und fährt jeden Tag zur Arbeit, obwohl sie dort bereits vor einem Jahr gefeuert wurde. Ein Leben aus Illusionen und Selbstbetrug zusammengesetzt, eine fragmentierte Existenz mit zahlreichen Filmrissen.
Das klingt nach „Lost Weekend“ (1945) und wie in Billy Wilders filmischer Talfahrt einer Alkoholikers leidet auch Rachel unter Halluzinationen und bizarren Erinnerungen. Flashbacks zeigen sie als unbeherrschte, sogar gewalttätige Frau, die am Ende die Karriere ihres Mannes demoliert.
Aber stimmt das alles? Ist sie Täter oder Opfer?


Erinnerungen sind Fake News: Den Bildern kann man nicht trauen

Das Dilemma der Verfilmung von Paula Hawkins gleichnamigem Erfolgsthriller ist die Ambitioniertheit des Regisseurs, für den Erin Cressida Wilson ein durchaus ausgeklügeltes Drehbuch geschrieben hat. Tate Taylor, der mit dem Südstaatendrama „The Help“ (Oscar für Octavia Spencer als Beste Nebendarstellerin) den Durchbruch schaffte, will in „Girl on the Train“ nicht einfach nur eine saftige Crime Story erzählen, sondern nebenbei auch noch Arthouse-Kino abliefern. Dies führt dazu, dass das Narrativ die fragmentierte Wahrnehmung seiner Hauptfigur zum Erzählprinzip macht. Taylors Film geizt nicht mit Zeitsprüngen und Flashbacks, aber das non-lineare Erzählen wirkt wie eine Schablone, in die alle Figuren nicht kunstvoll, sondern angestrengt hineingezwängt werden.
Der Trick ist wieder einmal der kaum noch überraschende Versuch, einen besonders raffinierten Plot Twist vorzubereiten. Und der besteht darin, dass fast nichts von all dem, an das sich Rachel alkoholbenebelt erinnern kann, sich tatsächlich auch so ereignet hat. Komplett brain-washed ist die Heldin der Geschichte das Opfer einer wahnwitzigen Manipulation, die auch den Zuschauer einschließt. Denn alle Flashbacks, die wir gesehen haben, sind mehr oder weniger Fake News. Was tatsächlich mit Rachel und Megan geschehen ist, erfährt man Ende, aber wie man es hinkriegt, einen labilen Menschen derart umzuformen, bleibt ein Rätsel.

Es ist also der Unreliable Narrator, der unzuverlässige Erzähler, der in „Girl on the Train“ herumspukt. Den Bildern kann man so wenig trauen wie Rachel ihren Erinnerungen. 
Befreien kann sich das girl on the train nur durch einen wahnhaften Zwang – sie will das Verschwinden der verschwundenen Megan aufklären und nimmt Kontakt zu deren Freund Scott auf. Als sie ihm von dem mysteriösen Unbekannten auf der Veranda berichtet, geraten nicht nur Scott, sondern auch Megans Psychiater Kamal Abdic (Édgar Ramírez) in den Fokus der Ermittler. Megan stapft damit allerdings vom Regen in die Traufe, als Megans Leiche gefunden wird. Und Megan ist ermordet worden, als sich Rachel in der Nähe des Tatorts aufgehalten hat.

Alkoholismus, Selbstzerstörung, Zwanghaftigkeit sind die eine Seite von Tate Taylors Film. Unkontrollierte Sexsucht, soziale Kälte und zynische Gewissenlosigkeit sind die andere. Das alles aber wirkt so, als hätten alle Beteiligten bei der Entwicklung der Story kleine Zettel auf den Tisch gelegt, um bloß nicht zu vergessen, welche Grausamkeiten man sich ausgedacht hat, um alle Figuren in einem Sumpf von Gleichgültigkeit und Amoralität unwiderruflich zu versenken. 
Alles wirkt daher wie am Reißbrett entworfen, den Bildern kann man nicht trauen, selbst das Happyend wirkt am Ende wie eine leere Phrase. Auch der Kunstgriff des Romans, nämlich die drei Frauen Rachel, Megan und Anna die Geschichte aus ihren völlig unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen, wird nur notdürftig angerissen. Es ist eben ein Unterschied zwischen der glatten Rede von einer „emotionalen Ausbeutung“ und deren glaubhafter Bebilderung.

Dass in der gnadenlosen Über-Inszenierung der Tristesse auch die leitende Ermittlerin (Allison Janney) merkwürdig distanziert und beinahe unbeteiligt wirkt, überträgt sich dann auch auf die Auflösung des Plots. Der erklärt zwar rückwirkend ziemlich clever die angestrengte filmische Konstruktion, wird aber überraschend lustlos abgewickelt. Wenn Rachel danach wieder im Zug sitzt und im Off über eine neue Zukunft fabuliert, glaubt man ihr kein Wort.



Note: BigDoc, Melonie = 3,5
 

Girl on The Train (The Girl on the Train) – USA 2016 –Laufzeit: 112 Minuten – FSK: ab 16 Jahren – Regie: Tate Taylor – Buch: Erin Cressida Wilson – D.: Emily Blunt, Rebecca Ferguson, Haly Bennett, Justin Theroux, Luke Evans, Allison Janney, Édgar Ramírez.