Dienstag, 16. Mai 2017

Ich, Daniel Blake

Der Zuschauer hat noch kein einziges Bild von Ken Loachs Film „I, Daniel Blake“ gesehen, aber das Schicksal der Titelfigur ist bereits beschlossene Sache. Während die Credits eingeblendet werden, hört man im Off einen skurrilen Dialog. Eine medizinische Fachkraft befragt telefonisch den 59-jährigen Tischler Daniel Blake nach seinen gesundheitlichen Beschwerden. Von seiner attestierten Arbeitsunfähigkeit nach einem Herzinfarkt will die Bürokratin nichts wissen. Wenig später wird Blake mitgeteilt, dass er arbeitsfähig ist. Arbeit könnte ihn aber umbringen.

Ein Mann im Räderwerk der Bürokratie. Es geht um die Bewilligung von Sozialleistungen, aber der Antragsteller wird nicht als Bedürftiger, sondern als Feind des Systems behandelt. Das hört sich kafkaesk an, ist es aber nicht. Kafka kannte den Neoliberalismus nicht.




Aus dem Dialog in Off kann man durchaus einen komödiantischen Unterton heraushören. Man mag nämlich nicht glauben, was man da hört. Dass jemand, der von einem Facharzt als vollständig arbeitsunfähig diagnostiziert worden ist, ausgerechnet in dem entscheidenden Gespräch über seinen Antrag auf Invalidenhilfe die eigene Krankheit mit keinem Wort erwähnen darf, klingt grotesk. Tatsächlich scheint es für die anonyme Fachkraft am anderen Ende der Telefonleitung wichtiger zu sein, ob Daniel Blake sich ohne fremde Hilfe einen Hut aufsetzen oder einen Stift halten kann.

Hat der große neorealistische Filmemacher Ken Loach wie mit „The Angels’ Share“ (2012) erneut eine saftige Sozialkomödie auf die Leinwand gebracht? Dazu gehören gallige Zuspitzungen, auch überpointierte Geschichten, die mit einem Schuss Situationskomik die bekannt maroden Zustände im britischen Gesundheits- und Sozialversicherungssystem aufs Korn nehmen. Können Sie einen Stift halten? Können Sie sich einen Hut aufsetzen? Man will es nicht glauben: Bürokratie kann doch wohl kaum so zynisch agieren. Doch, sie kann. Weil sie es will.


Barbarische Fürsorge

„I, Daniel Blake“ hat in England Wirkungstreffer erzielt. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat der britischen Premierministerin Theresa May den Film ans Herz gelegt. Der Politiker bezeichnete das nationale Sozialhilfesystem als „institutionalisierte Barbarei“. Auch Ken Loach meint es in „I, Daniel Blake“ todernst. Der Film ist keine Komödie. Die Hauptfigur gerät ins Räderwerk einer Bürokratie, die ihr erbarmungsloses Handeln nicht einer Ansammlung unfähiger Mitarbeiter verdankt, sondern dem unerbittlichen System, das dahinter steckt. Das ist politisch gewollt. Der Mensch gegen das System ist ein Generalthema in den Filmen von Ken Loach. Nun aber wendet sich das System von den Menschen ab – Fürsorge wird zum Euphemismus.


Diese Lektion lernt auch Daniel Blake, als ihm die Sozial- und Invaliditätshilfe aberkannt wird und er die britische Spielart der Arbeitslosenhilfe (Jobseeker’s Allowance) beantragen will, ja sogar dazu gedrängt wird. Daniel Blake will ja arbeiten, aber er darf nicht, nur interessiert sich niemand für das, was der Arzt dem Schwerkranken mit auf dem Weg gegeben hat.

Der in England auch als Stand-up-Comedian bekannte Schauspieler Dave Johns spielt den um seine materielle Existenz fürchtenden Handwerker nicht als graue Maus, sondern als Menschen, der sich mit alltagstauglicher Vernunft und viel Wortwitz gegen die Zumutungen des Apparates zur Wehr setzt. Dass Blake nicht besonders diplomatisch ist und unverstellt sagt, was er denkt, ist dabei keine große Hilfe. 

Dave Johns füllt die Rolle grandios aus, als analoges Wesen, dass plötzlich damit konfrontiert wird, dass er im Jobcenter mit Tastatur und Maus an einem der zahlreichen PC seine Anträge bearbeiten muss. Mit der Maus fährt er über den Monitor, bis sich jemand erbarmt und ihm die Zeigerfunktion erklärt. Wenig später friert das Programm ein und Blake fragt einen anderen Arbeitslosen, wie man es am besten wieder auftauen kann. Danach ist er halbwegs in der digitalen Welt angekommen: Die Zeit am Rechner ist begrenzt, wer länger braucht, hat Pech gehabt. Ein Freeze wird zur Metapher.
Daniel Blake, ein Handwerker, der zeitlebens hart gearbeitet hat, erlebt stattdessen, wie eine Mitarbeiterin des Jobcenters scharf gerügt wird, weil sie es wagt, ihrem ‚Klienten’ bei der Arbeit am PC zu helfen. Alles sei nun digitalisiert, erklärt der Leiter des Centers, und wer Probleme mit dem Computer hat, könne sich über Alternativen informieren. Natürlich im Internet.

Doch schlagfertiger Humor und gesunder Menschenverstand helfen Blake in diesem Mahlwerk nicht weiter. Und schon kurz danach befindet er sich mitten in der Jobsuche, 35 Stunden pro Woche, aufgefordert, jeden Schritt zu dokumentieren, notfalls per Handyfoto oder –film. Sonst drohen Sanktionen, Zahlungsreduzierung oder als Ultima Ratio der Entzug der Unterstützung. Notfalls für drei Jahre. Eine Posse beginnt, auf deren Höhepunkt  Blake tatsächlich einen Job findet. Aber er muss ihn absagen. Er ist schließlich arbeitsunfähig. Körperliche Belastung könnte sein Tod sein, weiß seine Kardiologin. Trotzdem sucht er weiter. Er muss.


Der Schwache ist der Feind

Die Tücken des englischen Sozialsystems hat Paul Laverty für „I, Daniel Blake“ gründlich untersucht. Laverty, der auch als Anwalt arbeitet und für Ken Loach die meisten Drehbücher geschrieben hat, kennt die Fallen des „Work Capability Assessment“ (WCA), jenem Test, mit dem Ken Loachs Film beginnt. 

Mithilfe eines ausgeklügelten Punktesystems will die Regierungsbehörde „Department for Work and Pensions“ (DWP) sicherstellen, dass Beschäftigungslose so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt zurückgeführt werden. 
Die WCA-Tests gehen sehr standardisiert vor. Dies führt dazu, dass individuelle Besonderheiten oft nicht berücksichtigt werden und auch langfristig oder dauerhaft erkrankte Menschen aus der „Employment and Support Allowance“ (ESA) hinausfliegen. Die ESA entspricht im weitesten Sinne einer Art von Invalidenunterstützung. Anders formuliert: wer im WCA-Test glaubwürdig nachweisen kann, dass er keinen Stift halten kann, erhält 9 Punkte. Wer 15 Punkte erreicht, darf weiterhin ESA-Unterstützung beziehen. Ken Loachs Film beginnt also nicht mit einer grotesken Farce, wir sind auch nicht in Terry Gilliams „Brazil“, sondern mitten im realen England und „I, Daniel Blake“ stellt mit dokumentarisch inszenierten Bildern den ebenfalls realen Prozess einer zum Scheitern verurteilten Armutsbewältigung nach.

Der Zuschauer darf daher nur ganz am Anfang hoffen, mitten in einer kafkaesken Dystopie zu stecken. Die düsteren Zukunftsvisionen sind in der Gegenwart angekommen. In der Praxis ist das ESA-System extrem restriktiv. Schwer kranke und dauerhaft invaliden Antragstellern wird mit scharfen Sanktionen gedroht, allein 2014 wurden über eine Million Sanktionen ausgesprochen. Das Ziel: die Hilfsbedürftigen sollen aus dem ESA-Systems hinausgemobbt werden. 
Ein Beispiel ging durch die Medien, als eine ältere Frau während eines Beratungsgesprächs einen Herzinfarkt erlitt. Die Bezüge wurden sofort gekürzt, die Antragstellerin habe schließlich das Gespräch abgebrochen.
Hintergrund ist die scharfe Austeritätspolitik der britischen Regierung, die zuletzt 2017 zu einer weiteren dramatischen Kürzung der staatlichen Beihilfen führte. Die Betroffenen erhalten nun 25% weniger, die staatliche Hilfe passt sich damit der allgemeinen Verarmung an: so büßte das ärmste Zehntel der Londoner Bevölkerung in der letzten Jahren 19 Prozent seines Einkommens ein. Diese Armut ist nicht relativ, sondern konkret. Viele Familien leben unmittelbar an der Hungergrenze. Und sie werden so behandelt, als seien sie Feinde der Gesellschaft.


Gegenentwurf zur sozialen Kälte

In „I, Daniel Blake“ gibt es keine Filmmusik. „Musik manipuliert die Gefühle“, erklärte Paul Laverty in einem Interview. Musik hört man in dem Film nur, wenn sie binnendiegetisch eingesetzt wird. Etwa wenn Blake einem kleinen Mädchen die Lieblingsmusik seiner verstorbenen Frau vorspielt. 

Daisy (Briana Shann) ist die Tochter von Katie Morgan (Hayley Squires), die Daniel im Jobcenter kennenlernt. Die junge Frau ist mit ihren beiden Kindern von den Behörden aus einer Londoner Obdachlosenunterkunft nach Newcastle verschoben worden. Im hohen Norden Englands erwarten die alleinerziehende Mutter aber keine besseren Perspektiven – immerhin hat sie jetzt eine Wohnung. Auch sie will nichts lieber als einen Job, vielleicht halbtags, damit sie zu Ende studieren kann. 
Daniel Blake wird zum Freund der Familie, macht dank seiner handwerklichen Begabung die Not zur Tugend, bringt den Haushalt in Schuss. Er bastelt Kinderspielzeug, zeigt, wie man mit Teelichter und Blumentöpfen etwas Wärme in die Wohnung bekommt und erfindet aus dem Stand eine wirkungsvolle Wärmedämmung für die Fenster.

Ken Loach skizziert mit dieser Notgemeinschaft durchaus plakativ einen Gegenentwurf zur sozialen Kälte und systemischen Verrohung der gesellschaftlichen Institutionen. Dies ist nicht allegorisch gemeint, sondern programmatisch. Man hilft sich halt wieder auf die Beine, wenn man hinfällt. Man teilt inmitten der Misere seine Stärken und sucht nach Lösungen, wenn sonst keine Hilfe zu erwarten ist. Solidarität ist nicht einfach nur ein Wort.

Dabei ist Daniel Blake keineswegs der nette Alte von nebenan, der pausenlos Sympathiepunkte sammelt, sondern ein rustikaler und gelegentlich cholerischer Mann, der schnell auf der Palme ist, wenn der Hund des Nachbarn vor dem Haus sein Geschäft verrichtet. Und er nimmt sich auch herrisch den jugendlichen Nachbarn zur Brust, der sehr tricky Turnschuhe aus China bezieht und zum halben Preis schwarz auf der Straße vertickt. Die Schuhe sind die gleichen wie die von einem bekannten Sportlabel verkauften, nur halt für den chinesischen Binnenmarkt. Globalisierung mal andersrum interpretiert.

Der soziale Abstieg von Daniel und Katie ist indes nicht aufzuhalten. Ken Loach findet dafür ein Bild, das ein Schlag in die Magengrube ist. Katie reißt in der „Food Bank“, einer Non-Profit-Organisation ähnlich der deutschen „Tafel“, in einem unbemerkten Augenblick eine Dose mit Bohnen auf, um den Inhalt kalt zu verschlingen. Nun ahnt man nicht Länger, man weiß, dass sie zuvor alles Essbare den Kindern überlassen hat und selbst bereits halb verhungert ist. Katie wird wenig später zum ersten Mal in ihrem Leben stehlen, in einem Supermarkt, dessen Sicherheitsmitarbeiter sie kurz danach an einen Escort-Service vermitteln wird. Die Rückkehr in die Arbeitswelt ist gelungen.


Ich bin ein Mensch, keine Zahl

Das Filmscript für „I, Daniel Blake“ hätte auch Charles Dickens schreiben können. Man könnte es aber auch als Sozial-Schmonzette abtun. Ein Kritiker warf Ken Loach immerhin eine holzschnittartige Handlung vor. 
Aber der 81-jährige Regisseur weiß, wovon er erzählt. Loach hat sich schon früher sehr beharrlich mit den Problemen der sozial Schwachen und Ausgegrenzten beschäftigt, und die Filme, die er zusammen mit Paul Laverty gemacht hat, sind gründlich recherchiert, aber auf keinen Fall unparteiisch. Wer weiß, dass im Londoner Bankenviertel erfolgreiche Geschäftsabschlüsse mit Champagner aus 3000 Pfund teuren Flaschen gefeiert werden, während sich der Staat gegen seine Schwächsten in Stellung bringt, dreht zwar nicht zwangsläufig ohne Humor, aber mit Sicherheit keine Komödien. „I, Daniel Blake“ ist daher fast dokumentarisch in seiner Bildsprache. Ein bewusst reduziert gedrehter Film ohne raffinierte Kameraeinstellungen und ohne Montagemätzchen. Ein ökonomisch realisierter Film, der die über Leben und Tod entscheidende Ökonomie fest im Fokus behält.

Beim Europäischen Filmpreis musste sich Ken Loach dem Konkurrenten „Toni Erdmann“ geschlagen geben, in Cannes holte sich der britische Regisseur für sein Sozialhilfe-Drama die Goldene Palme ab. Seine Dankesrede sollte man sich im Bonusmaterial der Bluray/DVD gründlich anschauen, die Schnitte ins Publikum sagen alles, etwa wenn der Schauspieler Donald Sutherland mit starrer Mimik zuhört, was Loach zu sagen hat.

„Filme können uns Fantasiewelten vor Augen führen oder auch die Welt, in der wir leben“, führte der große alte Mann des realistischen Kinos aus. „Und die Welt, in der wir leben, ist derzeit an einem gefährlichen Punkt angelangt. Wir werden von einem Sparkurs in die Zange genommen, angetrieben von einer Idee, die man Neoliberalismus nennt. Das hat uns an den Rand der Katastrophe gebracht (...) Film hat viele Traditionen. Eine davon ist es, ehrbar zu bleiben und die Interessen der Menschen zu vertreten.“

Das kann man pathetisch nennen, aber nur, wenn man es nicht besser weiß. Einen pathetischen Moment leistet sich Ken Loach sicherlich kurz vor dem Filmende. Da hat seine Hauptfigur bereits beinahe den gesamten Hausrat verkauft, um am Leben zu bleiben. Daniel Blake wartet auf seinen Berufungstermin, er wandert in eine Decke gehüllt in seiner kalten Wohnung herum. Und irgendwann geht er zum Jobcenter und sprüht dort „Ich, Daniel Blake, will meinen Berufungstermin, bevor ich verhungere“ an die Wand. Einige Passanten bleiben stehen und feuern ihn an, ein Obdachloser spendiert dem Sprayer seine Jacke. Dann kommt die Polizei und führt Blake ab. Man verwarnt ihn, das nächste Mal droht Knast.

Ein Happy-End spendiert uns Ken Loach dann auch nicht, der Film endet vielmehr mit einem Armenbegräbnis. Vormittags um 9 Uhr, da ist es am billigsten. Man ahnt aber, dass Katie Morgan als Nutte ihre Kinder sicher durch diese Welt bringen wird. „I, Daniel Blake“ ist ein Film, den man sich mit geballter Faust anschaut.

Quellen:

  • „Meine Zeit in Großbritannien und Nordirland – Arbeit und Rente europaweit“ (Broschüre der Deutschen Rentenversicherung) 
  • Peter Stäuber (2016): „London: Unterwegs in einer umkämpften Metropole“, Promedia Verlag Wien

Noten: 

  • BigDoc = 1,5, Klawer = 2


Ich, Daniel Blake (I, Daniel Blake) - GB 2016 - Regie: Ken Loach - Buch: Paul Laverty- D.: Dave Johns, Hayley Squires u.a. - Laufzeit: 100 Minuten - FSK: ab 6 Jahren