Freitag, 9. Februar 2018

River

„River“ ist eine britische Miniserie, in der ein eigenbrötlerische Ermittler mit Toten spricht, während er den Mord an seiner Kollegin aufklären muss. Die Serie wird von Netflix gestreamt und ist aktuell bis Anfang März in der ARTE-Mediathek zu sehen.

Detective Inspector John River (Stellan Skarsgård) und seine Kollegin Detective Sergeant Jackie „Stevie“ Stevenson (Nicola Walker) fahren im Auto durch die Nacht, sie halten an einem Drive-In. „Beeil dich, einen Burger, extra Käse, ohne Zwiebel.“ River kriegt es nicht hin, er bestellt für Stevie einen Burger mit Zwiebeln. Beide frozeln über Fastfood und Gesundheit, River etwas verschlossen, Stevenson zunehmend fröhlich. Dann hört man im Autoradio Tina Charles’ Disco-Hit „I Love to Love”, während die Credits laufen. Stevie singt mit. Kurz danach fällt River ein verdächtiges Fahrzeug auf, der Fahrer, ein junger Dealer, flüchtet. River verfolgt ihn durch Straßen und Hinterhöfe, am Ende stürzt der Flüchtige von einem Balkon und liegt zerschmettert auf dem Dach eines parkenden Autos. Die Kollege des Metropolitan Police Service wimmeln wenig später am Tatort herum, River hört sich die Kritik seiner nörgelnden Vorgesetzten Detective Chief Inspektor Chrissie Read (Lesly Manville) an: dies sei schon der dritte Wagen, den er in dieser Woche gemeldet hat. Und davon würde Stevie nicht lebendig. Stevie lacht nur:“ Was weiß die schon?“ Und während beide wegegehen, sieht man in Stevies Hinterkopf ein faustgroßes Einschussloch.



Tote reden nicht über Fakten, die bei der Ermittlung weiterhelfen

Stellan Skarsgård ist ein Londoner Cop, der Tote sieht und mit ihnen spricht. Seine Besucher nennt er „Manifestationen“. Es sind keine Stimmen im Kopf, er sieht die Toten, redet und interagiert mit ihnen. Das tut er bereits seiner Kindheit. Seine Mutter brachte ihn als Kind zur Großmutter und verließ ihn danach. Kurz danach erschien der erste Tote und der kleine John war nicht mehr einsam. Rivers Kollegin Stevie ist nun ebenfalls ein neuer Gast an Rivers Seite. Sie ist kurz zuvor mitten auf der Straße vor Rivers Augen erschossen worden, nun sucht er den Täter und seine tote Kollegin begleitet ihn bei der Suche. Aber Tote reden über alles Mögliche, nur nicht über Fakten, die bei der Ermittlung helfen.

„River“ ist eine sechsteilige Miniserie, die 2015 auf BBC One zu sehen war. ARTE hat die Serie nun sein Programm aufgenommen, was nicht verwundert, denn „River“ ist weder Mainstream noch Fantasy à la Night M. Shyamalans „The Sixth Sense“, wo die Hauptfigur am Ende erkennt, dass sie tot ist.
Die BBC-Serie mit den stimmungsvollen Bildern von Kameramann Hubert Taczanowski, ist auch kein konventioneller Krimi, obwohl die Ermittlungen DI John River bald in die Welt des organisierten Verbrechens führen wird. „River“ ist vielmehr ein existenzialistisches Drama, eine mehrstündige dialogintensive Reflexion über Einsamkeit und unterdrückte Gefühle, über die Qualen der Erinnerung und die Angst vor dem Leben, das seiner Titelfigur so aussichtslos erscheint wie die Liebe. Die, so glaubt River, tritt in viel zu vielen Facetten auf und ist daher gefährlich und sinnlos. 

Ob „River“ nun ein Krimi mit philosophischen Zutaten oder ein existenzielles Drama mit ein kriminalistischen Einlagen ist, ist eigentlich nicht so wichtig, denn die Serie funktioniert auf beiden Plot-Ebenen. John River möchte eigentlich den Mord an seiner Kollegin aufklären, muss sich aber auf Anweisung seiner Vorgesetzten mit anderen Fällen beschäftigen. Ein Mann, der als Freak verspottet wird, den aber die hohe Aufklärungsrate vor einer Suspendierung rettet. 
Bei seinen Ermittlungen muss sich River nicht nur mit den spöttischen und gelegentlich rätselhaften Kommentaren seiner toten Kollegin auseinandersetzen, sondern auch mit den Klagen des jungen Dealers klarkommen, der seinen Tod als ungerecht und absurd empfindet. Der Cop muss sich auch den Gehässigkeiten des toten Serienmörders Thomas Neil Cream (Eddie Marsan) stellen, der das zynische und scharf beobachtende Alter Ego des Polizisten ist. „Ich bin Du. Ich bin die Verzweiflung. Ich bin der Tod“, schleudert der 1892 gehängte viktorianische Giftmörder River entgegen. Und wenn River dann gewalttätig wird und den Serienmörder verprügelt, sehen alle anderen nur einen verwirrten Kauz, der pantomimisch mit einem Unsichtbaren kämpft.

Dunkle Reise ins Reich der Toten

Showrunner der Miniserie ist Abi Morgan, die als Dramatikerin und Drehbuchautorin bekannt wurde und u.a. für die BBC-Serie „The Hour“ und Damian Jones‘ Margaret Thatcher-Biopic „The Iron Lady“ die Scripts verfasst hat. Inspiriert wurde sie von Anthony Minghellas Spielfilm „Truly Madly Deeply“ (Wie verrückt und aus tiefstem Herzen, 1991), einer komödiantischen Variante des Orpheus und Eurydike-Stoffes, in der einer jungen Frau der tote Freund erscheint.
„River“ ist allerdings Lichtjahre von einer Komödie entfernt. Zusammen mit Richard Laxton als Regisseur hat Abi Morgan eine skurrile und sehr dunkle Interpretation der Reise ins Reich der Toten kreiert, die nur gelegentlich Platz für Humor hat. Und der ist dann tiefschwarz. „River“ ist vielmehr eine Geschichte mit einer tieftraurigen depressiven Grundierung, die mit großer Wahrscheinlichkeit vielen Zuschauern unerträglich erscheinen wird, denn in „River“ sind es die Wiedergänger aus dem Reich der Toten, deren mythologische Aufgabe es ist, den Lebenden einen Spiegel vorzuhalten. Und dort sehen sie das, was sie nicht erkennen wollen. Das ist schmerzhaft wie in Andrei Tarkowskis Verfilmung von Stanislaw Lems „Solaris“. Beim Zuschauen ist die Intensität der Geschichte und der Emotionen mitunter schwer auszuhalten.

Also eine bestenfalls tiefschwarze Komödie, aber sicher keine Fantasy-Geschichte, auch wenn Abi Morgan offenlässt, ob John Rivers exzentrische Manien lediglich ein Fall für die Psychiatrie sind. Selbstgespräche zu führen und Stimmen zu hören, erklärte Morgan im einem Interview, müssen nicht unbedingt pathologischer Natur sein. In „River“ sind sie eher Schritte einer Selbstheilung, die bereits ein ganzes Leben andauert. Denn die Kommunikation mit den Toten bedeutet für John River, dass man mit den Lebenden nicht mehr reden muss, weil dies nur eine geringe Bedeutung besitzt. Dass auch die Lebenden eine Bedeutung haben, muss John River auf seine alten Tage erst noch lernen.

Bei diesem Seelentrip lebt die Serie nicht nur von der Atmosphäre der Geschichte, sondern auch von einem exzellenten Cast. Allein das nuancierte Spiel von Stellan Skarsgård macht „River“ zu einer der sehenswertesten Serien der letzten Jahre. Skarsgård entwickelt die Figur des verklemmten Eigenbrötlers zu einem Charakter, der als Cop so scharfsinnig und ergebnisorientiert arbeiten kann, sodass es trotz seiner Manien und einer von seinen Vorgesetzten angeordneten psychologischen Behandlung nicht möglich ist, ihn aus dem Dienst zu entfernen. Skarsgårds Cop ist ein genauer Beobachter, der seine Umwelt sarkastisch kommentiert, gelegentlich boshaft, sich dann traurig und verletzlich zurückzieht, mitunter auch aggressiv und wütend auf seine ‚Besucher‘ reagiert.


Nicola Walker als „Stevie“ ist dabei alles andere als ein düsteres Gespenst, sondern verkörpert paradoxerweise die pure Lebenslust. Das wird von Nicola Walker außergewöhnlich gut gespielt. River wird am Ende herausfinden, dass ihr Tod mitten ins Herz der Finsternis führt, denn Stevies Tod hat sehr viel mit ihrer Vergangenheit und ihrer kriminellen Familie zu tun. Die ist tief in eine Korruptionsaffäre verstrickt, in der es um bestechliche Richter und illegale Migranten geht.

Als Rivers Sidekick fungiert der erneut groß aufspielende Ira King („Utopia“), der als DS Adeel Akhtar seinem Kollegen loyal zur Seite steht, auch wenn der im Büro lieber mit Toten als mit ihm spricht. Ira King agiert mit einem wunderbaren Understatement und River wird beinahe zu spät begreifen, welchen Wert jemand besitzt, der seine „Manifestationen“ beiläufig toleriert. Auch Freundschaft muss die Titelfigur noch lernen. Bemerkenswert ist auch die Leistung von Sorcha Cusack, die Stevies joviale Mutter Bridie Stevenson spielt und sich als heimliches und eiskaltes Oberhaupt des kriminellen Stevenson-Clans outet.

Die Aufklärung des Falles deckt dann eine Tragödie von shakespeareschem Ausmaß auf. John River zerbricht aber nicht. „I Love to Love But my Baby Loves to Dances“ singt Tina Charles und River und Stevie tanzen auf der Kreuzung, auf der Stevie erschossen wurde. Sie haben sich das gesagt, was sie sich früher hätten eingestehen müssen. Eine schöne todtraurige Geschichte von Lebenden und Toten.

River – TV-Miniserie (6 Episoden) – GB 2015 – Idee und Buch: Abi Morgan – Regie: Richard Laxton – Kamera: Hubert Taczanowski – D.: Stellan Skarsgård, Nicola Walker, Eddie Marsan,
Lesly Manville, Ira King, Bridie Stevenson, Georgina Rich u.a.