Donnerstag, 15. Februar 2018

Star Trek: Discovery – wie ging es weiter?

Die Fortsetzung nach der Midseason-Pause machte einiges gut, konnte aber trotz grandioser Settings und einem kinoreifen Look nur bedingt das Gefühl erzeugen, im Star Trek-Universum angekommen zu sein. Dennoch ist die Serie kein Flop.

In 1x10 „Despite Yourself“ begann die zweite Staffelhälfte von „Star Trek: Discovery“ (STD) mit einer Überraschung, die keine war: Die Crew der Discovery war in einem Spiegeluniversum gelandet. Dies war zuvor bereits in den Fanforen diskutiert worden.
Im Star Trek-Serien-Kosmos ist das Spiegeluniversum eine Kopie des uns bekannten Universums, in der alle Serienfiguren als Spiegelversionen existieren. Allerdings mit dem Unterschied, dass die Geschichte in dieser Schattenwelt militärisch und ethisch aus dem Runder gelaufen ist. Kurz gesagt: Die Guten sind dort böse, die Bösen gut.




In der Spiegelwelt

In der Originalserie (TOS) landeten Captain Kirk und seine Crew in der Episode 2x10 „Mirror, Mirror“ in einem Paralleluniversum. Andere Ableger des Franchise griffen das Thema ebenfalls auf, so war 2x23 „Crossover“ in „Star Trek: Deep Space Nine“ nur einer von vielen Besuchen in der Parallelwelt. Die Episoden „In a Mirror, Darkly“, Part I und II (4x18 und 4x19) lieferten in „Star Trek: Enterprise“ weitere Einblicke.

Dass das Terranische Imperium auch in den Star Trek-Romanen  häufig austaucht, zeigt die Beliebtheit dieses parallelen Narrativs. Wie würden Vertreter der humanistischen Vielvölker-Föderation mit einer Welt voller Gewalt und mit einem faschistisch-imperialistischen Imperium klarkommen, in dem Menschen andere Spezies unterjochen und ausbeuten?

Stoff für spannende Konstellationen liefert das genug, aber bislang hatten sich diese Sidesteps in Zeit und Raum nur auf Einzel- oder Doppelfolgen beschränkt. STD ging einen Schritt weiter und verlegte fast die komplette Handlung der zweiten Staffelhälfte ins dunkle Spiegelbild. Dort begegnet Michael Burnham ihrem toten Captain Philippa Georgiou, die im Spiegeluniversum als Imperatorin brutal die Geschicke des Terranischen Imperiums leitet. Captain Lorca, auch das hatten die Fans vermutet, entpuppte sich dagegen als Spiegel-Lorca, der im falschen Universum gestrandet war (wo ist eigentlich der echte Lorca?) und nun nichts anderes im Sinn hatte, als mithilfe des Sporenantriebs in seine Heimat zurückzukehren. Im Spiegeluniversum gehört er einer Untergrundbewegung an, die politisch noch radikaler ist als das herrschende Regime und recht ungemütlich an die „America first“-Parolen eines Donald Trump erinnert.

Während die Crew der Discovery fieberhaft an der Rückkehr in ihre eigene Realität arbeitete, mussten Burnham & Co. in einer Charade aus Doppelrollen und Täuschungsmanövern ihre eigentliche Herkunft verschleiern. Beides nicht ganz einfach, da sich herausstellte, dass die Aktivitäten der Spiegel-Version von Paul Stamets das Sporen-Netzwerk nicht nur geschädigt hatten, sondern auch die Existenz aller Spiegeluniversen auf dem Spiel stand. Auch das ein hyperdramatische Over-the-Top-Element, das eine gewisse Sorglosigkeit der Autoren verriet, denn diese fiktiven Fakten und ihre mögliche Konsequenzen verschwinden auch dann nicht mehr aus einer Serie, wenn man sie in Zukunft nicht mehr erwähnt oder zur geheimen Verschlusssache erklärt.

In 01x13 „What’s Past is Prologue“ steht Lorcas Rebellentruppe unmittelbar vor dem Sieg, aber Burnham rettet im letzten Moment die Spiegel-Georgiou. Beide werden auf die Discovery gebeamt, die nach ihrer erfolgreichen Rückkehr ins ‚richtige‘ Universum allerdings nicht nur einen Raum-, sondern auch einen Zeitsprung vollzogen hat. Man ist neun Monate in der Zukunft gelandet. Und in dieser Zeitlinie stehen die Klingonen vor dem Sieg. Der Föderation der Planeten droht die völlige Vernichtung.



Glanz und Elend

Die erste Staffel von „Star Trek: Discovery“ basiert in groben Zügen, so Bryan Fuller, auf der Episode „Balance of Terror“ (TOS 1x14). Möglicherweise werden viele Kritiker der neuen Serie dies nicht wissen. Vielleicht aber doch. Für viele ging es vielmehr um die Frage: Ist STD nun ‚richtiges‘ Star Trek oder nicht? 

Auf einige Aspekte einer möglichen Antwort bin ich bereits in meiner Rezension der ersten neun Folgen eingegangen. Mein Zwischenfazit: „Star Trek: Discovery“ ist ein Relaunch, der in erster Linie für neue Zuschauergruppen gemacht wurde und weniger für die Trekkies, die unerbittlichen Verteidiger des Kanons. Zu hart, zu erwachsen, zu depressiv waren die neuen Folgen, die bislang nur wenig mit dem zu tun hatten, was sich Gene Roddenberry vor einem halben Jahrhundert ausgedacht hatte. Die Macher sahen dies anders und möglicherweise haben sie auch Recht. Doch der Reihe nach.


Ein heftiger Kritikpunkt war der neue Look der Klingonen. Das Redesign hatte sich Bryan Fuller gewünscht, der schlicht und einfach das in den Post-TOS-Serien etablierte Aussehen für inkonsistent hielt. Tatsächlich sahen die Klingonen in der Originalserie anders aus, in STD wurde ihnen der dritte Look verpasst und laut Fuller sollten dies nur die ‚richtigen‘ Klingonen sein. Bei näherer Betrachtung also eher ein marginales Thema und kein wirklich bedeutender Kritikpunkt.
Andere Kritiker trugen nachvollziehbare Einwände vor. So war unschwer zu übersehen, dass die in der Serie präsentierten neuen Technologien nicht in die gewählte Zeitlinie passten und unweigerlich zu Paradoxien führen mussten. Pars pro toto konnte man zum Beispiel den Sporenantrieb als größenwahnsinnige Over the Top-Erfindung interpretieren, mit der die Macher der neuen Serie erneut eine gewisse Gleichgültigkeit in Hinblick auf die Konsistenz des Kanons zu demonstrieren schienen.


Funktioniert die Serie trotz dieser Vorbehalte? Trotz erheblicher Bedenken glaube ich, dass der Relaunch nicht gescheitert ist. STD bietet opulente Settings, tolle Effekte und das Film Shooting ist kinoreif. Allerdings hatte man nicht selten den Eindruck, in der Comicwelt eines Flash Gordon unterwegs zu sein, die mit einer Prise Star Wars abgeschmeckt worden war: prunkvoll, etwas märchenhaft und gelegentlich auch trivial, dann wieder spannend und voller Überraschungen.


Auf jeden Fall gewann die Darstellerriege in der zweiten Staffelhälfte an Profil. Man konnte das an der Entwicklung Sarus (Doug Jones) sehen, dem ängstlichen Kelpianer, der über seine Beschränkungen hinauswächst und seinen verborgenen Mut entdeckt. Das war allerdings typisch Star Trek, nämlich voller Optimismus von Lösungen zu erzählen, wenn es um die Bewältigung persönlicher Limits und Handicaps geht.
An den darstellerischen Leistungen des Casts gab es trotz einiger hölzerner Dialoge also wenig auszusetzen. Alle meisterten ihre Doppelrollen im Spiegeluniversum ausgezeichnet. Mal witzig, dann wieder brutal und niederträchtig, auf jeden Fall aber virtuos. Michelle Yeoh als Imperatorin und Jason Isaacs schienen in ihren neuen Rolle sehr viel Spaß zu haben, aber wir wissen ja: Schurken spielen macht immer Spaß.

Am eindrucksvollsten war Shazad Latif. Er meisterte überzeugend die Doppelrolle als genetisch manipulierte Klingone Voq, der als Sicherheitschef Ash Tyler (auch das hatten die Fans schnell herausgefunden) die Discovery unterwandern sollte - das Portrait einer qualvollen Persönlichkeitsspaltung, mit der die düstere Grundstimmung der Serie verstärkt wurde. Voqs aka Tylers Entlarvung bedeutete dann auch folgerichtig das tragische Ende seiner Romanze mit Michael Burnham (Sonequa Martin-Green). Überhaupt waren emotionale Beziehungen, auch im Spiegeluniversum, und ihr deprimierendes Scheitern das heimliche Nebenthema der Serie.


Aber dem vorhandenen Potential der Serie kamen immer wieder die Drehbücher in die Quere. Hier herrschte regelmäßig ärgerliche Konfusion. Logiklöcher und fehlende Glaubwürdigkeit strapazierten den Wunsch nach einer stimmigen Handlung.
Die letzte Episode (1x15: „Will You Take My Hand?“) zeigte stellvertretend, wie nahe Glanz und Elend in der neuen Serie beieinanderliegen. Als Autoren hatten sich Gretchen J. Berg und Aaron Harberts etwas Besonderes ausgedacht. Beide waren nach Bryan Fullers Rückzug aus der Serie die neuen Showrunner und hatten bereits für die Episoden 2, 3 und 5 die Scripts geschrieben. 

Als fulminanter Cliffhanger der vorletzten Episode wurde die auf der Discovery zunächst unter Arrest stehende Imperatorin Georgiou urplötzlich zum Fake-Captain der Discovery gemacht. Ein gelungener Schachzug, da man gespannt sein durfte, wie eine Figur aus dem Spiegeluniversum, der es dort gelungen war, die Klingonen vollständig niederzuwerfen, dieses Problem in einer ihr unbekannten Welt lösen würde.

Die Umsetzung dieses Plot Twists begann vielversprechend, endete dann aber mit einem Fiasko. Als Plot Twist hatten sich Berg und Harberts ausgedacht, dass die Discovery zu einer militärischen Erkundungsmission zum klingonischen Heimatplanten Qo’noS aufbrechen soll, heimlich hatte man jedoch eine Hydro-Bombe ins Reisegepäck der Imperatorin gesteckt. Sie sollte Qo’noS vollständig vernichten.


Die Idee war tatsächlich nachvollziehbar. „Will You Take My Hand?“ wollte einerseits eine sublime Täuschungsgeschichte mit einer erneut in ihrer Doppelrolle glänzenden Michelle Yeoh erzählen, andererseits sollte das moralische Problem eines Genozids mit Massenvernichtungswaffen verhandelt werden. Also musste sich nicht nur die Föderation, sondern auch die Besatzung der Discovery der Frage nach ihren essentiellen Werten stellen. Eigentlich ein Star Trek-typisches Thema...


Leider verlor sich die Episode dann in pittoresken Bildern eines klingonischen Planeten, auf dem trotz der hundertjährigen Kontaktsperre und trotz der rassistisch-fremdenfeindlichen Agenda der Klingonen alles so aussah wie in einer Multi-Kulti-Gesellschaft, in der auch irdische Würstchenbuden-Besitzer scheinbar problemlos ihren Geschäften nachgehen können.
 Das sorgte für einige witzige Szenen, nahm aber das Tempo aus der Episode. Der Rest wurde dann etwas gehetzt abgewickelt.
Noch abstruser als dieses Plot Hole wirkte dann die Auflösung: Nachdem Michael Burnham der irdischen Oberbefehlshaberin Admiral Cornwall kräftigt ins Gewissen geredet hat, wird die Hydro-Bombe ausgerechnet der auf der Discovery in ihrer Arrestzelle schmorenden und von
Georgiou gefolterte Klingonin L’Rell ausgehändigt. Der gelingt es tatsächlich, die klingonischen Kriegsschiffe, die sich auf den finalen Schlag gegen die Erde vorbereiten, zum Abdrehen zu bewegen. 
Wie ist das möglich? Es reichen dazu offenbar flammende Rhetorik und eine Fernbedienung, die man in der Hand hält. Selbst wer guten Willens war, dürfte dieser Handlungsentwicklung – gelinde gesagt - wenig abgewonnen haben, war doch die neue Friedensstifterin L’Rell bis zum Schluss eine glühende Verfechterin der klingonischen Vernichtungsagenda. 

Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Immerhin durfte am die nun vollständig rehabilitierte Michael Burnham eine glühende Rede vor dem Rat der Föderation halten, in der die wahren Werte und Ziele der Föderation der Planeten pathetisch beschworen wurden. Dann wurden Orden an die Crew verteilt. 

Das war typisch Discovery: eine gute Ausgangsidee, der eine holperige Umsetzung folgt, bevor am Ende der Kerngedanke serviert wird. Damit gelang es den beiden Showrunnern Berg und Harberts immerhin,  die überwiegend militante Story der ersten Staffel in den humanistisch geprägten Kanon der Welt Gene Roddenberrys zurückzuführen. Allerdings auf Kosten der erzählerischen Konsistenz und damit unter schweren Opfern.



Einen Kanon gibt es nicht: die Reise kann weitergehen

Star Trek ist nicht mehr Star Trek.
Würde diese Einschätzung einiger Kritiker stimmen, dann müsste erst einmal geklärt, wer denn nun die Deutungshoheit besitzt. Star Trek ist mittlerweile ein universelles Kulturgut geworden, das aufgrund seiner humanistischen Grundierung so beliebt ist. 
Star Trek funktioniert mit diesem Spirit auch in unseren komplizierten Zeiten immer noch recht gut und dazu beinahe anti-zyklisch, und das auch wegen der immer zynischer werdenden Sci-Fi-Dystopien, die Kinoleinwände und unsere Bildschirme besiedeln und eigentlich nichts Neues mehr zu erzählen haben.


Der utopische Gegenentwurf, den Star Trek zu bieten hatte, ist zu wichtig, um beschädigt zu werden. Meinen die Fans, und da ist eine Menge Wahres im Spiel. Und richten soll dies eigentlich der  „Kanon“. Und so war es kein Zufall, dass die Executive Producer Akiva Goldsman und Alex Kurtzman im September 2017 auf einer Pressetour durch die USA den Fans erklären wollten, dass die Discovery auf keinen Fall den Kanon beschädigen wolle. Kurtzman erklärte vielmehr, dass man davon erzählen will, wie die Werte, für die Star Trek steht, überhaupt entstehen konnten.
„Over the course of the show, what was theory became canon. Part of what we've tried to do is speak to how those philosophical presets became to be. ...We're trying to find out who we are as a federation and as a coalition of people in the face of adversity. It is entirely the outcome of the show to arrive at the principals that I think are endemic to Star Trek."



Star Trek ist transmedial: Laufend kommt Neues hinzu

Doch was ist eigentlich der Star Trek-Kanon? Eine Zusammenstellung der wichtigsten Bücher kann zum Beispiel ein Kanon sein. In Deutschland hat der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki vor Jahren eine Liste zusammengestellt – Bücher, die man lesen muss, um mitsprechen zu können.
Mit Star Trek ist das nicht so einfach zu machen. Der Star Trek-Kosmos ist transmedial, mit anderen Worten: neben den Serie und Kinofilmen gibt es eine erfolgreiche Zeichentrickserie und zahllose Bücher, Comics und Videospiele, in denen die Geschichte(n) weitergesponnen werden. 
Transmediales Storytelling fügt dem Vorhandenen aber immer mehr hinzu, sodass nur die hartnäckigsten Trekkies in der Lage sind, alle Bücher, Comics, Filme und Serien zu rezipieren, ohne den Überblick zu verlieren. Hier sorgt ein Kanon weniger für ein Inhaltsverzeichnis, sondern für Geschlossenheit, Deutung und Struktur.


Natürlich soll transmediales Storytelling auch Bindungskräfte erzeugen und die Fans bei der Stange halten, aber diese Strategie führt auch dazu, dass sich die Fans auflehnen, wenn der Geist des fiktiven Universums, die Traditionen und damit der Kanon verletzt werden. Dies zwingt Medienmacher zu erhöhter Aufmerksamkeit, setzt sie sogar unter Druck, denn ohne passable Quoten und Umsatzzahlen droht schnell das Aus. Fehleinschätzungen können abrupt ein Franchise ruinieren, ebenso das Ausbleiben neuer aktueller Angebote. Dies erzeugt Fliehkräfte und ohne sie wären nie die zahlreichen alternativen Star Trek-Filme entstanden, die in den letzten zehn Jahren von Fans finanziert und von den Rechteinhabern respektvoll geduldet wurden und werden. Sie sollten die Geschichte im Sinne des Kanons weitererzählen und Lücken schließen.


Man kann den Star Trek-Kanon also als chronologisch genaue Zusammenstellung der historischen Fakten verstehen, die bislang im transmedialen Star Trek-Universum existieren und fortlaufend neu erzeugt werden. Der Kanon ist also die Simulation eines historischen Standardwerks, das quellenbasiert gesichertes Faktenwissen zusammenträgt und durch eine deutende Interpretation Widersprüche aufdeckt, aber auch eine hohe Evidenz erzeugen will. Der Kanon entscheidet auch darüber, was erzählt werden darf und was nicht.

Was denn nun zum Star Trek-Kanon gehört, bestimmen aber nicht nur die oft zitierten Trekkies, die zur Pflege ihrer Traditionskriterien umfangreiche Fan-Wikis unterhalten, Fanfiction schreiben oder eigene und erstaunlich professionelle Filme produzieren, sondern auch die Produktionsgesellschaften wie Paramount oder CBS, die Showrunner der alten und neuen Serien, die TV- und Buchautoren und alle weiteren Akteure im transmedialen Star Trek-Kosmos.
So definierte Gene Roddenberry zum Beispiel recht früh und ziemlich kompromisslos, dass die Trickserie „Star Trek: Die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise“ definitiv nicht zum Kanon gehört. Ansonsten hielt sich Paramount bei der Produktion der Originalserie zurück, aber „The Original Series“ war in den 1960er Jahren noch kein Mythos, sondern eine x-beliebige Sci-Fi-Serie für ein junges Publikum.


Als Roddenberry der Durchbruch gelungen war, sollte sich das ändern. Auf der offiziellen „CBS Paramount“-Website startrek.com zählten danach für lange Zeit nur die TV-Serien und die Kinofilme zum Kanon. Ausnahmen wurden explizit genannt, dazu gehörten auch zwei Romane aus dem „Voyager“-Segment.
Den Kanon konnte man auch in die Hand nehmen – als Buch. Dazu zählten die offiziell abgesegneten Bücher „Federation: The first 150 Years“ (1996) von Davis A. Goodman und besonders Michael Okudas „Star Trek Chronologie“, die ebenfalls 1996 verfasst und später von Okuda durch eine „Star Trek Encyclopedia“ ergänzt wurde. Hier wurde für alle Ewigkeit festgelegt, was und warum etwas passiert war.

Aber ein Kanon ist nicht in Stein gemeißelt. Und so wurde Davis A. Goodman mitgeteilt, dass sein Buch nur solange Kanon sei, wie niemand etwas filmt, das dem widerspricht. Und Alex Kurtzman, einer der Executive Producer von STD führte als Kommentar zum Cliffhanger der neuen Serie eine weitere Definition ein: "Ich kann nur sagen: Wenn wir Figuren aus der originalen Serie in ‚Star Trek: Discovery‘ einführen, müssen sie in den Kanon unserer Serie passen.“

Aber damit hatten die Macher von „Star Trek: Discovery“ unmissverständlich klargemacht, dass sie die Deutungshoheit über die von allen Fans lange erwartete neue Star Trek-Serie nicht aus der Hand geben wollen. Und so definierten Akiva Goldsman und Alex Kurtzman auf ihrer Presstour ziemlich unmissverständlich, was nicht zum Kanon gehört: die Kelvin-Zeitlinie von J.J. Abrams und (fast alle) Bücher, abgesehen von einigen Elementen, die den Machern interessant genug erschienen.

Fandom, Fanon, Head Canon und Redcons

Aber die Zeiten hatten sich geändert. In der schönen neuen digitalen Welt lassen sich die Rezipienten ihre ganz persönlichen Wahrheiten nicht so schnell ausreden. Medienspektakel werden mit unerhörter Multiplikationskraft in den sozialen Netzwerken diskutiert. 
Nicht nur im Falle von Star Trek gehört auch ein Phänomen dazu, das nur schwer zu greifen ist. Es ist ein sogenannter Medien-Tropus, der als „Fandom“ bezeichnet wird und die Gesamtheit der Aktivitäten von Fans zuammemfasst, die sich in einer Art von Subkultur mit einer Buch-, Film oder TV-Serie beschäftigen. Dazu gehört auch Fanfiction, also Bücher, die von Fans geschrieben werden. Beispiel: Novels, die Anfang des 20. Jh. von begeisterten Anhängern über neue Abenteuer von Sherlock Holmes geschrieben wurden.

Ein populäres und erfolgreiches Projekt ist
„Star Trek - New Voyages: Phase II". Fans produzieren komplette Serien, die die Geschichte(n) von „The Original Series“ (TOS) fortsetzen. Dabei arbeitet man sogar mit noch lebenden Mitgliedern der alten Crew zusammen (Walter Koenig aka Chekhov, George Takei aka Sulu, Denise Crosby aka Tasha Yar), die an den Scripts mitarbeiten oder sogar ihre alten Rollen einnehmen. Die Effekte werden von Profis gestaltet, häufig sind es solche, die bei den alten Star Trek-Staffeln mitgearbeitet haben. Es sind Pastiches, die nicht nur eine liebevolle Hommage sein wollen, sondern neue und zeitgemäßte Themen im Geist des Wertekanons der alten Serie erzählen möchten. In diesen Fanfiction-Projekten wurde zum Beispiel Homosexualität bereits thematisiert, bevor überhaupt von „Star Trek: Discovery“ die Rede war. Ein schönes Beispiel dafür, dass Ideen aus dem Fandom im 'offiziellen' Kanon aufgenommen wurden.
Mittlerweile wird in
„Star Trek - New Voyages" auch die Geschichte der Enterprise weitererzählt. Im Juni 2016 wurde Jürgen Kaisers Geschichte "Enterprise II: Der Anfang vom Ende" präsentiert, eine animierte Folge, die es effekttechnisch locker mit „Star Trek: Discovery“ aufnehmen konnte und so humorvoll und witzig erzählt wurde, dass man mehr vom alten Charme spürte als im Relaunch von CBS.

Ein Fanprojekt, dessen Look herrlich Retro ist, kam auf elf Episoden:
„Star Trek Continues". Dieses Fanprojekt hat Erstaunliches geleistet: Settings wie bei TOS, zum Teil professionelle Darsteller, das Film Shooting und die Montage wie in der Originalserie. An dem Projekt haben sich u.a. Michael Dorn (Worf), Marina Sirti (Deanna Troi) und John de Lancie (Q) beteiligt. „Star Trek Continues“ produzierte keinen laienhaften Home Videos, sondern ist ein durchweg spannendes und glaubwürdiges Fanprojekt, das TOS stimmungsvoll weitererzählt. Dieser Enthusiasmus hat eine Menge mit „Fanon“ zu tun.

Fanon
ist ein Phänomen, bei dem durch Fans oder Fanfiction den Figuren oder anderen Sachverhalten der Serienwelt neue Attribute hinzugefügt werden, die von allen anderen akzeptiert werden und Teil des im Fandom etablierten Kanons werden.

Head Canon meint dagegen persönliche Ansichten und Überzeugungen einzelner Fans. Dabei handelt es sich um sehr individuelle Sichtweisen, die von Fans gepflegt und für authentisch gehalten werden, auch wenn dies im Widerspruch zum offiziellen Kanon steht. Der Head Canon (auch Personal Canon genannt) ist meiner Meinung nach ein komplexes, aber wichtiges Phänomen, da es rezeptionsästhetisch zur Quelle führt: nämlich zu den singulären und damit einzigartigen Wahrnehmungen, die Zuschauer in einem Serienkosmos entwickeln. Allerdings können sie, falls sie erfolgreich kommuniziert werden, zu einem etablierten Bestandteil des Fanons werden.

Zu dieser Vielfalt gehören auch alternative Deutungen und Umdeutungen des Quellmaterials. Dazu gehören auch die
„Redcons“ (Retroactive Continuity). Hier werden neue Fakten der bereits fest im Kanon etablierten Realität hinzugefügt, die zu einer völligen Neubewertung der allgemein akzeptierten Continuity führen. In der Serie „Two and a Half Man“ starb in der neunten Season eine Hauptfigur, die aber einige Staffeln später wieder auftauchte. Dies wurde zwar erklärt, führte aber zu einem völlig Reboot der Continuity, da nun auch alle zurückliegenden Ereignisse neu bewertet werden konnten/mussten.
Redcons
sind wie wie alle anderen Eingriffe und Erweiterungen der Diegese so bunt, dass darüber vergessen wird, dass ein Kanon seinem Wesen nach eigentlich die Vielfalt eindämmen und die Deutungspluralität durch verbindliche Evidenz kontrollieren möchte.

Tatsächlich findet aber das Gegenteil statt und im Zeitalter des Internets wurde eine Gegenwelt etabliert, die nicht zwangsläufig mit dem offiziellen Kanon der Produktionsgesellschaften wie CBS aneinandergeraten muss, aber möglicherweise aus anderen Gründen zum Ärgernis wurden. Bislang wurden die beiden erwähnten Fanprojekte geduldet, weil sie keine kommerziellen Absichten verfolgten. Nun ist es vorbei, sie wurden eingestellt. Der Grund: CBS hat als Rechteinhaber einige scharfe Restriktionen eingeführt, die eine Fortsetzung unmöglich machten. Neue Filme wird es nicht geben, die alten können weiterhin gestreamt werden und stehen auch zum Download bereit. Wann geschah dies? 2016, also passend zu den Planungen der neuen Serie
„Star Trek Discovery“. Ein Schelm, der Böses dabei denkt...
 Nun prallen die unterschiedlichen Lager aufeinander und der Streit um die richtige Interpretation des Kanons hat womöglich auch deswegen an Schärfe gewonnen, weil die Fanprojekte zuvor ihre Klientel so gut bedient hatten.
Aber es geht nicht nur um Showrunner vs Trekkies, auch die Fans sind gespalten. Eins sollte aber klar sein: Der Wunsch nach einem Regelwerk, das keine Verstöße duldet, ist paradox angesichts der zahllosen Akteure, die alle zu wissen glauben, was denn nun Kanon ist oder nicht.
Die kritischen Reaktionen auf „Star Trek: Discovery“ werden wenig Aussicht haben, sich erfolgreich auf einen kanonisch interpretierten Kanon zu beziehen. Auch den Machern von STD wird dies nicht gelingen. Es wurden bereits zu viele überflüssige Fehler begangen.
Einen strengen Kanon gibt es auch deshalb nicht mehr, da es eine Entscheidung des Zuschauers ist, ob er einen Phase II-Film zum Kanon zählt und gleichzeitig die aktuellen STD-Folgen komplett ignoriert (s.a. Head Canon).
Eher ist es so, dass alle Bemühungen um einen gültigen Kanon paradoxerweise die Diversität einer Sache betonen, die man nicht länger mit einem strengen Regelwerk unter seine Kontrolle bringen kann. 
Deshalb noch einmal zu den Klingonen: für Trekkies sind sie keine echten Klingonen, für Bryan Fuller waren dagegen die Klingonen à la Worf keine richtigen Klingonen. Diese Debatte ist reif für eine Endlosschleife.

Persönlich habe ich mich für den Kanon nie richtig interessiert. Wohl auch, weil ich einem Head Canon folgte. Wichtig waren für dort mich die exzellenten Einzelepisoden, die immer wieder in allen Serien auftauchten und Seriengeschichte geschrieben haben. Sie waren das Ergebnis eines exzellenten Scriptwriting. Deshalb war ich auch bereit, die vielen zweitklassigen Episoden zu vergessen oder zu ignorieren, die eben auch zu Star Trek gehören.
Vielleicht sollte man sich stattdessen kritisch damit auseinsetzen, ob die neue Serie ihre Geschichten nachvollziehbar und widerspruchsfrei erzählt und ob sie – auch ohne Kanon – ein wenig von den Ideen Gene Roddenberrys bewahrt, der zeitlebens von einer Utopie erzählen wollte und nicht von einer Dystopie. Einen intuitiven Kanon scheint es zu geben. Man spürt ihn, wenn sich etwas 'richtig' anfühlt.
Eine Rückkehr in die Erzählwelt der 1980er und 1990er Jahre kann man von einem TV-Relaunch nicht erwarten. Einen Bruch mit dem, was Star Trek war, darf es aber auch nicht geben. Wer trotzdem nicht mit der neuen Serien klarkommt, greift wie L’Rell einfach zur Fernbedienung. Und benutzt sie.



Trivia

Die Verstöße gegen den Kanon werden in den Foren mit großer Verbitterung geführt. Einige Zuschauer sehen das recht entspannt, werden aber von konservativen Trekkies in die Schranken gewiesen. Dies sind die wichtigsten Verstöße:


  • Der Sporenantrieb
    Experimentell wird der Sporenantrieb auf der USS Discovery und der USS Glenn erforscht. Auf der Discovery untersucht Paul Stamets die Funktionsweise des Pilzes prototaxites stelleviatori mithilfe eines überdimensionalen Bärtierchens, bevor er ein genetisches Experiment vornimmt und die ca. 90 Lichtjahre weiten Sprünge nun selbst durchführen kann. Der Sporenantrieb wird aber in allen Serien, die nach den Ereignissen auf der Discovery spielen, nie mehr erwähnt, obwohl dieses Wissen für die
    „Star Trek: Voyager“ von entscheidender Bedeutung gewesen wäre. Zudem werden im Star Trek-Universum immer alternative Antriebstechnologien eingeführt, sodass das Verschwinden des Sporenantriebs nicht logisch begründet werden kann.
  • Genetische Experimente
    Die von Paul Stamets durchgeführten genetischen Selbstversuche verstoßen explizit gegen ein Verbot der Föderation, werden aber von der Sternenflotte wohlwollend geduldet. Das Verbot genetischer Versuche an Menschen ist seit den Eugenischen Kriegen in den 1990er Jahren ein fester Bestandteil des Kanons, u.a. weil dieses Verbot immer wieder in unterschiedlichen Staffeln auftaucht, zum Beispiel in
    „Star Trek: Deep Space Nine“ oder „Star Trek: Enterprise“.
  • Holodeck
    In DTS sieht man Lorca und Tyler in einer Simulationsumgebung während einer militärischen Trainings. Das Holodeck wird allerdings erst 100 Jahre nach den Ereignissen auf der Discovery eingeführt. So ist Commander Ryker (
    „Star Trek: The Next Generation“) angenehm überrascht, als er auf der Enterprise-D ein Holodeck vorfindet.
  • Tarntechnologie
    In STD verfügen die Klingonen über eine Tarntechnologie. Die Technologie, mit der Raumschiffe unsichtbar gemacht werden können, wird allerdings erst nach den Ereignissen auf der Discovery von den Romulanern entwickelt.
  • Tribbles
    In der beliebten TOS-Episode
    „The Trouble with Tribbles“ reicht ein Exemplar aus, um zu einer sprunghaften Vermehrung der Population zu führen. In STD besitzt Captain Lorca eines dieser niedlichen Pelztierchen, aber eine Reproduktion ist nicht zu beobachten. Zudem quietscht das Tribble nicht, obwohl sich Tyler aka Voq in seiner Nähe befindet. Und Tribbles quietschen nun einmal, wenn Klingonen in ihrer Nähe sind.
  • Michael Burnham ist die Stiefschwester von Spock
    Übel genommen wurde auch die Erweiterung der Familiengeschichte des Vulkaniers Sarek. STD erzählt davon, dass Michael Burnham von Sarek adoptiert wurde und vulkanisch erzogen wurde. Sie ist daher die Stiefschwester Spocks, wird aber in keiner Star Trek-Serie erwähnt. Dieser Retcon (radikale Veränderung einer etablierten Information innerhalb des Kanons) wirkt auch deshalb paradox, weil Burnham im irdisch-klingonischen Krieg eine entscheidende Rolle spielt und danach scheinbar aus den Geschichtsbüchern verschwunden ist.
Andere Kritikpunkte beziehen sich auf Uniformen, Rangabzeichen oder das Design der Raumschiffe. Diese Probleme sind dem Umstand geschuldet, dass „Star Trek: Discovery“ ein weiteres Prequel der Originalserie ist. Dies löst unvermeidbar eine Reihe temporaler Paradoxien aus, um es im Star Trek-Jargon zu formulieren. Eine Verlagerung der Handlung ins 25. oder 26. Jh. hätte die Probleme vermieden, obwohl ein Kritiker meinte, dass ein derartiges Projekt erst recht die Macht des Kanons spüren würde.

Das grundlegende Probem ist aber, dass der Kanon eine Betrachtungsweise ist, die aus einer Fiktion eine Art von Pseudo-Realität macht und daher glaubt, man könne ein jahrzehntelanges Worldbuilding und damit die Gesamtheit des Serienkosmos mit emprischen Methoden in ein konsistentes Geschichtsbild verwandeln.
Aber Fiktionen erzeugen keine Fakten und Informationen im engeren Sinne. In der realen Welt werden Fakten durch die Gesetze der Kausalität determiniert. In Fiktionen werden sie simuliert, häufig willkürlich erfunden und sind immer das Ergebnis eines guten oder schlechten Scriptwritings.
Bestensfalls halten sich die Autoren dabei an die Gesetze der Naturwissenschaft, wesentlich häufiger werden diese Gesetz aber ad absurdum geführt. Besonders natürlich beim Worldbuilding in der Science-Fiction. So leugnen die Vulkanier beispielsweise in
„Star Trek: Enterprise“ die Möglichkeit und Existenz von Zeitreisen, während die Serie danach lustvoll das Gegenteil 'beweist'.
Auch der Vergleich des Warp-Faktors mit der Lichtgeschwindigkeit wurde allein an verstreuten Bemerkungen festgemacht, die von unterschiedlichen Autoren in die Scripts hineingeschrieben wurden. Aus diesen zufälligen Anmerkungen wurde dann die Umrechnung abgeleitet. Da hilft es nicht wirklich, wenn beispielsweise die WIKIPEDIA die Kategorie 'Kanonische Referenz' einführt und festlegt, dass Warp X einer y-fachen Lichtgeschwindigkeit entspricht.

Alles bleibt auch danach ein Puzzle, das sich einer empirischen Überprüfung entzieht. Eine grundsätzliche Erzähllogik in einer Serie ist absolut wünschenwert, muss aber nicht mit einem Kanon begründet werden. Es gibt andere Kriterien, mit denen argumentiert werden kann. Bei groben Logikverstößen kann ein Kanon allerdings wichtig sein. Mit Details sollte man sich aber nicht herumschlagen.