Samstag, 23. Juni 2018

Reise in die Kälte II: Der Neo-Western „Wind River“

Im ersten Teil der „Reise in die Kälte“ habe ich vom zivilisatorischen Showdown in der arktischen Kälte berichtet, und damit auch von der Auflösung der zivilen Ordnung. Im Neo-Western „Wind River ist die Natur genauso unbarmherzig wie in der AMC-Serie The Terror", die Menschen sind es auch, aber die Ordnung wird in Taylor Sheridans Film auf biblische Weise wiederhergestellt. Der Geheimtipp des letzten Kinosommers ist seit Anfang Juni als Bluray, DVD und als Stream verfügbar. Man sollte ihn sich nicht entgehen lassen.

„Wind River“ ist die erste Regiearbeit von Taylor Sheridan. Sheridan hat für Denis Villeneuve das Drehbuch für den Drogen-Thriller „Sicario“ geschrieben. Wenn Benicio del Toro dort nach dem blutigen Ende seiner Kollegin rät, in eine Stadt zu ziehen, in der Recht und Ordnung herrschen, dann könnte er wohl nicht die Wind River Indian Reservation in Wyoming gemeint haben. 



Dort leben die American Natives, wie Indianer heute politisch korrekt heißen, am Rande der Gesellschaft. Arm, alkoholisiert oder drogenabhängig, und die einträglichen Spielcasinos der Stämme sind auch nicht in Sichtweite. 

Vielleicht könnte der von del Toro gespielte und moralisch mehr als ambivalente Alejandro, der in
„Sicario“ mit allen Seiten kooperiert, aber auch die Menschen meinen, die in Wyoming ein knochentrockenes Rechtsgefühl haben. Zu ihnen gehört Cory Lambert (Jeremy Renner), ein Profijäger und Spurenleser, der ganz am Ende von „Wind River“ den einzigen überlebenden Täter suchen wird und seiner Partnerin versichert, dass er ihn finden, aber nicht zurückbringen wird. Die von Elizabeth Olsen gespielte FBI-Agentin hat die bitterkalte winterliche Eiswüste Wyomings mittlerweile als ziemlich darwinistisches Terrain akzeptiert und nickt nur mit dem Kopf. Vielleicht sieht Gerechtigkeit genauso aus.

Vielleicht sieht Gerechtigkeit auch so aus wie „Hell or High Water“ von Davis Mackenzie, einem Film, für den Taylor Sheridan ebenfalls das Drehbauch geschrieben hat. Dort scheint der von Jeff Bridges gespielte Texas Ranger am Ende Respekt für die Motive eines Bankräubers zu entwickeln und lässt ihn davonkommen. Der wollte die Farm seiner Eltern vor den Banken retten und hat sie deshalb ausgeraubt. Ein
störrisches Gerechtigkeitsgefühl.


Gerechtigkeit

„Hell or High Water“, ein 2016 in die Kinos gekommener und extrem populärer Neo-Western, zeigte, was Taylor Sheridan interessiert: Männer, die aus guten Gründen das Falsche tun und sich mit Gewalt nehmen, was sie für gerecht halten. Ganz so extrem ist Cory Lambert in „Wind River“ nicht, aber auch er weiß, was er tun wird. Stoische Gesellen, die im Kopf ihre private Rechtsordnung herumtragen, sie gnadenlos umsetzen, dabei aber einen Rest an Fair Play bewahren. Man sollte aber nicht glauben, dass „Wind River“ ein Film über einen Vigilanten ist.

Taylor Sheridan erzählt in seiner ersten Regiearbeit seine Geschichte sehr straight. Und sehr langsam. Lambert findet während einer Suche nach Pumas die junge und sehr tote Natalie (Kelsey Asbille) im Schnee. Natalie ist vor etwas geflohen, dabei meilenweit und barfuß durch die eisige Kälte gelaufen. Bis ihr die Lungen bei Temperaturen unter minus 20 Grad platzten und sie in ihrem eigenen Blut ertrunken ist. Wir erfahren, dass Natalie die beste Freundin von Corey ermordeter Tochter war. Den Mörder hat man nie gefunden.
In der Eingangssequenz sieht man Natalie durch den Schnee rennen. Sie erinnert sich an einen Baum, ein Symbol der Ruhe und des Friedens, und sie ist glücklich, ihn gekannt zu haben. Später erfahren wir, dass dies der Baum ist, den Coreys Tochter für ein Gedicht gezeichnet hat, mit dem sie einen Wettbewerb gewonnen hat. Es sind keine unsichtbaren Fäden, die die beiden toten Frauen verbinden, nein, sie sind sehr gut wahrzunehmen. Zurückgeblieben sind zwei beschädigte Väter.


Der indigene Reservatspolizist Ben Shoyo (Graham Greene) zieht das FBI hinzu und kurz danach taucht die junge Agentin Jane Banner (Elizabeth Olsen) auf, die im verschneiten Wyoming wie ein Fremdkörper wirkt. Aber sie kämpft darum, den Fall als Mord zu deklarieren, um die Ermittlungshoheit des FBI nicht zu verlieren. Denn Natalie wurde vergewaltigt und Corey soll ihr bei der Suche nach den Tätern helfen. Schnell führt die Spur zum Sicherheitspersonal einer nahegelegenen Bohrfirma.



Magische Momente

Kompliziert ist „Wind River“ nicht. Der Film verzichtet auf investigative oder forensische Highlights und führt die Protagonisten gradlinig zum exzessiv gewalttätigen Showdown. Diesen Film hätte man mühelos mit einer Handvoll Genreklischees ruinieren können, aber Taylor Sheridan und sein Kameramann Ben Richardson machen aus dem Film eine kontemplative Studie über das Leben im Eis. Immer wieder erfährt der Zuschauer, dass es im winterlich und extrem dünn besiedelten Wyoming keine Hilfe gibt, es sei denn, man hilft sich selbst. Geredet wird nicht viel.

Auch Corey Lamberts Motive sind nicht komplex. Seine Ehe mit der Indianerin Wilma (Julia Jones) ist nach dem Tod seiner Tochter zerbrochen. Dass er jene finden muss, die für den Tod der besten Freundin seiner Tochter verantwortlich ist, steht ohne Zweifel fest. Und auch, dass er der Richter sein wird.
Das hört sich nach einer konventionellen Geschichte an. Aber Taylor Sheridan zeigt in seiner ersten Regiearbeit, dass er ein Meister der komplexen Charakterstudien ist, auch wenn man beim Zuschauen das Gefühl hat, dass alles eigentlich ganz einfach ist. Dies erschließt sich aber nicht durch kopflastige Dialoge, sondern durch das Schweigen, das den wenigen Worten, die gesprochen werden, ein besonderes Gewicht gibt. So entstehen dann magische Momente in dem Film, die sich einbrennen.


Magische Momente im Kino sind schwer zu beschreiben. Spürbar werden sie, wenn sie beim Zuschauer heftige Emotionen auslösen. Aber welche? Wut, Zorn und Empörung sind heftig, aber magisch sind sie nicht. Ein magischer Moment verzaubert dagegen, und das hat nichts mit Harry Potter zu tun. Diese seltenen Momente lassen den Zuschauer im Kino innehalten, irgendetwas hat ihn gestreift und vielleicht weiß er nicht einmal, was es genau gewesen ist. 

Ein wenig entzieht sich der magische Moment auch dem begrifflichen Verständnis. Es ist schwer zu sagen, was Zuschauer fasziniert, wenn Robert de Niro als Travis Bickle in „Taxi Driver“ vor dem Spiegel sich selbst  „Are you talkin‘ to me?“ fragt. Es müssen also nicht unbedingt Emotionen sein, die man im Allgemeinen genau zuordnen kann. Auch eine Irritation genügt, um spätesten beim zweiten Hinschauen die Tiefe des Moments erneut zu erfahren. Dann spürt man, dass magische Momente den Zuschauer zur Essenz einer Figur führen, zu dem, was eine Figur zusammenhält, zu dem, was darüber entscheidet, was sie tun wird. Und häufig sind diese Figuren Grenzgänger.



In „Wind River“ sind es zwei Begegnungen, die solche Momente evozieren. Eingeleitet werden sie, als Jane Banner den Vater der toten Natalie, Martin Hanson (Gil Birmingham), und seine Frau aufsucht. Chief Ben Shoyo ist anwesend und beide Männer reagieren reserviert auf die Fragen der FBI-Agentin. Hanson wirkt dabei gefasst und sogar ein wenig arrogant, auch als Banner seine Frau zu sehen wünscht. Er mokiert sich sogar über die junge FBI-Agentin, die er als fast erwachsen bezeichnet. Banner geht ins Schlafzimmer der Hansons und findet dort Hansons Frau vor, die sich schluchzend mit einem Messer Verletzungen zufügt. Sie macht auf dem Absatz kehrt und erkennt an der Mimik der beiden Männer, dass sie das, was sie vorgefunden hat, eigentlich hätte wissen müssen. 

Banners Verhalten war aus ihrer Sicht allerdings folgerichtig, tatsächlich hat sie ein culture gap sichtbar gemacht. Jene systemische Dissonanz, die dann entsteht, wenn jemand Regeln, Werte und Verhaltensformen einer anderen Kultur nicht kennt. Einfacher formuliert: Sie ist in ein Fettnäpfchen getreten. 


Kurz danach steht Lambert vor der Tür. Hanson tritt zu ihm auf die Veranda, die beiden Männer umarmen sich schweigend. Dann sackt Hanson in sich zusammen, völlig überwältigt von seiner Trauer. Kameramann Ben Richardson zeigt die folgende Einstellung als seitliches Halbnah. Es gibt nur wenige Schnitte, aber während der Szene kommen sich beide Männer räumlich immer näher. Cory Lambert erzählt seinem Freund, dass er die Trauer nie mehr loswerden wird. Er selbst habe aber nach dem Verlust der eigenen Tochter einTrauerseminar besucht und die Worte des Therapeuten nicht vergessen können. Man müsse die Wucht der Trauer zulassen, denn nur so könne man die Erinnerungen an den verlorenen Menschen bewahren und auch zu sich selbst finden.

Jeremy Renner spielt dies brillant als Mischung aus brutaler Ehrlichkeit und unbegrenzter Freundschaft. Abgesehen von Renners Ausdrucksstärke ist dies ein zweiter magischer Moment, der konsequent auf dem vorangegangenen aufsetzt.
Die emotionale Reaktion der Männer ist bewegend, aber dies ist nicht einmal das Wichtigste. Sichtbar werden gleich mehrere Dinge. Zum einen lässt der Vater des toten Mädchens über alle ethnisch-kulturellen Grenzen hinweg die Intimität eines Gespräches zu, zu dem er wenig beisteuert. Zum anderen wird erkennbar, dass Cory Lambert, der ansonsten nicht viele Worte benötigt, in der Lage ist, ein culture gap zu vermeiden. Er ist als Teil einer sozialen Gemeinschaft mit gewachsenen Vertrauensverhältnisse gar nicht in der Lage wäre, ein solches zu erzeugen. 

Dies wiederum lässt ethnische Grenzen als bedeutungslos erscheinen, denn über die Männerfreundschaft hinausgehend verbindet Cory Lambert und Martin Hanson etwas sehr Spezifisches, in dem die unterschiedlichen kulturellen Wurzeln offenbar mühelos integriert werden können. Das hinterlässt einen tiefen Eindruck.

Dass Lambert seinem Freund verspricht, den Mörder seiner Tochter unverzüglich zu töten, erhält dadurch eine innere Logik, die man als Zuschauer nicht mehr hinterfragen möchte. Zweifellos ein magischer Moment. Und wenn Jane Banner am Ende von Lambert erfährt, dass dieser den letzten überlebenden Mörder von Natalie verfolgen und fassen, aber nicht zurückbringen wird, protestiert die Agentin nicht.


In Taylor Sheridans fast perfektem Film gibt es nur eine Schwachstelle: Sheridan zeigt ausführlich die Vorgänge, die Natalies Flucht vorangegangen sind. Die Täter sind viehisch vorgegangen, sie haben vergewaltigt und gemordet, ohne Zweifel, aber beim Zuschauen beschleicht einen das Gefühl, dass Sheridan sich hier die moralische Absolution für alles abholt, was danach geschehen wird. Ausreichende Beweise gab es nämlich, ein Geständnis eingeschlossen. Ohne diese Szene wären Corey Lamberts Handlungen ambivalenter und damit spannender gewesen. Aber perfekte Filme sind selten und „Wind River“ bleibt trotz dieses Einwands ein Solitär in der Kinogeschichte.


Noten: BigDoc = 1, Klawer, Melonie = 1,5


Wind River – USA 2017 – Buch, Regie: Taylor Sheridan – Laufzeit: 107 Minuten – FSK: ab 16 Jahren – Kamera: Ben Richardson – D.: Jeremy Renner, Elizabeth Olsen, Gil Birmingham, Julia Jones, Graham Greene.