USA / Deutschland 2011 - Regie: Lana und Andy Wachowski, Tom Tykwer - Darsteller: Tom Hanks,
Halle Berry, Jim Broadbent, Hugo Weaving, Jim Sturgess, Doona Bae, Ben Whishaw,
Zhou Xun, Susan Sarandon, Hugh Grant - FSK: ab 12 - Länge: 172 min.
Wenn das letzte Kapitel von
„Cloud Atlas“ erzählt wird, befinden wir uns nicht mehr auf der Erde. Am Himmel
stehen ein fremder Mond und ein großer Nachbarplanet, aber am Lagerfeuer sitzen
einige Kinder und ein Opa, der wie Tom Hanks aussieht und der den Kleinen seine
alten Geschichten erzählt. Irgendwo, einige Lichtjahre entfernt, glitzert ein
kleiner blauer Punkt, auf den der Alte mit dem Finger deutet: da ist die Erde, da kommen
wir her.
"Was aber ist ein Ocean anderes als eine Vielzahl von
Tropfen?" (David Mitchell aka. Adam Ewing)
Wir haben es also geschafft:
der Planet ist ruiniert, wir müssen unsere Zelte woanders aufschlagen.
Wie es dazu kommen konnte
und kommen wird, erzählen uns Andy und Lana Wachowski und Tom Tykwer mit der
nicht für verfilmbar gehaltenen Adaption des verschachtelten Romans „Cloud
Atlas“ von David Mitchell. Dass und wie wir unsere Zivilisation vor die Wand
fahren, ist im Buch und im Film eine überwiegend deprimierende Geschichte, in
der sich alles, was gut und schlecht ist im Menschen, quer durch die
Jahrhunderte wiederholt: Gier, Macht und Unterdrückung einerseits, andererseits
aber immer wieder Individuen (oder besser gesagt: Helden?), die sich gegen
Tyrannei, Rassismus, Dummheit oder das Böse schlechthin auflehnen. In dem sich
über fünf Jahrhunderten erstreckenden Epos sind sie dabei durch unsichtbare,
aber auch sehr greifbar- und hörbare Bande miteinander verbunden. Jede
Entscheidung, jede Handlung, auch die kleinste, hat Folgen für das Ganze und
möglicherweise wandern auch unsere Seele von Körper zu Körper und müssen immer
wieder nach einer Antwort auf die allertiefsten Fragen suchen.
So könnte man „Cloud Atlas“
in etwa zusammenfassen.
Seelenwanderung,
Spiritualität, Mystik, esoterischer Humbug? Oder schlichtweg größenwahnsinniges
Kino, das philosophische Binsenweisheiten als Tiefsinn verkaufen will und sich
durch die Geschichte nach dem Prinzip eines moralischen „Butterfly Effect“
(Richard Brody, The New Yorker) zappt? Hängt alles miteinander zusammen und
kann der kleinste Tropfen im Meer entscheidend dafür sein, was in ferner
Zukunft geschieht?
Wer Castaneda gelesen hat
und die Chaostheorie mag, wird mit Sicherheit einen Zugang zu „Cloud Atlas“ erhalten: Historie und
Selbsterkenntnis als großes Mirakel, kleine Ursache - große Wirkung. Der hartgesottene und naturalistisch
geschulte Cineast wird sich auf die ideologie- und zivilisationskritischen
Aspekte von Buch und Film stürzen und höhnisch anmerken, dass Hegels Weltgeist im Buch kräftig auf die Schnauze fällt, im Film allerdings etwas besser davonkommt.
So war das schon bei der
Matrix-Trilogie der Wachowskis: für jeden ist etwas dabei, für Nerds und
Cyberpunks, aber auch für den belesenen Bildungsbürger, der lieber zu ganz
anderen Schlüssen kommt.
Was für mich feststeht:
„Cloud Atlas“ ist grandioses emotionales Kino mit großartigen Bildern. Eine
cineastische Reise, die über fünf Jahrhunderte umspannt, enorm viel Spaß beim
Zuschauen macht und dabei kaum weniger ehrgeizig ist als die Deutung des
Matrix-Universums. Dieses hat allerdings ein Puzzle zur Deutung vorgelegt, das deutlich
intellektueller und komplizierter war und (sieht man vom ersten Teil ab) bei
der Kritik ebenfalls unter die Räder kam. Auch in der wirklichen Wirklichkeit wiederholt
sich scheinbar alles.
Sprünge durch Zeit und Raum – und durch die Genres!
Non-linear wurde die
Erzählweise von „Cloud Atlas“ bezeichnet. Das hört sich schlimmer an als es
ist, ein Film wie „Mr. Nobody" von Jaco Van Dormael (2010) ist da wesentlich komplexer. Ich räume aber ein, dass es von Vorteil ist, David Mitchells Buch zu kennen, bevor man sich „Cloud Atlas" ansieht.
Die Episoden werden in „Cloud Atlas" chronologisch erzählt, enthalten allerdings Rückblenden und Rahmenhandlungen. Achronologisch ist dagegen die Montage und das 'Springen' zwischen den Episoden. Dies erfolgt eben nicht linear, sondern entspricht eher den Prinzipien einer modernen Version der Eisensteinschen Assoziationsmontage: „Assoziationsmontage basiert auf der elementaren Fähigkeit des Menschen,
aus signifikativen Bruchstücken höhere Einheiten des Denkens zu
synthetisieren: Fügt man Einstellungen aneinander, die keine Handlung
gemein haben, keinen gemeinsamen Raum, keine Ähnlichkeit, stellt sich
doch der Eindruck eines Zusammenhangs her. Dabei treffen u.U.
Bedeutungen aufeinander, die – in Eisensteins Metapher – miteinander
kollidieren und dabei Bedeutungsimpulse freisetzen, die zu einem
Dritten, Nichtgezeigten voranschreiten" (Lexikon der Filmbegriffe: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=4585).
Non-lineares Kino ist nichts Neues: bereits 1941 hat Orson Welles in „Citizen Kane" eine Geschichte multi-perspektivisch und non-linear erzählt. Der Film floppte, das Publikum verfluchte den Regisseur. Zehn Jahre später gehörten Welles' Erfindungen zum 'normalen' Bestand einer Kinoerzählung, selbst Kinder verstanden auf Anhieb Rückblenden und „Citizen Kane" gilt heute als einer der besten Filme der Filmgeschichte, weil der die moderne Grammatik des Films definierte.
„Cloud Atlas“
erzählt (wie das Buch) sechs Geschichten, wobei die letzte Episode gleichzeitig die Rahmenhandlung bildet:
·
„The Pacific
Journal of Adam Ewing“ (Das Pazifiktagebuch des Adam Ewing),
·
„Letters from Zedelghem“
(Briefe aus Zedelghem“),
·
„Half Lives: The
First Luisa Rey Mystery“ (Halbwertszeiten – Luisa Reys erster Fall),
·
"The
Ghastly Ordeal of Timothy Cavendish" (Das grausige Martyrium des Timothy
Cavendish),
· „An Orison
of Sonmi~451" (Somnis Oratio)
· „Sloosha's
Crossin' an' Ev'rythin' After" (Sloosha’s Crossin’ un wies weiterging).
David Mitchells
„Wolkenatlas“ weist im Gegensatz zum Film eine klare Struktur auf, allerdings wird zunächst 'Vorwärts', dann 'rückwärts' erzählt:
·
1) Das
Pazifiktagebuch des Adam Ewing
·
2) Briefe aus
Zedelghem
·
3) Halbwertszeiten
– Luisa Reys erster Fall
·
4) Das grausige
Martyrium des Timothy Cavendish
·
5) Somnis Oratio
·
6) Sloosha’s
Crossin’ un wies weiterging
·
5) Somnis Oratio
·
4) Das grausige
Martyrium des Timothy Cavendish
·
3) Halbwertszeiten
– Luisa Reys erster Fall
·
2) Briefe aus
Zedelghem
·
1) Das Pazifiktagebuch
des Adam Ewing
Die Wachowskis und Tom
Tykwer haben in ihrer Adaption (die Karteikarten-Montage hat bereits
anekdotischen Wert) das Pferd also etwas anders aufgezäumt. Der sequentielle
Rhythmus im Film ist ein anderer, besonders am Anfang springt die Erzählung
sehr schnell durch die Geschichten, um das Personal zu etablieren, aber später
folgt „Cloud Atlas“ eher assoziativen und an zentralen thematischen
Motiven orientierten Verbindungen. Während das Buch den einzelnen Geschichten
einen größeren zusammenhängenden Erzählraum verschafft, montiert der Film alles etwas
durchlässiger: an den Schnittstellen und Übergängen werden die gemeinsamen Elemente der jeweiligen Geschichten deutlich.
Themen und Verknüpfungen in "Cloud Atlas"
- Trotzdem oder gerade
deswegen gewöhnt man sich relativ schnell an die Protagonisten: 1850, Pazifik: der Anwalt Adam Ewing wird während der Rückreise von einer neuseeländischen Inselgruppe von seinem Begleiter, einem Arzt, aus Habgier vergiftet. Ein zunächst als blinder Passagier mitreisender Eingeborener rettet ihm das Leben. Ewing, der anfänglich die Eingeborenen als "Thiere" bezeichnet, wird zu einem Gegner der Sklaverei.
Verknüpfung: Tagebuch. Genre/Sujet: Buch = Tagebuch, Film = Abenteuerfilm / Seereise.
- 1931, Großbritannien: Der schwule Komponist Robert Frobisher (sein Liebhaber ist Rufus Sixsmith) wird Assistent eines weltberühmten Komponisten und heimlicher Liebhaber von dessen Frau. Als der Komponist Frobishers eigenständiges Werk, das "Wolkenatlas-Sextett", für sich beansprucht und den Homosexuellen erpresst, begeht Frobisher Selbstmord.
Verknüpfung: eine Hälfte von Ewings Tagebuch, das Sextett, Frobishers Briefe. Genre/Sujet: Buch = Briefroman (klassische Erzählform des 17. und 18. Jh.), Film = Melodrama. Kulturelle Codierung: Frobisher benennt ein eigenes Werk nach Nietzsches Theorie der "Ewigen Wiederkunft".
- 1975, USA: die Journalistin Luisa Rey kommt einer Intrige auf die Spur - internationale Erdöl-Multis planen den Super-Gau eines Atomkraftwerkes, um die Konkurrenz loszuwerden. Rufus Sixsmith, mittlerweile Wissenschaftler, macht Luisa Rey auf die Enthüllungsstory aufmerksam, zudem bekommt die Journalistin Frobishers Briefe in die Hände und entdeckt eine Platte mit dem "Wolkenatlas-Sextett". Sixsmith wird zwar ermordet, Rey kann aber die Handlanger und Killer der Erdöl-Multis entlarven.
Verknüpfung: Frobishers Briefe, die Schallplatte mit Frobishers "Wolkenatlas"-Sextett und das Buch, dass der kleine Freund von Luisa als Erwachsener über sie schreiben wird: "Halbwertszeiten - Luisa Reys erster Fall". Genre: Buch = Hard-boiled Krimi (à la Mickey Spillane), Film = Paranoia Thriller.
Wir sehen: es sind nicht nur
Themen und Figuren, sondern auch Medien, die historische Schnittstellen bilden
und die Menschen miteinander verbinden. Bücher, Schallplatten, Filme – alles hängt
miteinander zusammen. Wem das bereits als esoterische Mysterymüll erscheint,
der sei daran erinnert, dass das preisgekrönte Holocaust-Drama „Sarahs
Schlüssel“ (F, 2010) auf ähnliche Weise erzählt wird.
Doch wohin führt dies?
- Fast vier Jahrzehnte später, nämlich 2012, wird der Verleger Timothy
Cavendish als Opfer einer Racheaktion seines Bruders in einem Altenheim eingesperrt, dass sich als makabrer
Rentnerknast entpuppt. Nach der erfolgreichen Flucht wird er seine Jugendliebe zurückerobern und das
Buch „Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall“ verlegen.
Verknüpfung: das Buch "Halbwertszeiten. Luisa Reys erster Fall", ein Kinofilm über seine Abenteuer (sieht man im nächsten Kapitel), Genre: Buch = Memoiren/Ich-Erzählung, Film = Komödie.
- Dann ein Sprung: Im Jahre
2144 befinden wir uns im koreanischen Neo-Seoul, wo der weibliche Klon
Sonmi~451 heimlich einen stark fragmentierten Film über die Abenteuer von Cavendish sieht. In einer pseudo-religiösen kapitalistischen Zukunftsgesellschaft gibt es wieder Sklaven (wie in Ewings Epoche), diesmal sind es in Bruttanks gezüchtete Klone, die mit Amnesie-Drogen künstlich dumm gehalten werden. Sonmi-451 wird von dem Mitglied einer Widerstandsbewegung befreit und entdeckt, dass Klone an ihresgleichen verfüttert werden (entsprechend dem Kannibalismus der letzten Episode). Vor ihrer Hinrichtung kann sie in einer weltweit übertragenen Ansprache ihr humanistisches Programm verbreiten. In einer Rahmenhandlung wird sie kurz vor ihrem Tod von einem Historiker des Regimes verhört.
Verknüpfung: der Kinofilm über die Abenteuer des Timothy Cavendish, schriftliche Fragmente ihrer Ansprache. Genre: Buch = Protokoll, Film = Science Fiction (Subgenre: Replikanten-Drama à la "Blade Runner"), kulturelle Codierung: Platons "Höhlengleichnis".
- Noch ein gewaltiger Sprung, 2346, Hawaii: in einer fernen Zukunft hat sich die Menschheit nach einem weltweiten Krieg fast vollständig ausgelöscht, die Strahlenbelastung ist enorm. Der Ziegenhirt Zachary lebt mit seiner Sippe in einem Tal der Insel, ständig bedroht durch eine Horde Kannibalen. Die "Prescients" sind die Nachkommen der untergegangenen Hochkultur: sie suchen nach einer Verbindung zu den menschlichen Kolonien auf anderen Planeten. Zachary überwindet seine atavistischen Ängste, hilft den Prescients und verlässt mit wenigen Überlebenden in einem Raumschiff den sterbenden Planeten. Am Ende sitzt er mit seinen Enkel am Lagerfeuer und erzählt seine Geschichte - Lichtjahre entfernt von der Erde.
Verknüpfung: Fragmente der Ansprache von Sonmi-451, die längst nicht mehr verstanden werden, Sonmi wird stattdessen als Göttin verehrt. Genre: Buch = Roman/Neusprech à la Orwell (das "Clever des Alten" = Technologie), innerer Monolog, Film = Science Fiction / Subgenre: dystopische Post-Apokalypse à la "Mad Max".
Eine Evolutionsgeschichte?
Während Mitchells Roman also
einem klaren Schema folgt, springen Tykwer und die Wachowskis elegant durch die
verschiedenen Jahrhunderte und verbinden die einzelnen Geschichten mit einem rhythmischen
Duktus, der vieles thematisch verknüpft, dann aber auch den Regeln von Tempo
und Entschleunigung gehorcht. Man hat das Gefühl, als sei David Lean in der
Post-Moderne angekommen: Helden und Bösewichter, ein großer epischer Atem, aber
alles halt nicht kontinuierlich erzählt, sondern scheinbar rätselhaft miteinander
verwoben, dass man beim ersten Mal das Gefühl hat, den Film gleich noch mal
anschauen zu sollen.
Das wichtigste Bindeglied
sind, und das ist einer von zwei großen Unterschieden zu Mitchells Roman, die
Darsteller: Tom Hanks spielt in 1849 den mörderischen Arzt Dr. Henry Goose und
verwandelt sich am Ende in den schlichten Ziegenhirt Zachary, dessen Taten dann
dabei helfen, die Reste der Menschheit zu retten. Auch in den anderen Episoden
hat Hanks einen Auftritt.
Halle Berry entwickelt sich
von einer Maori-Frau zu Meronym, einer Vertreterin der „Prescients“, die im 24.
Jh. noch Teile der untergegangenen Technologien beherrschen. Auch sie ist in
allen Episoden zu sehen, ebenso Jim Sturgess, der den Adam Ewing spielt. Nur
der großartige Jim Broadbent, der seine Kollegen streckenweise an die Wand
spielt, fehlt in einer Episode.
Nicht immer kann man
erkennen, wer da wen spielt, aber auch die maskenbildnerischen Tricks werden im
Abspann aufgeklärt und das macht zwar Spaß, aber so wichtig ist das eigentlich
nicht.
Die Mehrfachbesetzung der
Rollen (besonders bei den Hanks-Figuren) suggeriert, dass etwas Evolutionäres die
Figuren verbindet, die sich scheinbar in Richtung größerer moralischer
Integrität weiterentwickeln. Konterkariert wird dies allerdings durch die statische
Besetzung der ‚Bösewichter’: hier vertreten der Matrix-Schurke Hugo Weaving und
ausgerechnet Hugh Grant durchgehend das negative Prinzip, das mit einer fast
schon mythologischen Penetranz immer wieder das ‚Gute’ konterkariert. Das lernt
man schnell in „Cloud Atlas“: das Böse ist immer da und es folgt offenbar immer
dem gleichen Antrieb - mehr Geld, mehr Macht, aber auch die Sucht nach einer
gesellschaftlichen Ordnung, die ihre Stabilität mit Repression und Unfreiheit
verteidigt. Gleich mehrmals verteidigen die Herrschenden in „Cloud Atlas“ ihre
Ordnung als gott- oder zumindest naturgewollt.
Wer nun im Einzelnen welche
Geschichten erzählt hat, ist vielleicht nicht so wichtig, aber es scheint so,
als hätten Lana und Larry Wachowski die beiden Sci-Fi-Episoden und die
Geschichte des Adam Ewing gedreht, während Tom Tykwer die Realisierung des
Mittelteils (1936, 1973 und 2012) übernommen hat.
Wesentlich interessanter ist
da schon mein Eindruck, dass besonders von Lana Wachowski eindeutige
Interpretationsangebote gemacht wurden: „Dein Menschsein überschreitet Zeit und
Raum, deinen Stamm, deine Spezies. Es gibt eine Verbindung zwischen der
Baumwollplantage des 19. Jahrhunderts und der Fabrik, in der heute die
Wattepads hergestellt werden, eine Verbindung zwischen denen, die unterdrückt
sind, und zwischen den Weavings und Hugh Grants dieser Welt“.
Gut, das ist etwas trivial,
aber unwahr wird es dadurch nicht. Nur: welche Verbindungen sind dies denn nun?
So richtig führt in „Cloud Atlas“ kein eindeutiger Weg aus dem Labyrinth. Manchmal
wabert Unklares durch den Film, dann wieder treffen einige Kalenderweisheiten
in den Dialogen offenbar den Nerv genau dort, wo es weh tut.
Historiker und Soziologen
werden sich mit Grausen abwenden, spirituell und kinohistorisch geerdete Cineasten dagegen äußern
sich in Filmforen voller Hingabe, während andere mit wahren Schimpfkanonaden über den „langweiligen", „misslungenen" und „schlechtesten Film aller Zeiten" herfallen, nur um im Gegenzug als Dummköpfe und Bildungsbanausen niedergemacht zu werden.
„Cloud Atlas“ ist als Zeitgeistfilm großartig
und banal, voller Fantasie und esoterischer Weisheiten, er polarisiert und spaltet, und doch werden Erwartungen
eher erfüllt als unterlaufen. Und es überrascht dann auch
nicht, dass ein Großteil der Kritiker ziemlich genervt und streckenweise
gehässig auf die Mischung aus Blockbuster und mehrdeutig schillernder
Metaphysik reagierte.
Dabei gelingt „Coud Atlas“
zumindest etwas, was man durchaus spüren kann, wenn man es denn will: der Film
erinnert an die eigenen, frühen Filmerfahrungen. Und die waren sehr stark mit
etwas verbunden, was man später (auch im Kino) sehr schnell verlernen kann: dem
Staunen!
Das Gefühl, auf magische
Weise von etwas berührt zu werden, was sich nicht augenblicklich wie die
Montageanleitung eines Billy-Regals erschließen lässt, hat hoffentlich jeder
auf andere Weise im Kino erlebt: egal, ob in Kubricks „2001 - A Space Odyssee“
oder in John Fords „The Searchers“. Andere werden bis ans Ende ihrer Tage
„Lawrence of Arabia“ lieben, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es diese seltsamen
Filme gibt.
Filme, die sich nicht sofort entschlüsseln lassen und immer wieder
neue Deutungsangebote machen, die im Kern aber über eine mysteriöse
Schlüssigkeit verfügen.
Mag sein, das in „Cloud
Atlas“ einiges zu schlicht gestrickt ist. Ich würde es eher als konservative
Skepsis bezeichnen: Gewalt und Herrschaft verschwinden nicht aus der
Geschichte, der Kampf um Freiheit ist dagegen ein Insistieren auf
unverrückbaren moralischen Überzeugungen. „Cloud Atlas“ hat allerdings
auch Humor. Und Herz. „Das grausige Martyrium des Timothy Cavendish“ ist zum
Beispiel eine saukomische Komödie, die fast ein wenig aus dem Rahmen fällt.
„Cloud
Atlas“, so lautet mein Fazit, ist die gelungene Adaption eines
außergewöhnlichen Buches, allerdings mit anderen Akzenten, und der Film findet
zudem originäre filmische Lösungen für eine Handvoll formaler Probleme, an denen
man auch leicht scheitern konnte.
Buch und Film: Zwei Geschichtsmodelle
Aus meiner Sicht gibt es aber einen Unterschied zwischen Mitchells Roman und dem Film von Tom Tykwer, Lana und
Larry Wachowski: das Buch beginnt und endet mit der Geschichte Adam Ewings und
erzählt dabei möglicherweise vom Scheitern der Aufklärung des 18. Und 19. Jh. Der
Film beendet die Menschheitsgeschichte, billigt ihr aber mit melodramatischem
Optimismus eine Zukunft weit draußen im Weltall zu.
Schauen wir etwas genauer
hin: Bei Mitchell erinnert uns der Notar Ewing ein wenig an Daniel Kehlmanns
Naturforscher Alexander von Humboldt und seine arroganten Missdeutungen angesichts
der Begegnung mit alten untergegangenen indianischen Hochkulturen und ihren
Opferritualen („So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit ...gleichsam der
Gegensatz zu allem, wofür Deutschland steht!“).
Auch bei Mitchell gibt es eine vergleichbare ironische Pointe, etwas wenn Ewing
am Anfang über die „angeborene thierische Stumpfheit“ der Eingeborenen spricht. Am Ende hat im Buch ein geläuterter Adam Ewing das letzte Wort: „Ein Leben
mit der Gestaltung einer Welt zu verbringen, die ich ... nicht voller Furcht,
sondern mit Freude hinterlassen kann, das erscheint mir als Leben, das zu leben
werth ist.“
Die Wachowskis und Tykwer beginnen am anderen Ende
der Zeitschiene (Prolog) und hören dort auch auf (Epilog), in fernster Zukunft nämlich:
alles ist kaputt, aber alles wird trotzdem gut. David Mitchell lässt seinen Protagonisten
Adam Ewing dagegen eine Bildungsreise unternehmen, die ihn mitten ins Zentrum des
geschichtsoptimistischen, aufklärerischen Denkens, aber halt auch in dessen Krise führt, ohne
dass er es wissen kann. Männer wie Ewing werden, wenn man ihr Leben weiter ausspinnt, in einigen Jahrzehnten miterleben, welchen Blutzoll die amerikanische Nation bei der Lösung der Sklavenfrage leisten musste und der geschichtskundige Leser wird schwerlich einen Gedanken an die Schlachthöfe des 20. Jh. unterdrücken können.
Kein kleiner, aber ein feiner
Unterschied: der Film will den notorischen Skeptiker versöhnen, im Roman weiß der Leser als historischer Besserwisser, wo der aufklärerische
Humanismus eines David Ewing enden wird, nämlich in den Grausamkeiten des 20.
Jh.
Ich denke, dass Mitchells Version die finale Volte des Films klar in
den Schatten stellt. Seine Geschichte endet in einer fast schon etwas entmutigenden Kreisbewegung
wieder am Anfang, der Film wählt die Sci-Fi-Perspektive und lässt ein Happy-End
zu, kein bruchloses, aber jenseits der großen Katastrophe wartet dann doch ein
Licht am Ende unserer fatalen Geschichte.
Humorlose Kritik
Am Ende kam es, wie es
kommen musste: „Cloud Atlas“ wurde kräftig in die Mangel genommen. Wieder
einmal reagiert(e) die Gilde der Filmkritiker mit unübersehbarer Hysterie und schlug
irgendwo zwischen „größenwahnsinnig“ und „Jahrhundertwerk“ auf. Das geschieht
eigentlich regelmäßig, wenn Mainstream vermutet wird und sich bei näherem
Hinsehen als Autorenfilm entpuppt. Zuletzt hatten wir so ein Rumoren bei
Terrence Malicks „Tree of Life“, obwohl der wohl kaum Mainstream im Sinn hatte,
und in geringerem Ausmaß bei Lars von Triers „Melancholia“ – der eine zeigte
die Geburt des Kosmos, der andere den Weltuntergang. Größenwahn oder
Jahrhundertwerk?
Wenn es darum geht, dann
erinnere ich mich lieber an Michael Ciminos „Heaven’s Gate“ (1980), dem geradezu
epochaler Größenwahn vorgeworfen wurde. Ciminos keineswegs durchgehend
gelungener Western trieb nicht nur das verantwortliche Studio in die Pleite,
sondern gewann auch die „Goldene Himbeere“ für die „Schlechteste Regie“,
nachdem der Film – auch von Teilen der Kritik – wie eine Sau durchs Dorf
getrieben worden war.
Über 30 Jahre später
befindet sich „Heavens’ Gate“ samt Regisseur zwar nicht an zentraler Stelle im
Olymp der Filmgötter, Michael Cimino steht aber irgendwo ganz nahe bei ihnen,
halb vergessen, aber immer noch im Sinn. Man fragt sich, was den Kritikern von
damals durch den Kopf geht, wenn sie den Film heute sehen, aber vielleicht ist
das nicht so wichtig.
Zum Glück vergisst die
Filmgeschichte die Kritiker, nicht aber die Filme.
(Diese Kritik wurde am 23.4.2013 überarbeitet).
Noten: BigDoc, Melonie = 1, Klawer = 1,5, Mr. Mendez = 3.
Pressespiegel
Rüdiger Suchsland (http://www.heise.de/tp/artikel/37/37971/1.html)
verreißt lustlos "Cloud Atlas" ("Zappen ohne
Fernbedienung", "nervtötende Musiksoße"). Er beklagt sich über
"banale Gedankenwolken" und zitiert Lebensweisheiten aus dem Film.
Doch jene, die er eingangs zitiert, ist keine, sondern ausgerechnet das
zentrale Paradigma der Herrschaftsideologie.
Oupps!
Dafür weiß der Kritiker,
was man mit den 100 Millionen besser angestellt hätte: "Wie viele
Studentenfilme könnte man dafür machen? Wäre nicht mindestens einer genauso
gut, und einer besser, interessanter innovativer, zukünftiger, als "Cloud
Atlas"?"
Leider werden wir das
nicht herausfinden, denn die Mios sind verbraten.
Am Ende sieht er aber
ein "interessantes Werk", weil der Film das Leben außerhalb des Kinos
widerspiegelt und das sei nun mal vom ADHS der meisten Zuschauer geprägt, was
der Film prächtig bedienen würde.
US-Filmkritikerzar Roger
Ebert stellt fest: "...one of the most ambitious films ever made!" Es
gibt aber auch US-Kritiker, die konstatieren, dass „Cloud Atlas" nun doch
wohl "the badest movie ever made" ist, also noch schlechter als
"Angriff der Killertomaten".
Thorsten Funke
resümiert auf critic.de: „Cloud Atlas galt nicht umsonst gleich nach seinem Erscheinen als unverfilmbar.
Nun ist doch ein Film daraus geworden, einer, der zugleich über- wie
unterfordert, ein Hochglanzprodukt, das es auf Überwältigung anlegt, für eine
übertrieben prononcierte, dennoch schwer zu greifende humanistische Botschaft.
Es handelt sich, das sollte deutlich geworden sein, um alles andere als ein
gelungenes Werk. Man langweilt sich im Kino dennoch nicht: Wegen mancher
schauspielerischer Kabinettstückchen, vor allem aber, weil das über den Film
gespannte Beziehungs- und Verweisnetz bei aller Aufdringlichkeit voller
entdeckenswerter Details steckt.“
Was will man mehr vom Kino? Und das
bei einem misslungenem Film...
Filmpapst Georg Seeßlen
fasst für DIE ZEIT zusammen: „Was bei Mitchell freilich eine
einsichtig-aufklärerische moralische Haltung ist, das wird in diesem Film zu
einer etwas verquasten Mischung aus Esoterik, Sonntagsschule und halb verdauten
Philosophiebrocken: Wie schon die letzten Teile der Matrix-Trilogie
scheint auch dieser Wachowski-Film beständig auf der Flucht vor den Konsequenzen
seiner eigenen Wagnisse. Kurzum: Cloud Atlas hat
begriffen, welche Aufgaben sich dem Popcornkino der Zukunft stellen. Aber bei
der Lösung dieser Aufgabe ist nicht viel mehr herausgekommen als ein
ansehnlicher Bilderbrei.“
Immerhin ansehnlich...
Fazit meiner
Gesamtlektüre: gefühlte 70% der Kritiker kloppen auf den Film ein als sei
dieser DIE Kinoblasphemie der letzten 100 Jahre, wo doch Lars von Trier für
diese Sparte zuständig ist, der Rest feiert den Film als Jahrhundertwerk, das
man vermutlich erst in 20 Jahren richtig würdigen wird. Eingespielt hat der
Film seine Kosten noch nicht, aber Lana Wachowski weiß in einem Interview mit
dem TAGESSPIEGEL bereits die Antwort: „Sartre hat gesagt, alle materialistischen Philosophien reduzieren Kunst auf
das Objekthafte. Genau das geschieht, wenn man „Cloud Atlas“ am
Einspielergebnis bemisst. So funktioniert Unterdrückung, so will der Markt es
regeln: Er reduziert Menschen auf Zahlen und Bilanzen.“
Dann wollen wir doch
hoffen, dass sie trotzdem das Geld für ihren nächsten Film zusammen bekommen.
Ich bin gespannt.
„Es gibt auch Längen, vor allem Anfang. Es gibt von allem
etwas und nichts richtig, außer ein paar Lebensweisheiten, die nicht ganz
falsch sind, aber vielleicht banal, und bei denen man sich zudem nicht ganz
sicher sein kann, wie ernst sie überhaupt gemeint sind: „Unsere Welt folgt
einer naturgegebenen Ordnung und wer versucht, sie umzukrempeln, dem wird es
schlecht ergehen.“
"Aber er ist
ein interessantes Werk, weil er sehr zeitgemäß ist, weil er in seinen ständigen
Perspektivwechseln, die Netzstrukturen unserer Wirklichkeit ebenso spiegelt,
wie er die Aufmerksamkeitsdefizite vieler User/Zuschauer bedient, denn seine
Struktur und Verwirrtheit und sogar sein ständiges Moralisieren und seine
Esoterik haben sehr viel mit den digitalen Wolken zu tun, die unser gegenwärtiges
Leben jenseits des Kinos prägen. 'Unsere Leben gehören nicht uns. Wir sind
verbunden mit anderen, in Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen
und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft'.“