Donnerstag, 13. Februar 2025

Say Nothing - Serienhighlight über den Nordirland-Konflikt

Welche tödliche Bedeutung der Titel der bei Disney+ zu sehenden Serie hat, kennen die älteren Kader der Provisional Irish Republican Army (IRA) sehr gut. Nur schweigt man lieber, auch über alles andere, denn jene, die „geredet“ haben, sind tot. Und selbst ihre Leichen sind verschwunden.

Für den Zuschauer wird in der Serie häppchenweise ein lange unbekanntes Kapitel der mörderischen nordirischen Geschichte aufgeschlagen und Seite für Seite wird daraus vorgelesen. In neun Episoden erzählen Creator und Showrunner Joshua Zetumer und Regisseur Michael Lennox (4 Episoden), was jenen durch die PIRA drohte, die das „say nothing“ ignorierten: die Hinrichtung durch die eigenen Leute. Ohne Richter und Verteidiger, ohne Verhandlung und Beweise. „Say Nothing“ ist eine Serie, die wegen der Anmaßung der PIRA, eine informelle Justiz etablieren zu können, unter die Haut geht. Aber nicht nur deswegen. Denn Verrat findet in der Serie auch dort statt, wo man ihn nicht erwartet.

Say Nothing

Über das "Say Nothing" hat Patrick Radden Keefe ein Sachbuch geschrieben, auf das sich die Serie bezieht. Die Beschreibung der Serienmacher, nämlich „basierend auf Tatsachen“ zu erzählen, suggeriert, dass Filme und Serien die Wahrheit bebildern können. Das ist Unsinn, denn bestenfalls erhält man eine kritische und gut recherchierte Perspektive auf einen Ausschnitt unserer Realität. Das ist die Qualität des realistischen Erzählens - und es ist eine ganze Menge.
Man sollte aber Realismus und Wahrheit nicht als Synonyme definieren. Auch weil wir selbst uns tagtäglich nur auf Ausschnitte einlassen können. Noch wichtiger ist die Erkenntnis, dass meistens alles viel komplexer ist als man denkt. Wie daraus Kontext entsteht, muss daher immer wieder neu verhandelt werden.
„Say Nothing“ gelingt dies als eine sehr gute realistische Serie mit klarem Fokus.

Eine epische Erzählung à la David Lean sollte man nicht erwarten, einen Mikrokosmos wie in Kenneth Branaghs „Belfast“ aber auch nicht. Zum Kontext: „The Trouble“ (die Kämpfe) wurden die Kämpfe der katholischen paramilitärischen Widerstandsbewegungen gegen die britischen Besatzer genannt. Das ist beinahe ein Euphemismus, denn der Kampf war bereits vor dem Einsatz der britischen Armee ein Krieg, der zwischen protestantischen Unionisten und katholischen Republikanern tobte. Letztere verstanden sich als ‚weiße Neger‘, unterdrückt, ausgeschlossen, ihrer Rechte beraubt.
Ende der 1960er Jahre eskalierte der Widerstand. Die gewaltfreien NICRA-Aktivisten verloren ihren Einfluss, erst recht nach dem „Bloody Sunday“, bei dem mehr als ein Dutzend irisch-katholischer Protestierende während eines friedlichen Protestmarsches von Fallschirmjägern der British Army erschossen wurden.

Fast folgerichtig wurden verschiedene Ableger der alten IRA gegründet. So auch die nationalistische Provisional Irish Republican Army (PIRA), die der alten, marxistischen IRA nichts abgewinnen konnte. Und in dieser Untergrundbewegung galt das absolute Gebot der Loyalität und der Verschwiegenheit, dem sich die Kämpfer unterwerfen mussten, und den Folgen des Verrats, auch wenn er unter der Folter abgepresst wurde.
„Say Nothing“ erzählt diese komplizierte Vorgeschichte nicht, auch nicht davon, dass nicht nur IRA-Kämpfer, sondern auch Aktivisten der „Northern Ireland civil rights movement“ (NICRA) von britischen Soldaten gefoltert wurden. „Vertieftes Verhör“ nannte man dies. Auch ein Euphemismus, denn tatsächlich agierten beide Seite schmutzig und gewissenlos. Die Spirale der Gewalt scheint auch in „Say Nothing“ unwiderstehlich zu sein, einer inneren Logik folgend, in der der Zweck die Mittel heiligt. Nur erzeugt dies das Paradoxon, dass man immer falsch handelt, egal, was man tut. Das – und das penetrante Schweigen - ist das eigentliche Drama der Serie.

In „The Cause“, der ersten Episoden, erzählt Albert Price (Stuart Graham), ein Gründungsmitglied der IRA, seinen beiden Töchtern Dolours (Lola Petticrew) und Marian (Hazel Doupe), dass er sich an das Say Nothing immer gehalten hatte. Egal, was man ihm antat, er habe geschwiegen. Dies und der Ruf nach bedingungsloser Gewalt macht natürlich etwas aus sechsjährigen Kindern.

Price ist ein Kämpfer der ersten Generation, während seine inzwischen älter gewordenen Töchter noch an eine gewaltfreie Lösung des Konflikts glauben. Bis sie 1969 während eines friedlichen Protestmarsch der NICRA brutal von protestantischen Aktivisten angegriffen werden, während nordirische Polizisten zuschauen.
Für die extrovertierte und begeisterungsfähige Dolours ist dies der Wendepunkt. Sie überzeugt ihre zurückhaltende, reflektierte Schwester davon, der PIRA beizutreten. In der konservativen Männergesellschaft ist der Wunsch der Price-Schwestern ein Unding, aber Dolours und Marian überfallen als Nonnen verkleidet erfolgreich eine Bank, haben viel Spaß dabei und sind danach die ersten Frauen, die für die IRA an vorderster Front kämpfen dürfen.

Say Everything

„Say Nothing“ funktioniert wie ein Thermometer. Am Anfang wird fast komödienhaft von zwei energischen Schwester erzählt und die Temperatur klettert auf angenehme 20 Grad. Am Ende sind es frostige Minusgrade und man glaubt, dass man wie Josef Conrad in der Herz der Finsternis geblickt hat.

Dolours und Marian Price, die beiden Schwestern, hat es tatsächlich gegeben. Wie auch die anderen Protagonisten der Serie. „Say nothing“ basiert auf dem 2018 erschienen Roman „Say Nothing: A True Story of Murder and Memory in Northern Ireland” des Autors Patrick Radden Keefe. In Keefes Roman geht es aber weniger um die politischen Kämpfe und die Terroranschläge der PIRA, sondern um ein besonders grausames Kapitel der „Troubles“. In „The Cause“ wird im Jahr 1972 nämlich die im katholischen Viertel Divis Flats lebende Jean McConville (Judith Roddy), die Mutter von sieben Kindern, von einer teilweise vermummten Gruppe bewaffneter Männer aus ihrer Wohnung gezerrt. Sie taucht nie wieder auf.

Das ist das Thema in Keefes Roman, der eine Antwort auf die Frage sucht, was aus den „Verschwundenen“ (The Disappeared) geworden ist, Menschen, die mutmaßlich von der IRA liquidiert wurden, weil sie im Verdacht standen, Informationen an die British Army weitergegeben zu haben.

„Say Nothing“ erzählt dies mit einem Framing Device, also einer Rahmenhandlung, und einem Meta-Plot. Die Rahmenhandlung zeigt die ältere Dolours (Maxine Peake), die im 2000 von einem Mitarbeiter des Belfast Project zu den Ereignissen befragt wird, die zu Jean McConvilles Entführung geführt hatten. Dolours, die sich mittlerweile von der IRA distanziert hat, ist bereit, alles aufzudecken. Immer wieder springen die Fastforwards in die Zukunft, und das erinnert an die Erzähltechnik in „True Detective“ – mit all ihren Fallstricken, bei denen weder die Fragesteller noch die Zuschauer wissen können, ob denn das alles wahr ist, was da erzählt wird.
Methodisch basierte die vom Boston College in Massachusetts, U.S., initiierte wissenschaftliche Studie auf einer mündlich überlieferten Geschichtsschreibung (Oral History). Den Befragten wurde zugesichert, dass die Tapes der Gespräche erst nach ihrem Tode veröffentlicht würden. Eine Sicherheitsgarantie, die die über 40 befragten paramilitärischen Mitglieder der IRA und der Unionisten vor Vergeltung schützen sollte. Und ein Versprechen, das nicht gehalten wurde, da sich die nordirische Polizei die Tapes und Transkripte vor Gericht erstreiten konnte.

Der Meta-Plot richtet den Blick dagegen in die Vergangenheit. In kurzen Sequenzen aus zum Teil unterschiedlichen Blickwinkeln wird chronologisch vom Schicksal der verschwundenen Jean McConville erzählt – bis zu ihrer Hinrichtung. Und davon, wer die Mutter von sieben Kindern in den Hinterkopf geschossen hat. Es ist der wohl schockierendste Moment der Serie. Ein Moment, der an „Krótki film o zabijaniu“ (Ein kurzer Film über das Töten) von Krzysztof Kieślowski erinnert. „In schonungsloser Direktheit konfrontiert der Film den Zuschauer mit erschreckenden Bildern (Anm.: über das Töten), die einer weitergehenden Auseinandersetzung bedürfen, illustriert jedoch dadurch seinen unbedingten Appell für Menschenwürde und Leben“, schrieb die Kritikerin Barbara Schweizerhof 1988. Diese Bilanz kann man 1:1 auf „Say Nothing“ übertragen. Sowohl die Rahmenhandlung als auch der Meta-Plot folgen einem „Say everything“, das am Ende nicht leicht zu ertragen ist.

Vom Mythos zur Desillusionierung

Dem rasanten Aufstieg der patriotischen Price-Schwestern folgte ein ebenso ein tiefer Sturz. 1973 sollte der große Coup von Dolours und Marian stattfinden: ein Autobombenanschlag auf das Londoner Old-Bailey-Gerichtsgebäude. Beide wurden kurz nach dem Anschlag verhaftet, beide traten im Knast in einen Hungerstreik, beide wurden aber viele Jahre später wegen Haftunfähigkeit entlassen. Es waren zwei Frauen, die nicht mehr das waren, was der Mythos aus ihnen gemacht hatte.
Inzwischen hatte sich viel geändert und damit rücken zwei anderen Figuren ins Zentrum der Geschichte: Brendan Hughes (Anthony Boyle, als älterer Mann von Tom Vaughan-Lawlor gespielt), Anführer der Belfaster Brigade der IRA, Kampfname „Dark“, packt beim Belfast Project ebenso aus wir die nunmehr 50-jährige Delours Price. Denn mit dem Karfreitagsabkommen, dem Friedensvertrag von 1998, schien die Gewalt von den Straßen eines gepeinigten Volks verschwunden zu sein.

Um so interessanter ist die Geschichte von Gerry Adams (Josh Finan/Michael Colgan), der sich als Demagoge und Einpeitscher in der IRA bis zur höchsten Ebene buchstäblich hochgekämpft hatte. Adams hatte den Price-Schwestern fast ohne Bedenken grünes Licht für die Old Bailey-Aktion gegeben. Aus gutem Grund, denn die Official IRA hatte einen Waffenstillstand ausgerufen. Allerdings scheiterten die Friedensverhandlungen mit den Briten ein ums andere Mal, sodass eine Reihe von Bombenanschlägen auf englischem Boden perfekt in den strategischen Plan der PIRA-Führer passte. Nämlich den Krieg fortzusetzen. Die Price-Schwestern waren also keine privilegierten Superkämpferinnen, sondern nur ein weiteres nützliches Rad am Wagen.

Besonders heroisch agierte Gerry Adams nicht, zumindest nicht in der Serie. Joshua Zetumer zeigt ihn als jungen Mann, der mit dem Megaphon die PIRA-Aktivisten in den Kampf führt, an dem er selbst nicht teilnimmt. Ein Mann, der Kälte verströmt, völlig empathiefrei ist und in seiner älteren Version ehrgeizig den Weg in die Politik sucht. Adams verbrachte einige Jahre im Gefängnis, war aber von 1983-2018 Präsident der Partei Sinn Féin, und verkündete in einem TV-Interview anlässlich seiner Kandidatur: „The IRA is gone. It is finished.“ Den zunächst jubelnden Anhänger und langjährigen Mitkämpfer gefror das Lachen schlagartig im Gesicht, als Adams erklärte, dass er nie Mitglied in der IRA war und natürlich nicht das Geringste mit den Morden zu tun habe, die er nie angeordnet hatte.

Spätestens mit dieser Szene wird das dramatische Potential der Serie erkennbar. Denn der Zuschauer erfährt, dass Dolours und ihre Schwester sehr oft diejenigen waren, die Männer, Frauen und Jugendliche im Auto zu einem geheimen Ort fuhren, wo sie von einem Erschießungskommando hingerichtet wurden. „Warum ist sie denn nicht weggelaufen?“, fragt Dolours, als sie Jean McConville zu ihrer Hinrichtung fahren.

Joshua Zetumer und sein Regisseur Michael Lennox lassen dagegen keinen Zweifel zu: Gerry Adams war der Hauptverantwortliche für die Morde und mit dem öffentlichen Verrat schlugen Menschen wie Brendan Hughes hart auf dem Boden des Opportunismus auf. Dolours Price hatte schon lange zuvor das Vertrauen zu Adams verloren.

Es ist aber keine Katharsis, die die beiden erleben, sondern Desillusionierung. Der Zuschauer kann aber eine Katharsis erfahren: Morde sind nicht nur dann Untaten, wenn die Verantwortlichen keine Heiligen sind, sondern auch dann – und vielleicht erst recht -, wenn sie glauben, dass sie einer guten Sache dienen. So gesehen hat „Saying Nothing“ den Disappeared ein filmisches Denkmal gesetzt, zudem den Zuschauern ein Reflexionsangebot angeboten, das angesichts der mörderischen Realität, in der wir leben, nicht das letzte sein wird.

  • Delours Price hat Gerry Adams öffentlich als Verantwortlichen der Ermordung von Jean McConville bezeichnet.
  • Brendan Hughes beschrieb in einer metaphorischen Analogie seinen ehemaligen Brigadeführer Gerry Adams als einen Mann, der hunderte Menschen dazu bringt, ein riesiges Boot ins Meer zu schieben – und sie dann zurücklässt: „…und die Menschen, die das Boot ins Meer geschoben haben, sitzen im verdammten Dreck, im Schmutz, in der Scheiße und im Sand."
  • Adams hat vor Gericht erstritten, dass im Abspann der Serie in einem Disclaimer sein Statement aus dem TV-Interview in Schriftform über den Bildschirm läuft. Er sei nie in der PIRA gewesen. Sein Boot ist bis heute nicht untergegangen.
  • Die Kinder von Jean McConville haben die Serie kritisiert, weil sie alte Traumata wieder ins Leben ruft.
  • In Nordirland ist die Geschichte der Disappeared und die Rolle von Gerry auch nach Jahrzehnten immer noch ein heißes Thema.
     

Eine der besten Serien der letzten Jahre

Der Cast der Serie ist durchgehend hervorragend. Einzelne Darsteller hervorzuheben macht wenig Sinn, auch wenn Lola Petticrew als Dolours Price und Anthony Boyle als mörderisch-idealistischer Brendan Hughes lange im Gedächtnis der Zuschauer bleiben werden. Beide sind Prototypen, Menschen, die zu Recht gegen die Erniedrigung einer religiösen Minderheit kämpfen, aber hinters Licht geführt werden und im Sumpf der Lügen versinken, ohne dass ihre Mitschuld dadurch verschwindet.

Beeindruckend ist auch das Pacing der Serie, die einen Zeitraum von über zwei Jahrzehnten abdeckt, was ein langsames Erzähltempo fast unmöglich macht. Erst recht, wenn Flashbacks und Flashforwards in die Episoden integriert werden müssen. Die Montage findet immer wieder ein richtiges Maß, forciert das Tempo, ohne das Wichtige aus den Augen zu verlieren. „Say Nothing“ gehört zu den wenigen Serien, deren Pacing so perfekt ist, ohne dass man das Gefühl hat, von der Handlung überrollt zu werden.

Dazu passt auch die gute Kameraarbeit von David Raedeker („BlackMirror“), Kanamé Onoyama („Top Boy“) und Stephen Murphy (Mr. & Mrs. Smith), die zusammen mit dem Production und Setting Design besonders das Belfast der späten 1960er-Jahre zum Leben erwecken.

Aus filmästhetischer Sicht ist auch der Score des Multi-Instrumentalisten Sion Trefor in seiner minimalistischen, aber Unheil verkündenden Wucht der Kleister, der alles emotional zusammenhält. Tracks wie das Thema, „Visitors“ (die Entführung von McConville) und „Burntollet“ (Überfall auf die NICRA-Aktivisten) sind wie ein Schlag in die Magengrube.

Last but not least war das Scriptwriting mit seiner Komprimierung auf das Wesentliche sicher nicht leicht, da die Schicksale der wichtigsten Protagonisten in realita wesentlich komplizierter waren. In einem begrenzten Serienformat ist das ohne Verdichtung nicht möglich. Nur die letzte Episode hat mir nicht gefallen. Man sieht, wer Jean McConville erschießt – und das ist natürlich in Sachen Dramaturgie eine Schlüsselszene. Tatsächlich ist bis heute nicht bekannt, wer den Abzug gedrückt hat. In „Say Nothing“ hat also die Fiktion zumindest einmal gesiegt.

Am 4. Dezember 2024 hat Marian Price, die einzige Überlebende der Schwestern, angekündigt, dass sie Disney+ verklagen wird.


Note: BigDoc = 1,5


Quellen:

Deutschlandfunk (2014): Gerry Adams weiter unter Mordverdacht
Deutschlandfunk (2014): Irland verklagt Großbritannien wegen Folter
Website von Sion Trefor
Soundtrack der Serie von Sion Trefor

Say Nothing – USA 2024 – Network: FX on Hulu – Streaming: Disney+ - Idee, Showrunner: Josh Zetumer – Regie: u.a. Michael Lennox – 9 Episoden - Nach dem Buch „Say Nothing: A True Story of Murder and Memory in Northern Ireland” von Patrick Radden Keefe – Musik: Sion Trefor – Kamera: David Raedeker, Kanamé Onoyama und Stephen Murphy – D.: Lola Petticrew/Maxine Peake, Hazel Doupe/Helen Behan, Anthony Boyle/Tom Vaughan-Lawlor, Judith McConville als Jean McConville