Dienstag, 2. September 2025

Thunderbolts – Die Wiederauferstehung des MARVEL-Universums?

Einige Jahre dauert die Entwicklung eines Films, der – anders als geplant – die Phase 5 des Marvel Cinematic Universe (MCU) beendet. An der Kinokasse floppte „Thunderbolts“ zwar nicht, blieb aber deutlich hinter den Erwartungen zurück. Es folgte eine Überraschung: als Streaming-Produkt sorgte der Film für neue Rekorde. Innerhalb von 24 Stunden eroberte die Geschichte einer Gruppe von Anti-Helden Platz 1 in den Charts. Weltweit reichte es immerhin für Platz 3.

„Thunderbolts“ beendete damit eine maue Phase, die 2021 nach dem Ende von Phase 3 begann. Große Gewinne konnten nur zwei Spider-Man-Filme und „Deadpool & Wolverine“ einfahren. „The Marvels“ verbuchte dagegen einen Verlust von 60 Mio. US-Dollar. Marvels Comic-Universum wankte plötzlich. „Thunderbolts“ ist nun ein Übergangsfilm, der eine Wende einleiten könnte. 

Kaskade des Tötens

Ohne Schurke ist eine Comic-Verfilmung nicht denkbar. Nur handelt es sich in „Thunderbolt“ um eine Schurkin. Allerdings ohne Superkräfte. CIA-Chefin Valentina Allegra de Fontaine (Julia Louis-Dreyfus) ist ein Mensch, der sich nicht wie Harrison Ford in „Captain America: Brave New World“) in einen „Red Hulk“ verwandelt, sondern bleibt, was sie ist: eine Frau mit einem mächtigen Machthunger. 
Die CIA-Chefin tauchte in Nebenrollen bereits in „Black Widow“ und „Black Panther: Wakanda Forever“ auf. Nun ist sie Strippenzieherin 
der von ihr gegründeten O.X.E-Group. O.X.E. hat im geheimen „Sentry-Projekt“ vergeblich versucht, einen unverwundbaren Supersoldaten zu erschaffen. Deshalb muss de Fontaine mit einer Amtsenthebung durch den US-Kongress rechnen. Verantwortlich für das Verfahren ist Bucky Barnes aka „Winter Soldier“ (DSebastian Stan), der mittlerweile US-Kongressabgeordneter ist. Das „Sentry-Projekt“ wird daher eingestampft und Yelena Belova aka „Black Widow“ (Florence Pugh), die als Auftragsmörderin für die „Comtessa“ arbeitet, erhält ihren letzten Auftrag. Sie soll in einer Lagerhalle in Utah checken, ob jemand die restlichen Sentry-Akten stehlen will und anschließend die Person umgehend töten.

Tatsächlich will sich de Fontaine aber ihrer Killercrew entledigen, um alle Spuren zu vernichten, die von O.X.E. zu ihr führen könnten. Der Plan: alle Killer sollen sich gegenseitig umbringen. In Utah versucht daher John Walker aka „U.S. Agent“ (Wyatt Russell) Yelena zu killen. Danach soll er von Antonia Dreykov „Taskmaster (Olga Kurylenko) erledigt werden. Zuletzt kümmert sich dann Ava Starr aka „Ghost“ (Hannah John-Kamen) um den „Taskmaster“ – so der Plan, eine Kaskade des Tötens, die keine Überlebenden kennt. Die Lagerhalle ist nämlich an eine Verbrennungsanlage angeschlossen.
Die wüste Schießerei endet nur den Taskmaster tödlich, alle anderen bedrohen sich voller Misstrauen, entscheiden sich aber dafür, eine Zweckgemeinschaft zu bilden, um dem Feuertod zu entgehen. Dann taucht ein junger Mann in einem Pyjama auf und sagt scheu „Hallo“. Was oder wer ihn die Halle gebracht hat, kann er nicht erklären. Er kann sich nicht erinnern. Er weiß aber, dass er Bob heißt.

Erwachsene Figuren

Dies ist der Beginn einer überraschend düsteren Geschichte, in der Regisseur Jake Schreier von einer Handvoll Anti-Helden erzählt: von depressiven Profikillern, ausgemusterten Supersoldaten, einem fiesen Arschloch (sorry!) und Bob, einem einsamen und schüchternen Outsider, der sein Potential nicht einmal erahnt. 

Jake Schreier hat sich nach seinem Kinodebüt „Robot & Frank“ (2012) überwiegend mit TV-Serien und Musikvideos einen Namen gemacht. Mit MARVEL hatte Schreier bislang nichts zu tun, aber seine Besetzung war eine gute Entscheidung von MARVEL-Producer Kevin Feige, der damit für frischen Wind sorgte. Mit Drehbuchautor Eric Pearson war dagegen ein MARVEL-Insider an Bord. Pearson beschäftigt sich seit 2011 fast ausschließlich mit MARVEL-Filmen („Thor: Ragnarok“, 2017, „Black Widow“, 2021) und MARVEL-Kurzfilmen und war auch am Skript für „The Fantastic Four: First Steps“ beteiligt. 

Die Entwicklungsphase von „Thunderbolts“ war allerdings schwierig. Eine Kopie des DC-Films „Suicide Squad“ wollte Schreier vermeiden, ein Sequel von „Black Widow“ wurde verworfen. Andere Autoren wie Lee Sung Jin und ab 2024 die mehrfach preisgekrönte Joanna Calo arbeiteten dann mit Schreier am finalen Skript. Am Ende landeten nur Pearson und Calo als Autoren in den Credits. 
Wer auch immer für das finale Drehbuch verantwortlich war – man kann zu Recht behaupten, dass das Skript das zuletzt überkandidelte MARVEL-Kosmos wiederbelebt hat. „Thunderbolts“ ist ein geerdeter Film, der an die frühen Phasen des MCU erinnert, gut unterhält und sogar ein Thema hat, das allzu menschlich ist. 

Anti-Helden raufen sich zusammen

„Thunderbolts“ bietet gleich zu Beginn gut inszenierte Actionkost, endlich ohne Multi-Universen oder Body-Switch-Figuren. Stattdessen rückt eine erwachsene Charakterentwicklung in den Mittelpunkt, denn die Figuren sind entweder massiv beschädigt wie Yelena und Bob oder wie Walker nicht vertrauenswürdig. Yelena hat den Tod ihrer Ziehschwester Natasha („Avengers Endgame“) nicht verarbeiten können, ist depressiv und fühlt sich leer. Ihre Jobs als Killerin erfüllt sie wie ein Automat. Ghost (im Film eher eine Nebenfigur) traut keinem über den Weg, erst recht nicht John Walker, der sich damit brüstet, einige Minuten lang „Captain America“ gewesen zu sein und ansonsten ein arrogantes Arschloch ist. 

Dafür entwickelt sich zwischen Yelena und Bob (Lewis Pullman, „Top Gun: Maverick“) eine fragile, aber von zögerlichem Vertrauen geprägte Freundschaft. Auch Bob fühlt sich leer und ausgebrannt. Dann stellt sich heraus, dass Bob der einzige „Erfolg“ des Sentry-Projekts ist. Er ist dank der genetischen Manipulationen unverwundbar und damit unsterblich. 
Als ein CIA-Kommando zusammen mit de Fontaine in Utah auftaucht, wird Bob vor den Augen der entsetzten CIA-Chefin von unzähligen Schüssen durchlöchert, steht aber wenige Sekunden später auf, so, als wäre nichts geschehen. Mit dieser Ablenkung ermöglicht Bob dem Rest der Truppe die Flucht. 
Dabei werden sie von Jelenas Adoptivvater Alexei Schostakov aka „Red Guardian“ aufgegabelt (die Vorgeschichte der Figur wurde in „Black Widow“ erzählt), der als hyperaktiver und lautstarker Stimmungsmacher und durch seinen Optimismus dazu beiträgt, aus dem zusammengewürfelten und ziellosen Haufen ein Team zu formen. Alexei gibt der Gruppe den Namen „Thunderbolts“, benannt nach dem Fußballteam, in dem Yelena und Natasha in ihrer Kindheit spielten.
Aber auch „Red Guardian“ fühlt sich insgeheim leer und bedeutungslos. Als sowjetischer Superheld war es das Gegenstück zu „Captain America“, nun erinnert sich niemand mehr an ihn. So zeigt MARVEL zum ersten Mal Anti-Helden, die tief in ihren mentalen und existentiellen Problemen feststecken. Kaum rätselhaft scheinen daher die Visionen zu sein, in denen die „Thunderbolts“ schreckliche Episoden ihres Lebens immer wieder durchlaufen müssen. Doch die haben andere Ursachen.

Nachdem einige Missverständnisse ausgeräumt wurden, schließt sich auch Bucky Barnes den „Thunderbolts“ an, um Valentina Allegra de Fontaine endgültig auszuschalten. Die hat inzwischen Bob in den New Yorker Watchtower gebraucht und zeigt ihm, dass er gottähnliche Superkräfte besitzt. Ausgestattet mit einem Superhelden-Kostüm und neuer Frisur will die CIA-Chefin ihre neue Waffe als „Sentry“ der Öffentlichkeit vorstellen. Doch Bob aka Gentry will sich einspannen lassen. Es ist der Beginn einer Katastrophe.

Auferstanden von den Depressiven

Jake Schreiers Film ist visuell ein Hingucker, die Actioneinlagen sind nahezu perfekt choreographiert. Auch die Settings und Stunts, die teilweise im IMAX-Format gedreht wurden, lassen nichts zu wünschen übrig. Etwa wenn Florence Pugh im Kuala Lumpur den Sprung vom zweithöchsten Wolkenkratzer der Welt keiner Stuntfrau überließ und den Job selber erledigte. 

Abseits der spektakulären Szenen ist MARVELS „Thunderbolts“ ein Film, der den eigentlichen Mehrwert der Story durch die außergewöhnlichen Leistungen der Darsteller generiert. 
David Harbour hat als „Red Guardian“ einige schöne Szenen, die für das Comic Relief sorgen. Florence Pugh performt die im „Roten Raum“ zur Killerin abgerichtete Auftragsmörderin als emotional deformierte Frau, die völlig ausgebrannt ist und nur durch die empathische Reaktion auf Bobs Leidensgeschichte allmählich zu sich findet. 
Überragend ist der von der Kritik zurecht frenetisch gefeierte Lewis Pullman, der drei komplexe Figuren verkörpert: den schüchternen „Bob“, den allmächtigen „Sentry“, den de Fontaine für ihren Traum von einer durch sie kontrollierten Gesellschaft einspannen will, und zuletzt auch „Void“ (dts. „Leere“), einen Fürsten der Finsternis, der tief in Bob schlummert und aktiviert wird, als de Fontaine den widerspenstigen „Sentry“ scheinbar tötet. „Void“ legt danach New York in Trümmer und transferiert die fliehenden Menschen in die „Räume der Schuld“, wo sie bis ans Ende ihrer Tage die schrecklichsten Ereignisse ihres Lebens immer wieder erleben müssen.

Bislang hat man keinen MARVEL-Film gesehen, in dem die Figuren alles Mögliche sind, nur keine moralisch integren Superhelden. Fast alle Thunderbolts werden von Traumata gequält, die sie ohne Hilfe nicht loswerden. Aber „Thunderbolts“ ist keine tiefenpsychologische Studie, sondern eine allegorische Geschichte, die ihre eigene Therapie entwickelt. Disney-like ist nämlich das optimistische Ende. Die Hauptfiguren werden zwar erneut in die Hölle ihrer Traumata geführt, die zuvor von Bob getriggert wurden. Aber Voids „Räume der Schuld“ sind keine Erinnerungen, sondern als alternative Realität eine Hölle permanenter Torturen. Auch Bob sitzt in seinem eigenen "Raum der Schuld". 
Die Thunderbolts überstehen dies, weil aus Todfeinden ein Team geworden ist, das mit kollektiver Empathie die Dunkelheit besiegt: sie umarmen sich. Jake Schreier hatte diese Schlüsselszene schon sehr früh im Sinn und zeigt symbolisch, wie die Figuren die Finsternis überwinden können. Das enttäuscht dann doch. Es ist zu trivial, verfehlt aber emotional nicht seine Wirkung.

„Thunderbolts“ sorgt dank seiner Mischung aus Spannungsmomenten und düsteren Bedrohungen, Witz und Charme sowie Figuren, die Menschen sind und keine eindimensionalen Comic-Helden, für einen MARVEL-Film, den man im Gedächtnis behalten wird. Die Tonalität der Films ist zwar durchgehend deprimierend und düster, aber Drehbuchautor Eric Pearson und seine Co-Autorin Joanna Calo sorgen mit dosierten Witzen und knackigen Onelinern regelmäßig für eine Aufhellung der Stimmung, ohne dabei banal zu werden.

Und wenn auch die Schurkin am Ende überraschend mit einem blauen Auge davonkommt, ahnt man, dass die Geschichte längst nicht auserzählt ist. Valentina Allegra de Fontaine überrumpelt die „Thunderbolts“ nämlich mit einer Pressekonferenz, auf der sie die Gruppe als „New Avengers“ vorstellt. „Du gehörst jetzt uns“, flüstert ihr Yelena ins Ohr. Aber man kann sich sicher sein, dass dies nicht so schnell der Fall sein wird. 
Nach etlichen Flops ein gutes Ende der Phase 5 des MCU.

Postskriptum

  • In der Post-Credit-Szene erfährt man, dass vierzehn Monate nach den Ereignissen in „Thunderbolts“ die Gruppe vor Gericht ziehen muss. Sam Wilson, der neue Captain America, hat sie wegen missbräuchlicher Nutzung des Markennamens Avengers verklagt.
  • Kevin Feige erklärte dem Hollywood Reporter die mauen Einspielergebnisse: die potentiellen Zuschauer hätten befürchtet, dass man den Film nur dann verstehen kann, wenn man zuvor alle MCU-Serien auf Disney+ gesehen hat. Das ist nicht nötig, aber „Black Widow“ sollte man schon kennen.
  • In Yelenas Vision wiederholt sich die Tötung eines Kindes als Teil des russischen „Red Room“-Programms in einer Endlosschleife. Ebenso wird die Folterung von Kindern im „Red Room“ angedeutet. Das zur übrigens unkommentierten FSK-Altersfreigabe.
  • Und die Avengers? Wenn man sich den Cast des für 2026 geplanten „Avengers: Doomsday“ anschaut, fragt man sich, wie so viele Figuren in eine kohärente Story integriert werden können. Denn neben einigen alten Avengers und den „New Avengers“ sind auch die Wakandianer, die X-Men und die Fantastic Four mit von der Partie. Wie soll das gutgehen? 


Note: BigDoc = 2

Thunderbolts* (Abspann: The New Avengers) – USA: 2025 - Executive Producer: Kevin Feige (CCO Marvel) – Regie: Jake Schreier – Idee: Eric Pearson - Drehbuch: Eric Pearson, Joanna Calo, Jake Schreier – Laufzeit: 127 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – Lewis Pullman, Florence Pugh, David Harbour, Sebastian Stan, Wyatt Russell, Hannah John-Kamen, Julia Louis-Dreyfus, Olga Kurylenko, Wendell Pierce u.a.