Samstag, 17. März 2007

Vier Minuten

Acht Jahre hat die Arbeit von Chris Kraus ("Scherbentanz") an diesem Projekt gedauert. Das ist viel. Das kann zu viel sein. Auf jeden Fall spiegelt es einen Ehrgeiz wider, der viel über die Kraft und die Ambitionen des Mannes verrät, der nicht nur das Buch geschrieben hat, sondern auch die Regie auf seine Schultern geladen hat. Herausgekommen ist dabei ein Film, der fasziniert, aber auch irritiert. Großes und kleines Kino, zusammengepackt in 111 Minuten, von denen die letzten 4 dem Film seinen Titel gegeben haben.

"Vier Minuten" hatte es nicht leicht. Auf der letzten Berlinale schaffte er es nicht unter die letzten Vier (aha!), war aber zusammen mit "Das Leben der Anderen" in ziemlich guter Gesellschaft. Über derartige Flops waren schon andere Regisseure konsterniert und man könnte durchaus darüber schmunzeln, wenn es für einige sehr gute Filme nicht das Aus auf dem Verleihmarkt bedeuten würde. Gäbe es nicht den beliebten Sendeplatz der Öffentlich-Rechtlichen um 23.00 Uhr oder würde ARTE sich nicht erbarmen, dann könnten viele Filme nicht einmal den Weg ins Fernsehen finden. Bleibt nur noch die DVD. Falls es eine gibt.
Chris Kraus hatte noch Glück: ein unerwarteter Erfolg auf einem Festival in Shanghai war die letzte Rettung und mit Piffl Medien hat sich nun ein kleiner Verleih mit einer arg begrenzten Anzahl von Kopien hoffentlich risikofrei aus dem Fenster gelehnt.

Nun hat der Film aber auch eine Geschichte jenseits der ökonomischen Determinanten, und die beginnt mit einer kontrastreichen Konstellation, einem Prolog, der fast schon programmatisch für den weiteren Filmverlauf ist: die Musiklehrerin Traude Krüger (Monica Bleibtreu) läßt ein neues Klavier in den Frauenknast schaffen und muß erleben, daß alsbald tote Fische auf das Musikgerät regnen. Jenny, die angeblich den Vater ihres Liebhabers geköpft und zersägt hat, wacht morgens auf und sieht als erstes ihre Zellengenossin erhängt neben sich baumeln, was ihr keine auffällige empathische Reaktion entlockt.

Drastisches und Gefühlsirritationen bis hin zur völligen Kälte bestimmen auch zunächst das Verhältnis der beiden Frauen, die eher ein Zufall zusammenführt: die achtzigjährige Traude ist Klavierlehrerin und die Tote war eine von vier zumeist unbegabten Schülerinnen; Jenny (Hannah Herzsprung), deren Akten musikalisches Talent versprechen, wird ihr als neue neue Schülerin zugeführt. Bald stellt sich heraus, daß die Mörderin ein ehemaliges Wunderkind ist und die frostig-reservierte Traude läßt sich mit dem kaum noch als Elevin zu bezeichnenden Problemfall auf ein riskantes Experiment ein: sie will Jenny ins Finale des Bundeswettbewerbs "Jugend musiziert" führen.

Es geht also zunächst nur um Motivationen, weniger um Gefühle. Monica Bleibtreu, die Traude in eine asketisch-harte und rhetorisch bis zum Zynismus schlagfertige Moralistin verwandelt, hat dabei zunächst noch die besten Szenen: der kalte Pragmatismus, mit dem sie Jenny als "niederträchtig" abschreibt, verlangt gleichzeitig von der Schülerin unbedingte Hingabe an das Talent. Sie könne, so Traude, dafür sorgen, daß Jenny besser spielt, aber nicht, daß ein besserer Mensch aus ihr wird. Man ahnt, daß bei dieser knöchernen Frau, die nur die Musik liebt, noch eine Leiche im Keller liegt.

Aber bald ergreift Hannah Herzsprung ("Das wahre Leben") das Ruder: fast über Nacht zum neuen Star des deutschen Kinos geworden, spielt sie die Jenny mit einer anarchisch-verzweifelten Gewalttätigkeit, die den Zuschauern fast schon über die Bereitwilligkeit erstaunen läßt, mit der Jenny ihrer neuen Lehrerin nach einer ersten Krise mit nur leicht gebremster Disziplin folgt. Schon ein kleines Wunder, denn dass, was Jenny am liebsten spielt, ist für Traude "Negermusik" und da Jenny dies selbst mit Handschellen hinter dem Rücken am besten spielt, gibt es eine Ohrfeige. Und so sieht alles nach der Widerspenstigen Zähmung in einer ruppigen Liebesbeziehung aus.

Filme leben von der Phantasie der Zuschauers. Nun gehört zur Phantasie auch die Fähigkeit zur Antizipation. Kein Film entsteht in den Köpfen des Zuschauers, ohne daß er nicht über Genremuster und mögliche Handlungsverläufe spekuliert - wer hier als Autor und Regisseur glaubwürdig für Überraschungen sorgen kann, hat natürlich einen Volltreffer gelandet. Aber Chris Kraus ist nicht Pedro Almodovar und so beginnt man sich schon nach dem ersten Filmdrittel darüber zu ärgern, daß sich die meisten Szenen des Films so entwickeln, wie man es geahnt hat: natürlich gibt es Stress mit dem Aufsichtspersonal der Frauen-JVA (kein Wunder, da Jenny gleich am Anfang einen bulligen Knastaufseher krankenhausreif prügelt, was man nicht näher auf seine Glaubwürdigkeit prüfen muß, weil die Kamera vorher gnädig abschwenkt), jede Menge Steine werden Traude und Jenny in den Weg gelegt, bevor es überhaupt zu ersten Vorausscheidung des Wettbewerbs kommt, natürlich gibt es Zoff mit den Insassinnen und natürlich ist der Anstaltsleiter ein etwas windiger Opportunist, der Jenny erst publicitysüchtig unterstützt, dann aber (natürlich vor dem Finale) fallen läßt.
Geradezu ärgerlich empfand ich die Szene, in der die haßerfüllten Zellenkolleginnen von Jenny versuchen, ihr die rechte Hand abzufackeln. Ich hatte inständig gehofft, daß Kraus dieses Klischee umschiffen würde, aber da seit Corbuccis "Django" allen Virtuosen im Kino die entscheidenden Körperteile vertstümmelt werden, um vor dem großen Finale dramaturgisch Fahrt aufnehmen zu können, konnte sich wohl auch Chris Kraus diesen billigen Spannungseffekt nicht versagen.

Schade, der gute Plot hätte mehr "Weniger" als das ständige "Viel" verdient. Aber das Drehbuch krankt über weite Strecken daran, dass es seiner Geschichte nicht traut. Statt sie schlicht zu erzählen, baut Kraus überflüssige Sub-Plots ein und reichert sie mit zum Teil noch überflüssigeren Nebenfiguren an. Dazu gehören ausdrücklich nicht Traudes Flashbacks, die erklären, warum die alte Frau Unterricht im Knast gibt: sie kann den Ort nicht verlassen, an dem sie ihre große Liebe Hannah verleugnete, bevor diese von den Nazis in den letzten Kriegstagen viehisch als "Volksschädling" ermordet wurde. Dagegen ist Vadim Glowna als Jennys Vater der ärgerliche Vertreter eines inzestuösen Sub-Plots, der Jennys Wut erklären will, aber (sorry!) doch ziemlich überflüssig ist. Erst recht, weil Glowna keine wirklich guten Szenen ins Script geschrieben wurden.

Fast hat man den Eindruck, daß Kraus seinen starken Protagonistinnen nicht zugetraut hat, die Geschichte allein zu tragen. Da mußten "bekannte" Gesichter her und so spielt Richy Müller eine minderwichtige Nebenrolle, die dann (wen überrascht es) entsprechend aufgebläht wird, ebenfalls nicht am Klischee vorbei besetzt wurde Jasmin Tabatabai als "Knastleader of the Gang", während man die Rolle des Gefängnispsychologin auch unauffälliger als mit Nadja Uhl besetzen konnte. Also alles zu dick aufgetragen bis hin zum mopsigen "Mütze", der als bildungssüchtiger Gefängniswärter recht bald zum hasserfüllten Racheengel mutiert.

Doch letztendlich können diese vermeidbaren Schwächen dem wunderbaren Schauspielerinnen-Film nicht das Wasser abgraben, denn Chris Kraus hat dort, wo es darauf ankommt, instinktiv alle Klischees vermieden. Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung spielen so nuancenreich, daß es puren Spaß macht zuzuschauen. Und das Script läßt ihnen ihre widerborstige Individualität: während Jenny irgendwann aus ihren freundschaftlichen Gefühle für Traude keinen Hehl macht, kann diese buchstäblich kaum noch aus ihrer Haut und ringt nach Worten. Daß die Frau, die Jenny für ihre kompromißlose musikalische Talentförderung instrumentalisieren wollte, wenigstens teilweise ihre Gefühle wiederentdeckt, ist grandios gespielt und zum Glück an allen Plotkonventionen vorbeigeschrieben worden.

Chris Kraus hat mit "Vier Minuten" ein sehenswerten Psychodrama geschaffen, das leider in einigen Passagen ziemlich unter einer durchschaubaren Spannungsdramaturgie leiden muß, aber von zwei furiosen Darstellerinnen glücklich gerettet wird. Das Überflüssige und Überbordende an dem Film muß man dafür in Kauf nehmen, denn "Vier Minuten" ist dort, wo er gelingt, ein Kino der Emotionen, das berührt. Wo Chris Kraus seine Sympathien letztlich verortet, zeigt die Schlußszene, die bald die Angst vor einem melodramatischen Finale nimmt. So originell der Film auch endet: mit dem eingefrorenen brutalen und leider uninspirierten Schlußbild zeigte mir der Film noch einmal, daß weniger manchmal mehr ist.

Note: 2,5




Deutschland 2006. R und B: Chris Kraus. P: Meike Kordes, Alexandra Kordes. K: Judith Kaufmann. Verleih: Piffl Medien. L: 111 Min. FSK: 12, ff. D: Monica Bleibtreu (Traude Krüger), Hannah Herzsprung (Jenny von Loeben), Sven Pippig (Mütze), Richy Müller (Kowalski), Jasmin Tabatabai (Ayse), Stefan Kurt (Direktor Meyerbeer), Vadim Glowna (Gerhard von Loeben), Nadja Uhl (Nadine Hoffmann).