Dienstag, 14. August 2018

The Looming Tower

Kurz nachdem am 11.9.2001 drei Flugzeuge in die New Yorker Twin Tower und das Pentagon gesteuert wurden, bricht die nackte Angst aus. Es geht darum, Karrieren zu retten und Sündenböcke zu finden. G.W. Bush verspricht dem amerikanischen Volk vollmundig, die Verantwortlichen gnadenlos zu verfolgen und zu bestrafen.
 

In der Hulu-Serie „The Looming Tower“ denkt seine nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice (Eisa Davis) bereits an den nächsten Schritt. Sie fordert den nationalen Sicherheits-Koordinator Richard Clarke (Michael Stuhlbarg) kaltschnäuzig auf, den Anschlag möglichst schnell mit dem Irak in Verbindung zu bringen. Der schaut entgeistert. Beide wissen, dass dies eine Lüge ist.


Dramatisch, spannend – und keine Fiktion

Es ist nur eine Lüge von vielen. Sie werden einen Schleier der Unwahrheiten über 9/11 legen und mit dem Irakkrieg nicht nur im Nahen Osten die Sicherheitslage dramatisch verändern, sondern auch den globalen islamistischen Terrorismus befeuern. Die überragende Hulu-Serie „The Looming Tower“ erzählt davon, dass alles auch anders hätte laufen können.

Der VoD-Anbieter Hulu ist momentan im Begriff, der streamenden Konkurrenz den Rang abzulaufen. Nicht erst seit „The Handmaid’s Tale“ lohnt es sich, die Aktivitäten der von NBC Universal, Fox Entertainment Group, Time Warner und der Disney–ABC Television Group ins Rennen geschickten Mediengruppe näher unter die Lupe zu nehmen. Bereits 2016 glänzte Hulu mit der Stephen King-Adaption „11.22.63“, die ich vor zwei Jahren als besten Sommerevent des Jahres rezensierte.

Mit der zehnteiligen Miniserie „The Looming Tower“ hat Hulu nun ein weiteres Masterpiece abgeliefert. Der Politthriller über die Vorgeschichte von 9/11 demonstriert gekonnt, wie man ambitionierte Themen spannend, actionreich und historisch präzise erzählen kann. Auch dann, wenn die historischen Fakten außergewöhnlich komplex sind und ihre Aufarbeitung für den Laien kaum noch zu leisten ist – trotz der erdrückenden Faktenfülle.

„The Looming Tower“ gelingt dies in zehn Episoden sehr stringent und ohne drögen Leerlauf. Entwickelt wurde die Serie von Dan Futterman (Showrunner, Drehbuchautor von „Capote“), Alex Gibney (2007 Oscar für den Dokumentarfilm „Taxi to the Dark Side“) und Lawrence Wright. Die Hulu-Serie basiert auf Wrights Buch The Looming Tower: Al-Qaeda and the Road to 9/11 (dts. Der Tod wird euch finden), für das der Autor 2007 den Pulitzer-Preis erhielt.
Erzählt wird überwiegend von realen Personen. Nur in einigen Fällen wurden historische Vorbilder fiktionalisiert, so auch im Falle des von Peter Sarsgaard gespielten fiktiven CIA-Offiziers Martin Schmidt, hinter dem sich die schillernde Figur von Martin Scheuer verbirgt. Der wurde auch (wie viele andere Akteure) als Autor eines Buches über al-Qaida bekannt. Osama bin Laden war nach der Lektüre davon überzeugt, dass Scheuer die einzige Personen war, die seine Motive und Strategien vollständig begriffen hattte. Allein die Backstory von Martin Scheuer vor und nach Nine-Elven böte also genug Stoff für eine eigene Serie.

Bevor am 11. September zwei Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers rasten, war der Schaden bereits angerichtet. Jahrelang hatten sich CIA und FBI bei den Ermittlungsarbeiten gegen Osama bin Laden und seine Terrororganisation al-Qaida etliche Knüppel zwischen die Beine geworfen. Am Ende verschwieg die CIA sogar alle Informationen darüber, dass mindestens zwei hochpotente Mitglieder von al-Qaida in die USA eingereist waren. Das Ergebnis: die al-Qaida-Terrorzelle konnte unbehelligt die Anschläge auf die Twin Towers und das Pentagon planen und durchführen.
Die historische Vorgeschichte des spektakulärsten Terroranschlags der jüngeren Zeitgeschichte war also mindestens so spannend wie ein Roman von John le Carré: eine paranoide, von ideologischer Engstirnigkeit und persönlichen Gehässigkeiten geprägte Fehde der Nachrichtendienste, die sich genauso hart bekämpften wie ihren gemeinsamen Feind.



Der James Bond von New Jersey

„The Looming Tower“ zeichnet dies detailreich und faktengetreu als Abnutzungskrieg zweier Männer nach, die miteinander hasserfüllt im Clinch lagen. Jeff Daniels spielt John O’Neill als charmanten Filou mit einem intensiven Sexleben und reichlich viel Geldproblemen. Der echte O’Neill trug nicht nur den Spitznamen „Prinz der Finsternis“, sondern galt auch als „James Bond von New Jersey“ – er trug teure Zweireiher und eine 9-Millimeter-Pistole unter dem Hosenbein. 1993 ließ er den Drahtzieher des ersten Anschlags auf das World Trade Center von Spezialeinheiten aus Pakistan nach Amerika entführen. Dies machte ihn berühmt. Der Chef des Counterterrorism Center des FBI, auch bekannt als „I-49“, war aber auch für seine cholerischen Wutausbrüche bekannt. Das wiederum machte ihn unbeliebt. O’Neill war der Erste, der energisch vor Osama bin Laden warnte, aber weder im Weißen Haus noch im Nationalen Sicherheitsrat Gehör fand. Jeff Daniel spielt den Charismatiker als erotischen Hasardeur, der scheinbar gegen Windmühlen kämpft, aber gelegentlich emotional so überfordert ist, dass er beim Sex weinend zusammenklappt.

Sein gefühlskalter Gegenspieler
in der Hulu-Serie ist  Martin Schmidt (Peter Sarsgaard), der Chef der sogenannten Alec Station, einer Sektion des CIA Counterterrorism Center. Der egomanische und emotional völlig abgeschottete „Professor“ ist davon überzeugt ist, dass es dem FBI nur um belanglose Fahndungserfolge geht. Er will stattdessen der Hydra der Kopf abschlagen. Mit rigorosen Drohnen-Einsätzen, immer in der Hoffnung, dass man irgendwann bin Laden erwischt. 

John O’Neill stemmt sich gegen Schmidts Pläne: zu viele zivile Tote und ein unsicheres Targeting würden dem Feind nur neue Anhänger zuführen und bin Laden zum Märtyrer machen. O’Neill will al-Qaida-Anführer lebend fassen und in den USA vor Gericht stellen. Während er zur Zusammenarbeit mit der CIA bereit ist, unterschlägt Schmidts Team um die ihrem Leader obsessiv ergebene Analystin Diane Marsh (Wrenn Schmidt) dem FBI stattdessen alle relevanten Informationen.


„The Looming Tower“ beginnt 1998. In einem CNN-Interview erklärt Osama bin Laden den USA endgültig den Krieg. Es folgen zwei Anschläge auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi, die John O’Neills Team nicht nur nach Nairobi führen, sondern später auch in den Jemen, wo ein Anschlag auf den Zerstörer USS Cole stattgefunden hat. Während O’Neill persönlich in Afrika ermittelt, beginnt die Alec Station damit, in den USA die politischen Entscheider von der Bedeutung Osama bin Ladens und seiner Terrororganisation zu überzeugen. Die beiden FBI-Agenten, die zur Alec Station abgestellt wurden, um für eine Kommunikation zwischen beiden Behörden zu sorgen, werden allerdings rasch kaltgestellt. Aber Schmidts Ambitionen bekommen einen Dämpfer, als er aufgrund seiner Eigenwilligkeit als Leiter der Alec Station abgesetzt wird. Schmidt beeinflusst danach als Strippenzieher im Hintergrund weiterhin seine enge Mitarbeiterin Diane Marsh. Sie wird am Ende die dem FBI vorenthaltenen Dokumente so geschickt manipulieren, dass der Eindruck entsteht, das FBI habe doch von der in die USA eingereisten Terrorzelle gewusst. 

Am Ende der Serie wird Martin Schmidt wieder in die Alec Station zurückkehren – mächtiger als zuvor. Über den mittlerweile vom FBI gefeuerten Widersacher erklärte sein Vorbild Martin Scheuer später: „Das einzig Gute an den Anschlägen vom 11. September war für mich der Tod von John O‘Neill.“ Der rettete, mittlerweile Sicherheitschef im World Trade Center, während der Anschläge zahlreiche Menschenleben, ehe der Südturm über ihm zusammenstürzte.



Ausgezeichneter Cast mit emotionalem Tiefgang

Im Mittelpunkt der Serie stehen aber nicht nur Martin Schmidt und John O’Neill, sondern zwei Figuren, die das tragische Dilemma um 9/11 nachdrücklich verkörpern. Nämlich der von Michael Stuhlberg brillant gespielt Richard Clarke, dem es nicht gelingt, die Fehde zweier Männer in den Griff zu bekommen, die 9/11 hätten verhindern können. 

„Wenn FBI und CIA damals kooperiert hätten“, erklärte Autor und Executive Producer Lawrence Wright, „wäre der 11. September nie passiert.“ Auch Clarke scheitert an dieser Aufgabe. Am Ende ist er der Einzige, der sich für das Staatsversagen und seinen eigenen Anteil an der Katastrophe vor der 9/11 Kommission entschuldigt.

Spannend ist auch der von Tahar Rahim emotional beeindruckend gespielte Ali Soufan. Der Muslim Soufan, ein FBI-Agent mit libanesischem Migrationshintergrund, ermittelt auch wegen seiner ausgezeichneten Arabisch-Kenntnisse nach dem Anschlag auf die USS Cole im Jemen. Dabei wird er aber nicht nur von den örtlichen Sicherheitsbehörden ausgebremst, sondern auch von der CIA. 
In der bemerkenswerten Schlussszene der Serie gelingt es Soufan endlich, Abu Jadal (Zaki Youssef), den von den Jeminiten festgenommenen Leibwächter von Osama bin Laden, zu verhören. In einer brillant gespielten Szene gelingt es Soufan, den als „The Killer“ bekannten al-Qaida-Aktivisten weltanschaulich zu demontieren. Weder habe Adu Jadal jemals den Koran gelesen noch richtig verstanden. Vielmehr hat al-Qaida die Religion instrumentalisiert, um einen Krieg gegen den Westen zu begründen. Mit dem Wahrheitsgebot seines Glaubens konfrontiert, bricht Abu Jadal zusammen und ist zur Zusammenarbeit bereit.
Ob dies realistisch ist? Darüber kann man streiten. Pointierter lässt sich ideologische Verblendung aber kaum auf den Punkt bringen. Ali Soufan war übrigens als Berater an der Serie beteiligt. Martin Scheuer hat dagegen jede Form der Zusammenarbeit abgelehnt.


„The Looming Tower“ ist aus mehreren Gründen sehenswert. Zum einen setzt die Serie die exzellent recherchierte Buchvorlage von Lawrence Wright kompakt und fesselnd um. Zu loben ist dabei besonders die Drehbucharbeit: historisch ziemlich komplexe Fakten und die privaten Lebensumstände der Figuren werden glaubwürdig verzahnt, ohne dass sich die Story in Nebenschauplätzen verzettelt. 

Wer angesichts des komplexen Themas eine dialogzentrierte Erzählung befürchtet, wird ebenfalls angenehm überrascht. „The Looming Tower“ geht mit Action nicht sparsam um und funktioniert als Agententhriller phantastisch – dies auch wegen des ausgezeichneten Casts, zu dem auch Alec Baldwin als CIA-Director George Tenet und der stark aufspielende Bill Camp als FBI-Veteran Robert Chesney gehören.

Dabei nimmt sich die Serie die Zeit für Figuren an der Peripherie des Geschehens. Etwa für einen knapp zehnjährigen afghanischen Jungen, der bei einem Drohnen-Angriff seine Familie und seinen besten Freund verliert. Ihm bleibt nur ein kleiner, kaputter Ball, mit dem die beiden Kinder gespielt haben. Der Junge schlägt sich zum nächsten Ausbildungscamp von al-Qaida und landet schließlich im Jemen, wo zwei Aktivisten den Angriff auf die USS Cole planen. Das Kind erzählt den beiden vom Teufel, der aus dem Westen kam und mit langen weißen Fingern nach ihm, seiner Familie und seinem Freund griff. Für den technischen Vorgang findet das Kind keine Worte. Die metaphorische Sprache spiegelt allerdings O'Neills Vermutung drastisch wider: die Drohnenangriffe werden al-Qaida stärker machen.
Und das Kind? Es stirbt, als ein kleines, mit Sprengstoff vollgepacktes Fischerboot die USS Cole rammt. Der Junge hatte die Aufgabe, der Besatzung zuzuwinken, damit diese nicht argwöhnisch wird. Und er wusste, was ihn erwartet. Vor der Aktion hatte es seine wenigen Habseligkeiten jemenitischen Kindern geschenkt, die am Strand spielten.

 
Investigativ zeichnet sich die Hulu-Serie durch eine clevere Rahmenhandlung aus. In Flash Forwards werden die Aussagen der Verantwortlichen vor der 9/11-Kommission nachgestellt. Dieser analytische Vorgriff strukturiert die Ereignisse, die zu Nine-Eleven führten und sorgt dafür, dass die Zuschauer das eigentliche Thema nicht aus den Augen verlieren. Der geschickte dokumentarische Kniff der Serie: in der letzten Episode werden die Originalaufnahmen der Anhörung gezeigt. Das sitzt. Die Verantwortlichen für das Fiasko am 11. September, daran besteht auch heute kein Zweifel mehr, haben auch den aus Kongressmitgliedern zusammengesetzten Ausschuss systematisch belogen und so ihren eigenen Beitrag für die zahlreichen Verschwörungstheorien geleistet, die bis heute über Nine-Eleven verbreitet werden. Sie im Original zu erleben, ist mehr als unbehaglich.


Aufgedeckt wurde einiges, sicherlich nicht alles. Man sollte sich aber nicht zu sicher fühlen. Welche fatalen Folgen systematische Desinformation durch die für die Sicherheit der Öffentlichkeit verantwortlichen Ermittlungsbehörden haben kann, zeigte einige Jahrzehnte später der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahre 2016. Es gilt als erwiesen, dass sich auch in diesem Fall die Ermittler methodisch behinderten. Später soll das LKA Berlin auch Schlüsseldokumente gefälscht haben. Die Ermittlungen wurden 2018 eingestellt.


Trivia: Der Titel „The Looming Tower“ stammt übrigens von Osama bin Laden, der vor den Anschlägen öffentlich aus dem Koran zitierte: „Wo ihr auch sein mögt, der Tod wird euch finden, und wäret ihr im hohen Turm.“ John O’Neill soll dies geahnt haben. Seine zahlreichen Liebschaften lernten sich dann bei seiner Beerdigung kennen.

Note: BigDoc = 1

The Looming Tower – Hulu 2018 (in Deutschland bei Amazon Prime Video) – 10 Episoden – Showrunner: Dan Futterman – Executive Producer: Alex Gibney, Lawrence Wright – nach dem Sachbuch The Looming Tower von Lawrence Wright – D.: Jeff Daniels, Tahar Rahim, Peter Sarsgaard, Michael Stuhlbar, Bill Camp, Wrenn Schmidt, Alec Baldwin, Eisa Davis.